Fanfic: Der magische Schlüssel
Kapitel: Der magische Schlüssel
Der magische Schlüssel
Der erste Faden wird gezogen
Isabeau das Findelkind
Isabeau schwang sich das Bündel über die Schulter und schritt den Weg
hinab, während sie den Blick auf der Suche nach ersten sich entfaltenden
Blättern und Blumen im matschigen Schnee auf den Boden richtete. Es
waren nur noch wenige Tage bis Lichtmess und Frühlingsanfang, und
da es der erste schöne Tag seit Monaten war, hatte Isabeau ihn ganz
mit Graben und Schneiden und dem Füllen ihres Kräutersackes mit Wurzeln,
Blättern und frühen Blumen verbracht.
Obwohl ihr die Sonne warm in den Nacken schien, glitzerte noch immer
Schnee auf den zerklüfteten Bergspitzen über ihr und lag aufgetürmt
in den Schatten unter den gewaltigen Bäumen. Es war ein strenger Winter
gewesen, und Isabeau war froh, wieder draußen auf den Wiesen sein,
tief die liebliche Luft einatmen und die Tiere des Tales zu sich rufen
zu können. Tiere aller Arten regten sich, als der Lebenssaft wieder
in den Stängeln floss, und sie sprangen ihr um die Füße oder zwitscherten
ihr aus den Büschen zu, forderten sie dazu heraus, Spaten und Messer
hinzulegen und mit ihnen zu spielen. Sie lächelte und sprach mit den
Tieren in deren eigener Sprache, hielt aber nicht in der Arbeit inne,
wohl wissend, dass sie müde war und das Licht bereits schwand. Sie
musste vor Einbruch der Nacht zu Hause sein. Obwohl das verborgene
Tal unter dem Schutz der Waldhexe Meghan stand, waren diese Berge
gefährlich, das vor Leben strotzende Tal eine Versuchung für hungrige
Jäger, ob menschlich, tierisch oder aus dem Reich der Zauberwesen.
Der Weg führte zwischen den Stämmen uralter, hoch aufragender Bäume
hindurch. Durch die verflochtenen Zweige konnte man Blicke auf die
Felsnadel der Drachenklaue erhaschen, die über den sie umringenden
niedrigeren Bergen aufragte und deren schmale Spitze schneebestäubt
war. Isabeau hielt auf dem Kamm des Hügels inne, streckte den schmerzenden
Rücken und genoss die bemerkenswerte Aussicht. Der See unter ihr erstreckte
sich bis zum östlichen Rand der Talsohle, schlängelte sich bis zur
Kante und fiel dann Hunderte von Fuß in die darunter liegenden Täler
hinab. Über den weit entfernten Hügeln stiegen die beiden Monde auf.
Der bronzene Magnysson im vom Sonnenuntergang überstrahlten Himmel,
Gladrielle im Lavendelton. Ein leichter Rauchgeruch hing in der Luft,
und Isabeau schritt eifriger aus, als sie erkannte, dass ihre Hüterin
zurückgekehrt sein musste, während sie draußen auf den Wiesen war.
Meghan war jetzt schon mehrere Wochen fort gewesen, und Isabeau hatte
sich allmählich gefragt, ob sie rechtzeitig zu ihrem sechzehnten Geburtstag
zurückkehren würde, der schon in zwei Tagen war.
Als sie den Fuß eines der gewaltigen Bäume erreichte, die den See umsäumten,
steckte Isabeau den Spaten fester in den Gürtel und begann rasch und
leichtfüßig zu klettern. Bald befand sie sich vierzig Fuß über dem
Boden und griff nach den Seilen, die im Zwielicht fast unsichtbar
zwischen den Ästen hingen. Sie stieß sich vom Ast ab und schwang sich
zum nächsten Baum, wobei sie sich an die hauchdünnen Seile klammerte,
die von Stamm zu Stamm eine Brücke bildeten. Wie stets verfluchte
sie die Geheimhaltungssucht ihrer Hüterin, die das Betreten und Verlassen
ihres Heims so schwierig machte. »Es dauert nicht lange, bis Wege
sichtbar werden, Isabeau, das weißt du. Wir dürfen keinen Hinweis
darauf hinterlassen, dass hier jemand weilt, denn das könnte unser
Verderben sein.« Wenn Isabeau einen geknickten Zweig zurückließ, wurde
sie gründlich gescholten und musste den übel riechenden Topf ausschrubben,
in dem Meghan ihre Tränke zubereitete.
Sie schwang sich mit einer Körperdrehung in die Zweige des größten
Baums im Wald, der auf einem Felsvorsprung über dem See wuchs. Seine
Wurzeln wurden von Dornengestrüpp geschützt, das jetzt mit weißen
Knospen geschmückt war. Sich an einen der dicken Äste klammernd, hielt
Isabeau inne und sah sich um. Es war fast dunkel, und das Wasser des
Sees unter ihr schimmerte schwarz. Im Osten waren die Monde vollkommen
aufgegangen, und in ihrer Spur war ein roter Komet erschienen, der
stark pulsierte und gleichmäßig über den Himmel aufstieg. Isabeau
beobachtete den Roten Wanderer halb ehrfürchtig und halb ängstlich,
denn der Komet war schon vor sechs Tagen erschienen, und sie hatte
niemanden fragen können, was dies bedeutete. Sie wusste, dass beim
Aufsteigen des Kometen Rituale ausgeführt werden mussten, aber sie
konnte sich nicht um alles in der Welt erinnern, welche es waren.
Es war jedoch wahrscheinlich nicht wichtig, denn wenn es wichtig gewesen
wäre, hätte Meghan ihr vor der Abreise gesagt, was sie tun müsste.
Meghan würde niemals ein Datum im Hexenkalender vergessen, gleichgültig
wie selten es vorkam.
Gut sechzig Fuß über dem Boden balancierend, fand Isabeau durch Tasten
den verborgenen Griff und schwang die Tür in dem gewaltigen Stamm
auf. Sie warf ihr Bündel hinein, bevor sie ihren langen Körper durch
den schmalen Eingang wand.
»Für Meghan ist das ja wunderbar«, murrte sie, wie sie es schon immer
tat, seit sie ausgewachsen war, »aber wenn ich auch nur ein bisschen
dicker werde, kann ich mich nicht mehr durch diese verdammte Tür quetschen.«
Isabeau stand nun in einem kleinen runden Raum, dessen raue Wände von
ungleichmäßigen Regalen gesäumt wurden, die überall dort eingepasst
waren, wo es die Astknorren erlaubten. Diese Regale waren mit Gefäßen
und Flaschen gefüllt, während getrocknete Pflanzen und die gedörrten
Körper von Fledermäusen, Chamäleons und Eidechsen von der niedrigen
Decke hingen. Der Raum war so klein, dass Isabeau beide Wände mit
den Händen berühren konnte. In der Mitte des Bodens befand sich eine
kleine Öffnung mit einer Leiter, die zu dem Stockwerk darunter führte.
Isabeau musste ihr Bündel erneut hinunterwerfen, bevor sie sich selbst
hindurchquetschte.
Jeder folgende Raum war etwas größer als der darüber liegende, und
jeder hatte eine Öffnung mit einer Leiter im Boden, die zum nächsten
Raum führte. Ab dem vierten Stockwerk waren die Räume mit Wandteppichen
behangen und die Regale mit Büchern und seltsamen Gegenständen gefüllt
- einer Kristallkugel auf Klauen, einem gelben Schädel, einer Weltkugel,
einem Stück knorrigen Treibholz. Das fünfte Stockwerk barg Isabeaus
Schlafraum, in dem eine schmale, von blauen Samtvorhängen mit goldenen
Quasten umgebene Schlafstelle den meisten Platz einnahm, ein weiteres
Relikt der geheimnisvollen Vergangenheit ihrer Hüterin. Das sechste
Stockwerk beherbergte Meghans Schlafraum, in dem auf allen Regalen
dicke Bücher aufgetürmt waren und eine geschnitzte Holztruhe an einer
gewölbten Wand stand. Isabeau fragte sich immer noch, wie es ihrer
zarten Hüterin jemals gelungen war, die wuchtige Truhe in den Baum
zu bringen, ganz zu schweigen von all den anderen Möbeln.
Als Isabeau sich herabbeugte, um sich ins unterste Stockwerk hinabzuschwingen,
wo sich die Küche und die Vorratsräume befanden, hörte sie Stimmengemurmel.
Sie erstarrte augenblicklich und legte sich dann so leise wie möglich
flach auf den Boden, sodass sie durch die Bodenluke schauen konnte,
um zu sehen, wer dort war.
Das unterste Stockwerk war weitaus größer als die darüber liegenden
Räume, da der Baum an einem natürlichen Fels emporgewachsen war, der
eine kleine, durch Stamm und Wurzeln verborgene Höhle in sich barg.
Demzufolge bestanden die nördlichen Wände aus Holz und die restlichen
aus von Hand geglättetem Fels, wobei die Feuerstelle in einem Spalt
errichtet war, der einen natürlichen Rauchfang darstellte. Die Baumwurzeln
bildeten eine verknotete Decke, in der jeder Winkel und Spalt als
Regal oder Versteck diente. Kunstvoll hinter zwei der mit Regalen
versehenen Wände verborgen, befanden sich die Eingänge zu Geheimgängen,
von denen einer zu einer versteckten Höhle am See und der andere in
den Wald führte.
Isabeau verrenkte sich den Hals, um durch die herabhängenden Bündel
Kräuter und Zwiebeln zu blicken, und sah Meghan auf ihrem merkwürdigen
Stuhl mit der hohen Rückenlehne vor dem Feuer sitzen. Auf ihrem Schoß
lag ein blaues Buch, dessen Seiten mit ihrer feinen, krakeligen Schrift
und ihren Zeichnungen gefüllt waren. In einer Hand hielt sie einen
Edelstein, der in goldenem Feuer erstrahlte.
»Erkennst du also mein Geheimsymbol? Ich bin mir sicher, dass ich es
schon früher irgendwo gesehen habe, aber ich kann es in keinem der
Bücher finden, die ich hier habe …« Sie hielt jäh inne, zog die Hand
zurück und steckte sie unter ihr Plaid. »Komm herunter, Isabeau. Ich
hab dich schon seit über einer Stunde zurückerwartet. Hast du Kleeblätter
gefunden?«
Durch die Erkenntnis erleichtert, dass es nur ihre Hüterin war, schwang
sich Isabeau leichtfüßig hinab. »Ja, zwei Büschel«, antwortete sie.
»Ich hoffe, du hast sie nicht an den Wurzeln