Simon

Der Fluch von Jusenkyo

Die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit

"Wahrscheinlich wäre es jetzt normal", dachte Simon eine Viertelstunde später, "wenn ich mich jetzt zu Tode fürchten würde." Aber er hatte keine Angst. Gar keine! Und das kam nicht dadurch, das er etwa besonders mutig oder tapfer gewesen wäre, sondern einfach daher, dass er nicht daran dachte. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, zu sehen und zu hören.
Er sass neben dem Jusenkyo-Führer, Sie bildeten den oberen Teil eines kleinen Ovales von Menschen, die auf dort am Rande des Trainingsgebietes sasen, um das kleine Feuer, das nun, da Ryoga Holz nachgelegt hatte, alle Gesichter beleuchtete. Obendrein schien noch immer der Mond und die Sterne glitzerten. So war es dämmerig hell.
Die Kampfsportler, entsprungen einer gezeichneten Geschichte, aber nichts desto trotz wahr, echt und springlebendig, schnatterten eifrig in ihrer Sprache, die Simon nicht verstehen konnte. Manchmal erkannte er Worte oder Satzfetzen, aber die nützten ihm wenig. Darum betrachtete er seine Idole umso genauer.
Sie waren so perfekte Wiederspiegelungen der Comicfiguren. Simon konnte, wenn er über Augen und Gesichtsform hinwegsah, keine Unterschiede erkennen. Ranma, der viel sprach, erregt und offenbar zornig, trug ein ärmelloses Shirt, in blau, mit gelben Schnallen an den Seiten, eine weite, schwarze Hose und schwarze Halbschuhe. Sein Gesicht war sehr beweglich und grimassierte beinahe in übertriebener Mimik seine Emotionen.
Akane, neben ihm, gähnte so ab und zu. Ihre Latzhose war aus verbleichtem Jeansstoff und sie trug braune Sandalen. Ihre weichen, runden Wangen und der geschmeidige Hals bildeten einen eigenartigen Kontrast mit der geraden, ernsten Stirne und der vorwitzigen, spitzen Nase. Sie sah ernst drein, nachdenklich, aber in ihrer Haltung war etwas sanftes, fast Katzenhaftes, dass besonders zum Vorschein kam, sobald Ranma sprach. Manchmal warf sie ihm Blicke zu, die deutlich sanft, fast liebevoll waren. Waren sie verheiratet? Simon sah genau hin, konnte aber keine Ringe erkennen. Aber war das in Japan gebräuchlich, um Ringe zu tauschen?
Ihren Stab auf den Knien sas Collogne als Nächste in der Reihe. Ihr langes, weises Haar umrahmte ihr uraltes verschrumpeltes Gesicht in dicken Strähnen. Sie war gekleidet in einen grün-roten, schlichten Kimono mit einem einfachen Gurt aus Jadegrüner Seide. In ihren Zügen lag - so schien es - keinerlei Emotion. Aber jedesmal, wenn sie ihre alten Augen auf Simon richtete, hatte er das Gefühl, durch eisigen Regen zu laufen. Es war als könnte sie direkt durch ihn hindurchsehen.
Neben ihr sass ihre Urenkelin, die bläulich schimmernden Haare gelöst und glatt über die Schultern fallend. Shampoo war wie ihre Uroma in einen Kimono gekleidet, allerdings war der ihre rosarot und reichlich mit Goldfäden und Schleifen verziehrt. Ihr Gurt war aus SIlberschnur gewebt. Sie sah aus wie eine Prinzessin aus einem asiatischen Märchen. Ihr Gesicht war ein einziges Zusammenspiel der süssen Reize. Schmale Wangen, eine runde Stupsnase, der Mund schmal und zart, die Haut fast weiss und und ohne eine einzige Unregelmäsigheit. Simon musste schlucken. Sie war wirklich eine Schönheit.
Ryoga, gekleidet in seinen ockergelben Kampfanzug, mit Bandana und nackten Füsen, sass im Schneidersitz. Sein hartes Gesicht trug zahlreiche, winzige Narben, wirkte aber dennoch angenehm. Im Augenblick folgte er dem Gespräch mit düstere Miene. Er hatte lediglich ein oder zweimal gesprochen, mit tiefer, rauher Stimme und jedesmal lediglich ein paar Worte. Einige Male hatte er Simon einen bitterbösen Blick zugeworfen. Simon konnte sehen, wie er ärgerlich mit den Zähnen knirschte.
Neben ihm, schweigsam und ernst, sas Mousse, die Hände in den weiten Ärmeln seiner Kutte verborgen, die Brille mit den dicken Gläsern auf der krummen Adlernase. Sein langes, schwarzes Haar schimmerte im Mondschein und auf seinem Gesicht lag eine Mischung aus Stolz und Trauer. Die Linien die von seinen Mundwinkeln zu den Nasenflügeln liefen waren wesentlich tiefer als es normal gewesen wäre für sein Alter. Sprach das von grossem Kummer oder von den Entbehrungen eines harten Tainings?
Genma, gegen einen Baum gelehnt, die Augen geschlossen, schien zu schlafen, aber Simon hatte bemerkt, dass er mitunter ein Auge leicht öffnete. Er folgte dem Gespräch ohne sich daran zu beteiligen.

Auf einmal richtete der Jusenkyo-Führer sich wieder an Simon. Sein Deutsch war brüchig, wie sein Englisch, aber er sprach ruhig und deutlich.
"Warum sie hier sein?"
Simon war durch diese Frage überrumpelt. Die Asiaten hatten gut und gerne zwanzig Minuten diskutiert und jetzt kamen sie auf die brilliante Idee, ihn zu fragen, warum er eigentlich hier war. Simon hatte angenommen, dass sie sich darüber im Klaren sein würden.
"Ähm...ich...ich wollte nur etwas...etwas nachsehen...", murmelte er. Er wurde sich auf einmal davon bewusst dass er selber eigentlich ohne einen festen Vorsatz hierhergekommen war. Den Entschluss, in der Quelle des ertrunkenen Mädchens zu schwimmen, hatte er ja erst später gefasst.
Der Jusenkyo-Führer sah nicht zufrieden aus. Zwar übersetzte er Simons Worte, aber er blickte ihn zweifelnd an. Auch die Reaktionen der anderen waren eindeutig nicht befriedigt. Der Jusenkyo-Führer sprach erneut:
"Sie gekommen um nach zu sehen? Was?"
"Ähm...ich, ich wollte doch nur wissen, ob es wirklich alles echt ist...", stammelte der Junge.
Über die züge des Chinesen glitt etwas, das wie der Anflug eines Lächelns wirkte. "Alles echt? Sie nicht wissen, wie echt alles ist.", erklärte er.
Simon's Angst lies nach.
"Nánda jo?", Ranma meldete sich zu Wort. "Nánda jo", das kannte Simon. Es bedeutete so viel wie "Was ist los?".
Der Jusenkyo-Führer antwortete eifrig. Ranmas Blick legte sich auf Simon. Einige Zeit starrte er ihm in die Augen und unter diesem Blick hielt Simon nicht stand. Er wendete das Gesicht zur Seite. Ranma gab einige kurze Worte von sich.
"Er nicht glauben.", übersetzte der Jusenkyo-Führer.
Simon senkte den Blick. "Es tut mir leid.", murmelte er.
"Ich wollte euch nicht stören. Aber wisst ihr...ich wollte...es kann doch nicht alles echt sein. Warum...Wie kommt ihr in einen Comic?"
Der Jusenkyo-Führer übersetzte und Ranma fuhr wütend auf. Wieder sprach er ein paar Worte, aber Akane griff seine Hand. SIe hielt sie nur kurz fest, aber es genügte. Ranma setzte sich wieder. Nun sprach Akane. Sie hatte eine ruhige, sanfte Stimme und im Gegensatz zu Ranma sprach sie Simon direkt an. Sie sprach Englisch, besser als Simon, mit dem singenden Unterton der japanischen Sprache.
"Ich verstehe, dass du verwirrt bist und ich denke, es wird vernünftig sein, die zu erklären, was das alles bedeutet. Wie ist dein Name?"
Simon, der ihrer ruhigen Stimme recht gut folgen konnte, nannte seinen Namen. Wie immer, wenn er Englisch sprechen musste, sprach es seinen Namen auch als "Saimen" aus. Akane fuhr fort.
"Du kennst uns alle aus den Manga von Frau Takahashi. Du kennst auch unsere Geschichte. Auch, wenn sie sich erlaubt hat, Details zu verändern, um der Geschichte mehr Komik zu geben, stimmt doch die Erzählung im grossen und ganzen mit der Wahrheit überein."
Simon bemerkte, dass Ranma und Genma näher zum Jusenkyo-Führer gerutscht waren. Dieser flüsterte leise zu ihnen. Wahrscheinlich übersetzte er nun Akane's Worte.
"Warum habt ihr erlaubt, dass sie das alles aufschreibt...es ist doch...so privat.", es kostete ihn Mühe, die richtigen Worte zu finden, sein Englisch war nicht gut, aber Akane verstand. Sie lächelte.
"Das mag sein. Aber wir haben lediglich erlaubt, dass sie unsere Vergangenheit bis zu einem bestimmten Punkt erzählt. Und sie hat uns sehr gut bezahlt. Die Hälfte ihrer Einnahmen gehen an uns. Und Vaters Dojo ist durch die Manga bekannt, fast berühmt geworden. Ist es dir nie aufgefallen in all den Geschichten, dass wir nie Schüler hatten. Die Wahrheit ist, dass nach Mutters Tod Vater aufhörte, zu unterrichten. Und als ein Jahr nach unserer Verlobung das Geld zuende war, beschlossen Ranma und ich, Frau Takahashi unsere Geschichte an zu bieten um Geld und Reklame zu machen. Nun...die Idee kam natürlich von meiner älteren Schwester Nabiki. Und die Manga haben uns eine Menge Vorteile gebracht. Wir bekommen Geld und Vater konnte die Kampfschule wieder eröffnen."
Simon sass mit offenem Mund da. Das war alles fast zu viel für ihn, aber Akane war noch nicht fertig.
"Nun, wir haben eines Tages unseren Vertrag gekündigt. Wir haben nun genug Schüler und Bekanntheit und endlich können wir wieder unser eigenes Leben leben. Auserdem...", sie warf Ranma erneut einen zarten Blick zu, "...haben wir durch die Comics eine Menge über uns selbst gelernt und...beschlossen, uns ein bisschen wie Erwachsene zu verhalten. Ranma und ich...nun egal. Wir haben schliesslich von Frau Takahashi eine Karte bekommen. Zum Abschluss ihrer Serie hat sie diese Reise organisieren lassen. Und wir durften mitkommen. Nun...wir sind mitgekommen. Denn es ist keineswegs ein Vergnügen um nach Jusenkyo zu laufen..."
Simon unterbrach sie. "Seid ihr eure Flüche jetzt los?", er stockte und wiederholte seine Frage in Englischer Sprache.
Akane grinste und alle in der Runde nickten.
"Also, was tust du hier?"
Sie hatte ihn wieder fixiert. Er kam sich auf einmal sehr klein vor, wie er da sass, denn wieder starrten ihn alle an.
"Ich...ich wollte in die Quelle des ertrunkenen Mädchens steigen..."
Er hatte auf Deutsch gesprochen, aber der Jusenkyo-Führer stiess ein lautes Keuchen aus und Simon fuhr herum. Er starrte ihn entgeistert an.
"Sie gewollt, WAS?", keuchte er.
Ranma stellte eine Frage auf japanisch und der Jusenkyo Führer blickte ein paar mal
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