Fanfic: Rita Rotfuchs

Untertitel: Eine Liebesgeschichte

Kapitel: Banjamin

Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, muss ich an den Beginienhain denken. Das ist ein kleiner Park vor dem Geiersberger Wald, ganz in der Nähe von Baustetten, einem Ort im Süden Frankens.
Baustetten ist nicht besonders groß, ein mittleres Dorf, mit etwa 1000 Einwohnern, zwei Gasthöfen, einem kleinen Supermarkt und mehrern kleinen Geschäften. Es gibt eine Hauptstraße und zwei Nebenstraßen, der Rest ist Fußgängerzone. Das ist niet etwa so, weil die Einwohner Baustettens besonders autofeindlich oder ruheliebend sind, sondern einfach, weil es nichts von Belang gibt, dass Durchreisende aufhalten könnte. Nur sehr selten verirren sich Besucher, Wanderer oder Spaziergänger auf den "Grünen Markt" und in die Kirche des heiligen Georg.
Der grüne Markt ist sozusagen der eigentliche Mittelpunkt des Dorflebens. Es ist ein ovaler Platz mit Kopfsteinpflaster, alten Fachwerkhäusern und einem Brunnen in der Mitte. Der Brunnen stellt einen kleinen Engel dar, mit Pfeil und Bogen - der "Baustettener Amor" genannt. Auf den Zehenspitzen des rechten Fußes, das linke Bein nach hinten gestreckt und mit dem kindlich-pummeligen Gesicht Richtung Osten steht er - aus weißem Sandstein gehauen - auf einer runden Säule desselben Materials inmitten eines kreisrunden Beckens, in dem klares, trinkbares Wasser fließt, dass aus zwei Hähnen plätschert, die in der Säule verankert sind. Auf der Ostseite des Grünen Marktes, also im Blickfeld Amors steht St. Georg, mit seiner Weiß-Gelben Fassade und der großen dunkelen Nussholztür. Es gibt zwei Buntglaßfenster, die von ausen dunkelgrau scheinen, aber im inneren warmes Licht verbreiten...zumindest am Nachmittag, wenn die Sonne hindurchscheint. Über dem Tor befindet sich eine kleine Rosette, die unverglaßt durch den Stein gehauen ist - Das Sonnenauge. Wer sich darüber wundert, warum in Baustetten Hochzeiten immer am Nachmittag gegen drei Uhr stattfinden, ebenso wie Taufen, Priesterweihen oder ähnliches, der muss sich eine solche Festlichkeit mal anschauen. Wenn man die richtige Zeitplanung hat, scheint durch das Sonnenauge das Sonnenlicht wie ein Scheinwerfer auf das Brautspaar, die Priester oder das Taufkind. Ein amerikanischer Tourist - auch einer der wenigen Verirrten - der diesen Effekt bei einer Taufe miterlebt hatte, sprach hinterher von "The spotlight of God" und die Baustettener, die ansonsten alles andere als international eingestellt sind, haben diese Anekdote bewahrt und sie ist - Natürlich verdeutscht - bis heute geblieben als "Gottes Spotlight".
Aber auch unter der Woche bildet der Grüne Markt das Zentrum der Aktivitäten, sofern es welche gibt. Größere Feste werden dort gefeiert, der - namengebende - Wochenmarkt ist natürlich auch dort und die Verliebten kommen zum Teil hierher um bei Amors Brunnen zu küssen und zu träumen.
Ich sage ein Teil, denn der andere Teil geht - und hier kommen wir wieder zum eigentlichen Beginn meiner Geschichte zurück - in den Beginienhain, um dort zu "lustwandeln", wie es unser Dorfpoet - der Metzger Liebmann - nach einigen Gläßern roten Frankenweines im "Damhirsch" - einem der beiden erwähnten Lokale - in einer seiner beliebten Dichterreden, die des öfteren abwechselnd in lyrischer Verzückung oder tiefster Melancholie enden, genannt hat.
Der Beginienhain ist zwar zuerst nur ein normaler lichter Wald...ein halbcultivierter Park, wie es sie in Deutschland, besonders im Süden häufig gibt, aber er ist doch etwas besonderes, denn wie Hallstadt ein Vorort von Bamberg ist, so ist der Beginienhain eine Art "Vorwald" zum Geiersberger Wald. Der Geiersberger Wald ist ... oder war ... einer der alten, unberührten Mischwälder, die es nur in Franken gibt. Es gibt dort keine befestigten Wege, höchstens ein paar Trampelpfade, die immer anders verlaufen, da die alten überwuchert und neue ausgetreten werden. Als ich noch ein Kind war, erzählte mir meine Mutter abends immer Geschichten von Kobolden, Gnomen und Feen, die dort wohnen sollten. Überhaupt erzählte mir meine Mutter viele Geschichten und sie spielte auch viel mit mir. Vielleicht tat sie dass, weil ich anders war als die meisten Kinder und keine Freunde hatte. Oder vielleicht war ich auch gerade anders, weil meine Mutter sich so um mich bemühte und sorgte. Ich weiß es nicht, es ist wie mit der Henne und dem Ei. Fakt ist, dass ich immer anders war als die anderen Kinder meines Alters und das meine Mutter immer sehr wichtig für mich war. Und da ich nicht in den Gassen und auf dem Grünen Markt spielen konnte (denn das war das Revier der anderen Kinder), entwickelte sich der Beginienhain zu meinem Privatspielplatz. Ich baute kleine Hütten und Zelte aus Zweigen und Laub, lies Rindenschiffchen im Ammerbach schwimmen, der vom Geierberg herab fliest und Baustetten durchquert und meine Mutter saß im Graß, las mir vor, sang und flocht mir Halsketten und Haarbänder aus Graß und Gänseblümchen. Ein solcher Kranz hängt auch jetzt noch an meinem Fensterknauf. Das Graß ist grau und die silbrigen Blütenblätter so trocken, dass das Licht durch sie hindurchscheint und ihr Abbild auf meinen Boden projeziert. Seltsam, diese Blüten aus Licht auf dem dunklen Parkett...so wie aller hier seltsam ist...aber dass ist eine andere Geschichte, die ich später noch erzählen werde.
Umgeben von Elfengeschichten, Gänseblümchen und Rindenschiffchen lebte ich in einer halben Traumwelt bis ich sechs Jahre alt war. Dann geschahen zwei Dinge, die meinem fröhlichen Leben ein jähes Ende setzten. Erstens starb mein Vater. Dass war seltsam für mich, denn ich hatte nice richtig bemerkt, dass ich einen Vater hatte. Meine Mutter und ich - das war ein eingespieltes Team, dass zusammenhing wie Pech und Schwefel und dass nur einander brauchte und nichts anderes - dachte ich zumindest. Aber als mein Vater bei der Fahrt nach Hause aus der Stadt, wo er als Sekretär für eine Firma arbeitet, von einem Lastwagen angefahren wurde und starb, merkte ich, dass diese traute Zweisamkeit sich nur auf mich bezog. Meine Mutter hatte, wie ich überrascht feststellte auch ein anderes Leben gehabt, von dem ich bis jetzt nichts geahnt hatte. Natürlich, zurückblickend ist es mir jetzt klar, dass eine erwachsene Frau ihr Leben nicht nur mit Blumen und einem kleinem Jungen anfüllen konnte, der mit heller Kinderstimme lachte und durchs hohe Graß lief und Abenteuer erlebte in einem harmlosen, sonnigen Wäldchen. Nein, abends, wenn ich im Bett lag und mein Vater nach Hause kam, dann begann wohl ein anderer Abschnitt in ihrem Tag, ein Abschnitt, denn ich mir wohl ausdenken, aber nicht vorstellen kann. Ich habe meinen Vater wohl wenig gesehen. Meistens war er schon weg, wenn ich aufstand und kam er erst nach Hause, wenn ich schon schlief. Nur in den Wochenenden begegnette ich ihm mitunter, wie einem seltsamen Wesen aus einer anderen Welt, dass gleichzeitig fremd und vertraut für meine junge Kinderseele war. Doch meistens verbrachte ich die Wochenenden mit meiner Mutter. Wir machten lange Wanderungen im Umkreis von Baustetten, an denen mein Vater nur selten teilnahm. Nur manchmal raffte er sich aus seinem Sessel auf, in dem er für gewöhnlich saß - ein Buch im Schoß - und dann stieg er ins Auto und fuhr mit uns irgendwohin...auf Berge oder in Tiergärten. Aber er fungierte meist nur als Chauffeur, denn sobald wir angekommen waren, beanspruchte ich meine Mutter für mich. Heute frage ich mich mitunter, wie sich mein Vater wohl gefühlt haben muss, wenn meine Mutter und ich zu zweit singend liefen oder spielten und er allein zusah oder hinterher ging. Vielleicht machte es ihn traurig, vielleicht freute es ihn, zuzusehen und vielleicht war es ihm auch gleichgültig. Ich habe von meiner Mutter nie viel über ihn erfahren, aber manchmal, wenn ich sie gefragt habe "Wie war Vater", dann schaute sie mit ihren blauen Augen, die seit seinem Tod so traurig waren, an mir vorbei auf einen unbekannten Platz in ihrer Erinnerung und murmelte: "Er war klug dein Vater, und gut. Er hatte so viele Gedanken...so viele wunderbare Gedanken."
Aber das geschah selten, dass sie so sprach, denn nachdem mein Vater tod und beerdigt war - seltsamerweise vermisste ich ihn schrecklich - war meine Mutter anders geworden. Ihr Gesicht wurde blasser, da sie nur noch selten nach drausen ging, sie schien zusehends um zwanzig Jahre zu altern und ich habe sie nie wieder singen gehört...bis auf einmal und dass werde ich später erzählen. Obwohl sie für mich da war, mich versorgte und gut zu mir war, erschien es mir mitunter, als ob sie mich gar nicht mehr wahrnehmen würde. Ich sah mitunter, wie sie stundenlang aus dem Fenster sah, besonders am späten Nachmittag, als erwarte sie jeden Moment seine Gestalt um die Ecke biegen zu sehen. Sie hat nie geweint - nicht einmal bei der Beerdigung, aber ich habe sie einmal nachts gesehene, als ich durch den dunklen Hausflur aufs Klo eilte und im Vorbeigehen einen Blick durch die offene Wohnzimmertür warf, wie sie mit einem großen Buch im Schoss dasaß, auf es herabblickte, blätterte und obwohl ich mir nciht sicher bin und es lange her ist, glaubte ich, eine einzelne Träne auf ihrer weißen Wange glitzern zu sehen.
Ich sah einmal heimlich nach, welches Buch sie da gelesen hatte. Es handelte sich um ein altes Fotoalbum, das zuoberst im Regal stand - ich musste mich auf einen Stuhl stellen, um es zu erreichen - und auf der ersten Seite sah ich ein Foto meiner Eltern bei ihrer Verlobung. Sie saßen nebeneinander auf einem Sofa, meine Mutter hatte ihren Kopf an die Schulter ihres Verlobten gelegt und ihre Hände waren ineinander verschlungen.
Ich schämte mich auf einmal, dass ich so in den Erinnerungen meiner Mutter stöberte, gerade als hätte ich etwas heiliges, verbotenes getan, obwohl sie mir nie wörtlich verboten hat, das Buch zu nehmen. Ich legte es wieder zurück, aber sie hat wohl doch
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