Fanfic: Eine Geschichte / Die Sprache des Auges
Untertitel: Es passiert nie mehr als einmal im Leben und lässt uns nie wieder los
Kapitel: Der Absturz
Die kurze sonnige Zeit war nun vorbei. Es gab nun nichts mehr auf der Welt, die mich nun daran gehindert hätte, unbemerkt und abgrundtief zu fallen, allmählich aber sicher. Aber ich fühlte nichts dabei. Was war bloß mit mir geschehen? Ich hatte zu lange nach Antworten gesucht, zu lange gehofft, um schließlich enttäuscht zu werden. In mir erlisch das letzte Fünkchen. Mein Leben erschien mir wie ein Vakuum, sinnlos und unerklärlich.
In einer kalten Welt, umhüllt von einer dicken Isolierschicht, atmete ich die eisige Dezemberluft ein. Während ich so alleine auf der Straße entlangging, fühlte ich mich wie der einsamste Mensch auf dieser Welt. Mein Herz fror und ich lächelte, unmerklich bitter.
Es fing an zu schneien, aber ich wollte noch nicht nach Hause. Im menschenleeren Park suchte ich mir eine Bank aus, die etwas abseits vom Weg im Verborgenen lag. Dort, von Ästen umgeben, kam ich hin wenn ich alleine sein wollte. Alleine in meiner Welt.
Ich weiß nicht, wie lange ich schon da saß. Es wurde ziemlich früh dunkel und ein müder, grausamer Schleier lag über dem Park. Der Schnee fiel langsam vom Himmel, immer mehr, um meine Sicht noch zusätzlich zu versperren. Ich konnte kaum noch etwas wahrnehmen und schloss zufrieden die Augen. Vielleicht würde ich nie wieder aufwachen, wenn ich jetzt einschliefe...Aber wozu denn auch? Mir sollte es gleich sein. In dem Moment glaubte ich glücklich zu sein. Egal ob es nur eine Illusion war, ich ließ es mir gefallen.
„Wach auf! Du darfst nicht einschlafen!“
„Mariko!“
Ich hörte aus der ungewissen Fernen jemanden meinen Namen rufen. Warum denn eigentlich? Wer wollte mich zurückholen? Ich sträubte mich dagegen.
„Mariko! Wach auf!“
Nun höre ich die Stimme deutlich. Sie kam unmittelbar, von heftigem Schütteln begleitet.
Ich machte meine Augen unwillig eine Spalte weit auf. Eine Gestalt hielt mich fest und rüttelte mich, während sie unaufhörlich auf mich einsprach.
Ich versuchte mich zu konzentrieren, um die Gestalt zu erkennen. Ich strengte meine Augen an, um genaueres wahrzunehmen, doch erfasste ich die Stimme. Es war Yamis tiefe, kühle Stimme, aber diesmal ungewöhnlich aufgeregt.
„Yami.“, brachte ich hervor.
Dann sah ich Yamis Augen. Sie waren weit aufgerissen und blickte mich eindringlich an. Die violette Farbe leuchtete in der Dunkelheit. Ich verstand nicht, wie Yami in dieser Situation hier erscheinen konnte.
„Wie...?“
Ich versuchte zu fragen.
„Du musst schnell nach Hause, Mariko. Du hättest hier sterben können.“
Yami half mir auf den Beinen. Ich konnte meine Gliedmaßen nicht mehr spüren. Aber ich bestand darauf, selbst zu laufen. Also stützte er mich ab, statt zu tragen.
Langsam kehrte die Erinnerung an das Geschehene wieder zurück. Es war schon völlig dunkel, Eine dichte Schneeschicht lag auf der Erde. Es hatte aufgehört zu schneien.
Ich wollte nicht von Yami geholfen werden. Denn ich empfand es für peinlich, dass gerade er mich in diesem Zustand gefunden hatte. Am liebsten wäre ich alleine weggelaufen, aber das schaffte ich nicht. Meine Füße wollten mich nicht tragen. Eigentlich hielt Yami fast mein ganzes Gewicht und ich kam mir dabei wieder völlig dämlich vor.
Yami brachte mich nach Hause. Meine Eltern waren noch nicht zurück. Vor der Wohnungstür wollte ich ihn wegschicken. Dabei tat ist so, als könnte ich schon alleine stehen, stützte mich aber doch notgedrungen an der Tür ab. Er durchschaute meine Lüge, brachte mich in mein Zimmer, legte mich hin und deckte mich zu.
„Du brauchst etwas Warmes“, sagte er und verschwand in der Küche.
Nach ein paar Minuten kam er mit einer großen Tasse heißer Zitronentee. Ich nahm ihn und trank.
„Willst du etwas essen?“
Ich schüttelte meinen Kopf aber trotzdem brachte er mir ein paar belegte, heiße Toasts.
Für Proteste war ich zu schwach. Als ich fertig war, fühlte ich mich wirklich besser und spürte wieder meine Finger und Zehen. Aber es war ein unangenehmes Kribbeln an der Haut, was wohl die reaktivierten Nervenleitungen andeuten sollte.
„Vielleicht sollte ich den Arzt rufen.“, sagt Yami und schaute mich an. Ich schüttelte heftig meinen Kopf. Denn ich wollte in Ruhe gelassen werden. Außerdem ging es auch niemandem etwas an.
„Es ist schon spät. Geh lieber nach Hause.“
In Wirklichkeit würden meine Eltern in einer halben Stunde zurückkommen und außerdem wusste ich auch nicht, wie ich mich Yami gegenüber verhalten sollte. Seine Anwesenheit verunsicherte mich und ich zwang mich viel munterer zu erscheinen, als ich mich in Wirklichkeit fühlte.
Yami schaute mich mit einem unbestimmten Blick an. Ich glaubte, Sorge und Trauer darin lesen zu können. Danach verabschiedete er sich und wünschte mir gute Besserung.
Als Yami die Tür hinter sich geschlossen hatte, konnte ich meine Tränen nicht mehr unterdrücken. Ich schluchzte endlich los und konnte mich vor Verzweifelung nicht mehr retten. Ich weinte, bis ich meine Eltern zurückkommen hörte. Sie dachten bestimmt, ich wäre schon eingeschlafen, denn meine Zimmertür war verschlossen. Ich weinte weiter, bis es irgendwann nach Mitternacht wurde und keine Tränen mehr kamen. Dann schlief ich vor körperlicher und seelischer Erschöpfung endlich ein.
An den nächsten Tagen hatte ich hohes Fieber. Ich blieb alleine zu Hause und schaute mir die langweiligsten Fernsehsendungen an. Sonst schlief ich nur und nahm Vitamin C Präparate ein. Mein Zustand besserte sich langsam aber sicher. In der darauffolgenden Woche würde ich wieder in der Lage sein, in die verhasste Schule zu gehen.
Ich wollte nicht zur Schule. Denn ich wusste, was das für mich bedeuten würde. Yami würde da sein und er würde mich sicherlich wegen jenem Vorfall oder meiner Erkrankung ansprechen. Aber ich würde ihm nichts sagen können.
Am Montag ging ich trotzdem zur Schule. Hatte ja auch keine andere Wahl, denn ich musste unheimlich viel aufholen und die restlichen Klausuren schaffen. Ich benahm mich möglichst unauffällig, weichte auch anderen Mitschülern aus und beantwortete alle Fragen möglichst kurz und knapp. Das, was wirklich geschehen war, behielt ich nur für mich.
Im Unterricht sah ich dann Yami. Er lächelte mir zu und seine Augen schien Freude zu vermitteln. Aber ich lächelte oberflächlich höflich und grüßte nur trocken. Dann drehte ich mich um, damit ich seinen enttäuschten Gesichtsausdruck nicht sehen musste.
Ich war also wieder da, aber es bedeutete mir nichts. Ich fühlte nichts. Trotzdem wusste ich, dass ich mich bei Yami bedanken musste. Aber nicht jetzt. Erst wenn ich wieder in der Lage sein würde, mich "normal" zu benehmen. Dieser Tag schien aber leider noch sehr entfernt in der ungewissen Zukunft zu liegen.