Fanfic: BLUMENKOHL

Kapitel: Kapitel 2

BLUMENKOHL

Kapitel 2

Es war der letzte Nachmittag des Jahres 1975.

Nanako und Megumi wanderten durch die Strassen Nerimas und um sie herum schwebten Silvester Fluhiden in der grauen Luft. Die Restaurants und die Cafes, die Studentenclubs und die Pubs und alle anderen Räume, die dazu geeignet waren waren bunt mit Luftballons, Girlanden und aus Papier ausgeschnittenen Uhren, die alle fünf vor Mitternacht zeigten, dekoriert. Es wurden riesige Mengen von Alkohol und Cola gekauft. Alles wartete auf die ausgelassene Nacht. Tausende gespannte Bewohner Japans trippelten durch die Strassen ganz Tokyos, husteten in den grau- bläulichen Abgasen und schleppten riesige Einkaufstaschen, Tüten und Flaschen mit sich. In die Kassen aller Geschäfte floss das Geld in Strömen und vergrößerte nur die allgemeine Verwirrung. Vor den Friseursalons und in ihnen war die Hölle los, dort, wo man Champagner kaufen wollte entstanden sofort Cyklone mit ein paar Epizentrum. Die Menschen hatten ein außergewöhnliches Strahlen in den Augen.

Ja, es war definitiv etwas in der Luft an diesem Nachmittag.

Sogar Megumi erinnerte sich, dass sie auf eine Party eingeladen war.

Die Einladung stammte von Yukiko, ihrer Cousine, die immer ein paar Tage vor der geplanten Party anrief. Lider waren diese Partys fast immer so vornehm, dass Megumi die Einladungen nie annahm, weil sie einfach nichts zum anziehen hatte. Zum Beispiel, hätte sie vor, heute Abend zu Yukiko zu gehen, hätte sie die Wahl zwischen ihren Jeans oder ihrer Schuluniform.

Wie der Mensch zu den Materiellen Dingen steht liegt nicht immer an seiner Weltanschauung. Wenn man, zum Beispiel, das Mitglied einer großen Familie mit begrenzten Einkommen und einem leichtsinnigen und unbegrenzten Verhältnis dazu ist, ist es sehr gescheit, eine ignorierende oder sogar verachtungsvolle Stellung zu den genannten Einkommen zu zeigen. Megumi machte genau das. Außerdem entsprach so eine Stellung ihrer Natur, die etwas lässig und ganz ohne Koketterie war. Megumi war sowohl mit ihrer Familie, als auch mit ihrer Lebenssituation vollkommen zufrieden. Und auf die Party hatte sie sowieso nicht vor, zu gehen. Sie hatte vor, zu Hause zu bleiben und gemütlich ein Werk von Aristoteles zu lesen, dass sie von ihrem Vater geborgt hatte.

Sie grinste.

Ihr Vater war wohl der einzige Japaner, der sich perfekt in der Kultur der alten Griechen und Römer auskannte.

Das kam davon, dass er selbst nur halber Japaner war und lange in Europa, genau gesagt, in Deutschland, gelebt hat. Dort hatte er die Werke der antiken Meister lieben gelernt, weshalb er Klassische Philologie studiert hatte.

„>Die, die kleinen Augen haben, sind oft Niederträchtig; man sieht es an dem Beispiel der Affen.<“ Las Megumi gemütlich vor. Sie kannte keine angenehmere Art zu lesen als im Liegen, auf dem Bauch, wobei man sich ein zusammengerolltes Kissen unter das Kinn legen sollte, damit der Nacken nicht steif wurde.

Nanako suchte etwas im Schrank und reagierte sofort.

„Du, pass auf! Sonst sag dir, was ich an deinem Beispiel sehe! Mama, Megumi ärgert mich!“

„Megumi, ärgere Nanako nicht.“ Sagte Mama mechanisch und ging mit dem Staubsauger durchs Zimmer. Die Mutter von vier Töchter, von denen jede einen ausgeprägten Charakter hatte, Frau Yuki Nagashi, erhielt sich ihre geistige Ausgeglichenheit nur durch ein spezielles System, das durch jahrelanges psychisches Training ausgearbeitet wurde. Alle Konflikte zwischen den Töchterchen nahm sie nur oberflächlich zur Kenntnis. Sonst konnte sie in diesem Chaos einfach nicht überleben.

„Also so was, sie unterscheidet Aristoteles vom Ärgern nicht.“ Lachte Megumi und ihre Wörter wurden von Mama überhaut nicht wahrgenommen.

Nanako knurrte wütend und schaufelte mit beiden Händen im Schrank. Wenn sie wütend war leuchteten ihre braunen Augen rötlich und ihr schwarzes Haar schien dabei fast noch dunkler. Zwei Töchter von den Nagashis waren Schwarzhaarig: Nanako und Yumi, wie Mama. Die zwei anderen, Megumi und Aoko hatten dunkelbraune Haare. Was denn Braunhaarigen Papa Nagshi anging (der mit der Zeit etwas ergraute) so fand er, dass vier Töchter sowieso viel für die Geduld eines einzigen Vaters sind. Das Schicksal – behauptete Vater Nagashi mit seinem üblichen, philosophischen Optimismus – hatte Mitleid mit ihm gehabt und gab der Monotonie des Geschlechtes wenigstens nicht die Monotonie der Färbung hinzu. Und in der Tat, jeder der vier Töchterkopfe war anderer Farbe. Megumis kurzgeschnittenes Haar glänzte dunkelbraun, Nanako hatte eine rabenschwarze Mähne und Aoko sagte über sich selber, dass sie Schokolade auf dem Kopf hat und das war eine überaus passende Beschreibung. Die jüngste Yumi hatte dicke Haare, die einen violetten Glanz hatten.

„Ah!“ kreischte Nanako plötzlich auf. „Entschuldigt, dass ich die Ruhe zerstöre! Aber jemand hat wieder meine Strumpfhose angefasst!“

„>Die, die mit einer weichen und eintonigen Stimme reden sind oft sanftmutig; man sieht es am Beispiel des Schafes. Die, die mit hoher und kreischender Stimme sprechen sind oft verrückt; man sieht es am Beispiel der Ziegen.<“ Las Megumi mit richtiger Freude vor.

„Hört mal, ihr Ziegen, wo ist euer Vater?“

„Unser Vater ist mit unseren Schwestern in der Stadt.“ Erwiderte Megumi und blätterte um. „Sie wollten Kuchen und Champagner kaufen.“

„Dieser Mensch ist verrückt geworden.“ Stellte Mama bündig fest. „Sie trampeln ihm doch die Kinder tot in der Warteschlange.“

„Unser Vater wird nicht in der Warteschlange stehen.“ Erklärte Nanako. „Yu-chan ist die beste für die Menge.“

Sie sprach von der fünfjährigen Yumi, ein süßes Kind mit stahlharten Nerven. Dieses Kind besaß die Gabe, auf Kommando zu weinen, wenn die in eine Schlange geformte Menschenmenge darauf bestand, alle Senioren, schwangeren Frauen und Väter mit Kindern im Arm nicht dranzulassen. In solchen Momenten brach das Kindchen so überzeugend in Tränen aus, dass die Schlange verstummte und einen Platz an der Kasse freimachte.

„Der Staubsauger ist kaputt.“ Stellte Mama irritiert fest.

Megumi hob den Kopf, denn Mama klang irgendwie merkwürdig verärgert. Etwas beunruhigendes war auch in ihrem Aussehen. Mama war schon immer klein und sehr schlank gewesen, aber heute sah sie noch schwacher aus. Mama war über vierzig Jahre alt, sah nach mehr aus, denn ihr Gesicht trug die Spuren aller Sorgen, die sie nicht in ihr Unterbewusstsein ließ. Nur ihre Augen waren jung – sie leuchteten in einem warmen, guten Haselnussbraun, denn Mama war auch eine warme und gute Person, nur unglaublich apodiktisch. Sie war ein kleiner Haustyrann, voller konzentrierter Energie, immer beschäftigt und ganz und gar ihrer großen Familie ergeben.

Desto verwunderlicher war ihre heutige Apathie – denn was bei einem anderen als Normalzustand war, war bei Mama eben ein Zeichen von Apathie. Mama Nagashi stand seufzend und sich die Magengegend massierend in der Zimmermitte und starrte den Staubsauger an. Endlich schuttelte sie denn Kopf, nahm ein Buch vom Tisch, kontrollierte den Titel und blätterte ein paar Seiten um.

„Wer hat das gekauft?“ fragte sie.

„Was denn?“

„>Die zweite und dritte Jugend der Frau>“

Eine Weile herrschte Schweigen.

„Ich...“ gab Nanako schließlich zu und räusperte sich verlegen.

Megumi kicherte und wandte sich wieder dem Buch zu.

„>Die, die schmale und knochige Hinterbacken haben>“ las sie laut.

„Mama, jetzt hörst du selbst, dass mich diese Hexe ununterbrochen erniedrigt.“

„Megumi, erniedrige nicht.“

„Aristoteles! Mama, sag ihr, sie sollte besser Physik lesen. Sonst wird sie nie was besseres kriegen, als Sechser!“

„Megumi, lies besser Physik.“ Sagte Mama. „Sonst wirst du nie was besseres kriegen als Sechser.“ Sie seufzte und verzog schmerzhaft das Gesicht. „Was ist denn, verflixt, irgendwie fühle ich mich heute mies. Hört mal, warum kennt sich keine von euch mit Elektrizität aus? Warum muss ich in der Zimmermitte mit einem untätigem Staubsauger stehen?“

„Weil der Kabel nicht in der Steckdose steckt.“ Riet Megumi, obwohl sie eine Sechs in Physik hatte und eine tiefe Abneigung gegen Elektrizität hegte.

Mama merkte unzufrieden, dass Megumi Recht hat, deshalb ging sie ins Nebenzimmer um den Staubsauger endlich anzuschalten. Aber als sie dort ankam vergaß sie ihn sofort und setzte sich in einen Sessel, sich den Bauch haltend.

In der Wohnung der Nagashis wurde es Still.

Die ganze Wohnung war dunkel, nur das Zimmer, wo Megumi und Nanako waren war hell beleuchtet. Es war ein kleines Zimmer, das zwei Futons, die am Tag zusammengerollt und im Schrank versteckt wurden, einen Schrank, einen riesigen Schreibtisch, einen Tisch und zwei Stühle enthielt. Es war eins der vier Zimmer, die zusammen mit einem Badezimmer die Wohnung der Nagashis waren. Die Wohnung lag auf dem dritten Stock eines großen Wohnhauses, wo die Nagashis seit Megumis Geburt wohnten.

Die Wohnung hatte viele Fehler, die aber ziemlich unwichtig waren, da die Nagashis sie einfach nicht bemerkten. Die Wohnung hatte alte Kachelöfen, die mit Kohle geheizt werden mussten. Die Kohle war schwer zu bekommen, nach dem Bekommen musste sie im Keller platziert und jeden Tag in Eimern nach oben getragen werden. Aber das war für die Nagashis nur ein Grund für Begeisterung und Freuden. Gab es denn etwas schöneres als ein alter Ofen aus alten Kacheln, an die man sich so schon an kalten Winterabenden kuscheln konnte? Ein ähnliches vollkommen verdrehtes Sehen der Dinge zeigten diese Menschen auch bei dem kaputten Ofen im Badezimmer, der in die Luft zu fliegen drohte, (der aber laut Herr Nagashi ein Kunstwerk des deutschen Jugendstils war), den morschen Böden, die immer wieder mit Paste eingerieben werden mussten (aber wie angenehm sie unter den Füssen knarrten!) und so weiter, und so fort.

Aber die Wohnung gefiel nicht nur
Suche
Profil
Gast
Style