Wie ein Engel

Wie ein Engel

Es war ein Tag wie jeder andere: Ich stand auf, ging ins Bad, frühstückte und ging zur Schule. Doch als ich das Klassenzimmer betrat, veränderte sich schlagartig alles. Denn auf dem Platz neben mir, der sonst immer leer war, saß eine Schülerin, die ich hier noch nie gesehen hatte. Ohne den Blick von ihr zur wenden, setzte ich mich auf meinen Platz. „Hallo, ich bin Kenji. Und du?“, stellte ich mich ihr freundlich vor. Doch sie antwortete nicht. Sie saß einfach nur da und hatte den Kopf gesenkt. Nachdem ich noch etwas gewartet hatte, ob sie nicht doch noch antworten würde, ging ich zu meinen Freunden und wir unterhielten uns über die letzte Mathestunde. Als es schließlich läutete, setzten wir uns alle wieder auf unsere Plätze und der Lehrer sagte laut: „Vielleicht habt ihr es schon gemerkt, wir haben eine neue Mitschülerin. Cosima, stellst du dich bitte vor.“ Langsam erhob sich das Mädchen neben mir und schritt nach vorne. Dann drehte sie sich zur Klasse um und ich sah zum ersten Mal ihr Gesicht. Fasziniert von ihrem Anblick starrte ich sie an. Ihre dunkelblauen Augen bildeten einen perfekten Kontrast zu ihren schwarzen Haaren. Ihr Gesicht war beinahe symetrisch, sie schien perfekt zu sein. Um es kurz zu machen: Sie war wunderschön. Sie öffnete den Mund und sprach in sanfter, klarer Stimme zur Klasse: „Guten Tag, ich bin Cosima Angeli. Mein Geburtstag ist der 12.März und ich bin jetzt 15 Jahre alt. Seit 5 Jahren…“ Den Rest verstand ich nicht mehr, denn ich war von ihrer Stimme so verzaubert, dass ich zu träumen begann. Ich merkte nicht einmal, wie sie sich setzte und der Lehrer mit dem Unterricht anfing. Erst das immer lautere Rufen meines Namens riss mich aus meinen Träumen zurück in die reale Welt und ich sah in das wütende Gesicht des Lehrers. „KENJI!“ Sofort sprang ich auf, wie es jeder Schüler machen musste, der aufgerufen wurde. „Äh… ja?“ „Beantworte meine Frage!“ „Wie… war denn die Frage…?“, fragte ich etwas zögernd. Das Gesicht des Lehrers verfinsterte sich noch weiter. „Setzen!“, befahl er mit scharfem Unterton in der Stimme. Mit einem leisen Seufzer ließ ich mich zurück auf meinen Stuhl fallen. Aus den Augenwinkeln sah ich zu Cosima. Sie drehte den Kopf zu mir und lächelte. Augenblicklich war ich wieder gut gelaunt und arbeitete den Rest der Stunde gut mit, um meine schlechte Mitarbeitsnote wieder aufzubessern. Dann endlich, nach mir endlos vorkommenden 30 Minuten, ertönte der erleichternde Gong und die ganze Klasse machte sich auf den Weg zum Musiksaal, wo uns ein fröhlicher Musiklehrer empfing. „Immer rein in die gute Stube! Heute machen wir Noten im Vorsingen!“ Na toll… Ich wusste doch, dass diese Fröhlichkeit einen Haken hatte! „Ah, ein neues Gesicht!“, stellte der Musiklehrer fest, als Cosima an ihm vorbei ging und sich einen Platz suchte. Da sie die letzte gewesen war, schloss er die Tür und ging zum Lehrerpult. „Also, wie gesagt, wir machen Noten im Vorsingen. Ich habe hier verschiedene Stücke zur Auswahl, wer möchte denn anfangen?“ Niemand meldete sich. Die meisten Schüler unter uns hassten Vorsingen, da sie grade im Stimmbruch waren. Und die wenigen, die den Stimmbruch schon hinter sich gelassen hatten, konnten nicht gut singen. „Na, dann muss ich wohl einen von euch auswählen. Die Neue da, wie heißt sie noch mal…?“ Er warf einen kurzen Blick auf die Klassenliste. „Cosima, fang du doch mal bitte an.“ Sie stand auf und ging zu unserem Musiklehrer vor, um sich ein Stück heraus zu suchen. Nachdem sie alle Notenblätter durchgesehen hatte, entschied sie sich für ein Stück, das über mehrere Oktaven reichte. Sie stellte sich vor die Klasse und begann zu singen. Der Musiklehrer staunte nicht schlecht, denn sie traf die Noten auf den Ton genau und ihre Stimme klang fest und sicher. Ihr Gesang war wunderbar. So klar und rein. Ja, beinahe betörend. Wir alle hörten ihr zu und so kam es, dass wir die Zeit vergaßen. Sogar unser Lehrer war so beeindruckt, dass er sie einfach weiter singen ließ, Lied für Lied, bis schließlich der Gong ertönte und wir in die Pause gehen mussten. Immer noch verträumt fing ich ein Gespräch mit Cosima an und lernte sie etwas besser kennen. So erfuhr ich, dass sie als Kind Gesangsstunden genommen hatte und dass ihre Mutter zudem Sängerin war. Sie erzählte mir auch, dass ihr Vater vor 3 Jahren gestorben war, doch sie verlor während der ganzen Erzählung nicht ihr Lächeln. Und das bewunderte ich an ihr. Die Pause verging leider viel zu schnell und wir gingen zusammen zur nächsten Unterrichtsstunde in unser Klassenzimmer. Eine Doppelstunde Englisch wartete auf uns, aber ich wusste, neben Cosima würde ich das ohne Probleme überstehen. Und ich behielt Recht: kaum hatte die Stunde angefangen, war sie auch schon wieder vorbei. In der Pause unterhielt ich mich wieder mit Cosima und die letzten beiden Schulstunden vergingen auch wieder wie im Flug. Ich begleitete Cosima ein Stück nach Hause, bis sich unsere Wege trennten. „Kennst du den Weg ab jetzt?“, fragte ich sie zur Sicherheit noch einmal. „Ja, keine Sorge“, lächelte sie, drehte sich um und ging in die Straße hinein. Dann blieb sie jedoch noch einmal stehen und sagte, ohne sich umzudrehen: „Du bist wirklich nett, Kenji…“ Ich spürte, wie ich rot wurde. „D-du auch…“, stotterte ich. „Wir sehen uns dann morgen.“
Doch als ich am nächsten Morgen ins Klassenzimmer kam, war sie nicht da. Und auch als es schon geläutet hatte, war der Platz neben mir noch immer leer. „Ich… muss euch eine traurige Mitteilung machen…“, setzte der Lehrer mit bedrückter Stimme an. „Es geht um eure neue Mitschülerin, Cosima Angeli. Sie… hatte einen Unfall… und sie hat ihn nicht überlebt…“ Ich fiel aus allen Wolken. Das konnte doch nicht wahr sein, das war doch sicher nur ein schlechter Scherz! Ich wollte es einfach nicht glauben, aber es war wahr. Stockend erzählte der Lehrer uns noch etwas mehr über den Unfall und es fiel mir schwer, die Tränen zurückzuhalten.
Ein paar Tage später war die Beerdigung. Ich fragte mich immer wieder ‚Wieso? Wieso musste sie sterben…?’ Doch ich fand einfach keine Antwort darauf. Als alle, bis auf ihre Eltern und mich, bereits gegangen waren, wurde der Sarg ins Grab hinunter gelassen. Ich wusste genau, dass sie darin lag und als der Sarg auf dem Boden angekommen war, wurde mir klar, dass ich sie nie wieder sehen würde… Ich atmete tief durch, ging näher ans Grab hin und schloss die Augen. „Sie war wie ein Engel, der gekommen ist um die frohe Botschaft der Liebe zu verkünden und sofort wieder verschwand…“
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