Wölfin der Istari

Tod der Leitwölfin

Tod der Leitwölfin

Mit einem undefinierbaren Ausdruck auf dem Gesicht schritt die Wolfsdämonin über den großen Felssims, der vor dem Eingang zu ihrer Höhle lag. Um sie herum tollten weibliche Jungtiere aller Altersstufen miteinander in ihrer menschlichen oder in ihrer wölfischen Gestallt. Auch die erwachsenen Wolfsdämoninnen erprobten und verbesserten hier ihre Kampftechnik. Sie kämpften entweder als Menschen mit ihren Schwertern oder als Wölfe mit ihren Krallen und Zähnen.

Mit einem leisen Seufzer erreichte die Wolfsdämonin den Rand des höher gelegenen Simses und sah auf das sich vor ihr erstreckende Land. Die kühle Brise des Abends fegte über die Baumkronen des nahe gelegenen Waldes, um danach gegen die Ausläufer der nördlichen Bergkette, an der sich der Sims befand, zu branden. Die bereits schwindende Sonne sandte ihre nun eher rötlichen Strahlen über das Land und tauchte es so in perfekte Harmonie.

Amaya*, die Wolfsdämonin, liebte diesen Anblick, hatte ihn immer geliebt. Sie ließ ihre wachsamen, klugen und meerblauen Augen träumerisch über das Land gleiten, Es hätte alles so schön sein können, wie jeden Abend, doch das tat es nicht. Dunkle Schatten überzogen Amayas Gesicht beim Gedanken des am Tag Geschehenem. Ein erneuter Windstoß ließ ihre hüftlangen, hellblonden Haare um ihr Gesicht herumwehen. Auch an ihrer Kleidung, die aus weißem Wolfsfell bestand, dass sie als Bauchfreies Oberteil und als knielangen Rock, an dessen hinterem Ende ein weißer Wolfsschwanz herabhing, trug, zerrte in den nun etwas aufgefrischterem Wind.
„Amaya? Amaya-chan? Amaya?!“, schrie eine weitere Wolfsdämonin vom Eingang der Höhle her. Die Angesprochene drehte sich langsam um und sah die Dämonin, die sie gerufen hatte, fragend, über die Kämpfenden Jungdämonen hinweg, an. Nachdem die Dämonin sich einen Weg durch die Jungtiere gebahnt hatte, blieb sie vor Amaya stehen. Sie hatte schulterlange, braune Haare, grüne Augen und trug exakt dasselbe wie Amaya, nur, dass ihr Fell nicht weiß, sondern braun, wie das aller anderen Dämoninnen, war.

„Was ist los, Miyako**?“, fragte Amaya.
„Gilaisa… Mutter will dich sehen.“, antwortete die Gefragte. Sofort wurde Amayas Gesicht ernst. Sie sah ihre jüngere Schwester lange und durchdringend an, als hoffte sie, sie könne dadurch sehen, was ihre Mutter, die Leitwölfin des Rudels, von ihr, Gilaisas ältester von zwei überlebenden Töchtern, wollte. Als sie einsah, so nichts in Erfahrung bringen zu können, seufzte Amaya leise und ging zur Höhle.

Langsam hüllte Amaya die Dunkelheit der Höhle ein. Ihre Augen gewöhnten sich rasch an den Wechsel von Licht zu Dunkelheit und sahen sich in der ihr so vertrauten Höhle um. Sie stand in der kuppelartigen Hauptkammer der Höhle, die im Winter oft als Festplatz verwendet wurde. Von dort aus führten mehrere Abzweigungen in kleinere Höhlen, die als Wohnsitz der verschiedenen Familien benutzt wurden.

Zielsicher ging Amaya zu der direkt vor ihr liegenden größten Abzweigung, die der Familie der Leitwölfin gehörte. Sie tauchte in immer dichter werdende Finsternis, die ihren ohnehin schon gesenkten Gemütszustand nicht hob.
Langsam ging sie an den zwei Laubhaufen, die ihr und Miyako gehörten, vorbei und hielt beim letzten, bereits belegten Haufen an und ging in die Knie.
„Du wolltest mich sprechen, Mutter?“, begann Amaya zögernd das Gespräch. Es widerstrebte ihr, die auf dem Laubhaufen liegende Leitwölfin zu betrachten, da sonst eine unbändige Wut in ihr aufstieg. Das Gesicht der 35jährigen Leitwölfin war zerschlagen und von blauen Flecken übersät. Ihre braunen Augen blickten des Lebens müde und seltsam stumpf in die Welt. Amaya ließ ihren Blick über den Oberkörper ihrer Mutter schweifen. Ein langer, tiefer Schnitt zog sich quer darüber hinweg. Miyakos und Amayas Flehen war sinnlos gewesen, Gilaisa hatte sich geweigert, die Wunde verarzten zu lassen.
„Aber das wäre dein Tod sie offen zu lassen!“, hallte Amayas Stimme durch ihren Kopf.
„So sei es.“, antwortete ihr Mutter daraufhin wie aus weiter Ferne.

Bei dem Gedanken geschah das, was Amaya hatte vermeiden wollen: Unbändiger, alles in ihr einnehmender Hass stieg in ihr auf und schien ihre Sinne zu betäuben.
„Naraku…“, presste sie mit Abscheu in der Stimme hervor und ballte ihre Hände zu Fäusten.
„Amaya, zügle deinen Zorn!“, beruhigte Gilaisa ihre Tochter. Der Satz, allein die Stimme ihrer Mutter, zeigte Wirkung bei Amaya: Sie schien aus ihrer ‚Zornestrance’ aufgewacht zu sein und richtete besorgt ihre volle Aufmerksamkeit auf die vor ihr Liegende.

„Amaya, es steht sehr schlecht um uns. Naraku will unser Rudel, die Istari, um jeden Preis auslöschen.“, begann Gilaisa.
„Aber warum?! Was haben wir diesem Naraku denn getan?!?“, warf Amaya mit bebender Stimme ein.
„Weil wir Wolfsdämonen von Stamm der Istari sind.“, antwortete die Leitwölfin schlicht. „Wir sind eines der mächtigsten Wolfsdämonenrudel der uns bekannten Welt und sind ausgezeichnete Kämpferinnen. Außerdem sind wir eines der Ungewöhnlichsten, da wir, wie du weißt, alle männlichen Wolfsdämonen töten, außer jenen, die wir zur Fortpflanzung brauchen. Doch selbst diese sind nun durch die Angriffe Narakus tot… Wir ‚züchten’ seit je her die beste Kämpferin oder schlicht: die perfekte Wolfsdämonin. Nun endlich ist es uns gelungen…“, sagte sie mit einem stolzen Blick auf Amaya.
„Ich? Ich soll die perfekte…“, setzte Amaya an, wurde aber von ihrer Mutter unterbrochen.
„Ja.“, sagte diese. „Und Naraku…“ Plötzlich wurde Gilaisa von einem kräftigen Hustenanfall unterbrochen.
„Mutter!“, schrie Amaya und wollte schon loslaufen, um Hilfe zu holen, doch Gilaisa hielt sie zurück.
„Amaya, du musst… du musst zum Rudel der Kaze***“, sagte die Leitwölfin mit schmerzverzogenem Gesicht. Amaya wollte gerade zu einer Frage ansetzen, als diese auch schon beantwortet wurde.
„Der Leitwolf der Kaze heißt Kouga. Sie leben im Südwesten von hier. Du musst Kouga aufsuchen und ihn um Hilfe bitten.“, sagte Gilaisa. Amaya wollte schon protestieren, als ihre Mutter fortfuhr: „Versuche ihn davon zu überzeugen, dass es das Beste wäre, wenn unsere beiden Rudel sich zusammen Naraku stellen. Er hasst ihn ebenso sehr wie du.“, fügte Gilaisa noch hinzu.
„A… aber Mutter“ Amaya war vollkommen perplex. Gilaisa wollte, dass das Rudel der Istari, ihr Rudel, um Hilfe bat?!?
„Tu’ was ich dir sage, Amaya! Betrachte es… als meinen letzten Willen an… an… an dich…“, erwiderte Gilaisa mit schwindender Stimme.
„Mutter!“, flüsterte Amaya mit gesenktem Kopf. Plötzlich fühlte sie eine Hand an ihrer Wange und blickte zu ihrer Mutter.
„Meine tapfere Tochter…“, fing Gilaisa leise an. „Du wirst unser Rudel nun führen. Doch bevor du das tust, suche Kouga auf… um meinetwillen!“, fügte sie noch hinzu, als Amaya erneut zum Protest ansetzte.
„Du musst noch heute aufbrechen. Versprich’ mir, dass du heute aufbrichst!“
Aber…“, setzte Amaya an.
„Versprich’ es!“, forderte Gilaisa unerbittlich.
„Ich… ich verspreche es dir, Mutter…“, gab Amaya schweren Herzens nach. Mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht sagte Gilaisa leise: „Leb’ wohl, Amaya!“ Damit sank ihre Hand, die noch immer auf Amayas Wange geruht hatte, zu Boden und die Leitwölfin schloss erlöst die Augen. Sie atmete noch einmal aus, danach regte sich nichts mehr in ihr. Das Leben hatte die Leitwölfin unwiderruflich verlassen.

Einige Minuten blieb Amaya mit gesenktem Kopf vor ihrer soeben verstorbenen Mutter knien, dann erhob sie sich und ging hinaus auf den großen Sims, auf dem die jungen wie älteren Wolfsdämoninnen noch immer ausgelassen und frohen Mutes kämpften. Amaya ging langsam zu Miyako, die am Rande des Simses auf das Land hinabblickte. Als sie Miyako beinahe erreicht hatte, wandte diese sich um und sah ein für sie unglaublich seltenes Bild.
Die nun vollends roten Strahlen der bereits halbuntergegangenen Sonne beschienen sacht Amayas Gesicht. Eine Träne, die aus Kristall zu sein schien, da sie die roten Strahlen in sämtlichen Facetten widerspiegelte, fand ihren Weg über die Wange der Wolfsdämonin. Nur Amayas Augen spiegelten ihre tiefe Trauer wider. Ihre Haltung und ihr Gesicht verrieten nicht, hatten nie ihren Gemütszustand preisgegeben und so auch jetzt.
„Amaya-chan? Was ist bei Mutter vorgefallen?“, fragte Miyako leise, als ihre ältere Schwester sie erreicht hatte.
„Sie hat mich um etwas gebeten. Sie will, dass ich das Rudel der Kaze um Beistand im Kampf gegen Naraku bitte. Das war ihr letzter Wille.“, antwortete Amaya seltsam monoton.
„Wie? Letzter… ist sie etwa…?“, fragte Miyako beunruhigt. Statt einer Antwort nickte Amaya nur und sah auf das Land, das ihre Heimat war. Doch dies gehörte nun der Vergangenheit an. Diejenige, die diesen Ort einst zu ihrem Zuhause machte, wandelte nicht mehr unter den Lebenden.

„Und du wirst mit mir gehen.“, brach Amaya die entstandene Stille ungeniert.
„Wa…?“, empörte sich Miyako.
„Ich kann nicht alleine gehen. Wir müssen uns gegenseitig Schutz geben. Immerhin bin ich nun die Leitwölfin und Naraku hat es daher sicherlich auf mich abgesehen. Oder willst du etwa, dass ich während der Reise ihm mein Leben übergebe?“, fragte Amaya desinteressiert.
„Nein! Ich… ich komme ja mit Amaya-chan!“, gab Miyako seufzend nach. „Aber du musst es dem Rudel sagen.“
„Das werde ich.“, gab Amaya mit fester Stimme zurück und wandte sich den Kämpfenden zu. Sie hob eine Hand, die Handinnenfläche den Dämoninnen zugekehrt, und augenblicklich hörten sie auf zu kämpfen und blickten Amaya an.
„Ich habe euch etwas mitzuteilen.“, begann Amaya ihre Rede förmlich. Dies sah ihr gar nicht ähnlich, daher tauschten einige Dämoninnen unruhige und ebenso fragende Blicke.
„Gilaisa,
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