Die Stimme der Wahrheit

May und Kane

Die Sonne suchte sich ihren Weg zwischen Mays Vorhänge und die Strahlen kitzelten sie in der Nase. Mühsam öffnet die ältere Frau die Augen. „Oh nein, bin ich schon wieder im Sessel eingeschlafen? Das gibt’s doch nicht. … Ah, jetzt bin ich total verspannt!“, murmelte sie schlecht gelaunt in die Gegend.
Etwas langsamer als sonst stand sie auf und ging Richtung Küche, als sie durch den Spalt ihrer Vorhänge Kane auf ihren kleinen Luxuswohnwagen zukommen sah. „Oh nein, nicht der! Nicht so früh am Morgen. Bitte, Gott, tu mir das nicht an! Lass ihn stolpern und sich ein Bein brechen oder so was… Verdammt! Kate würde mich für meine Gedanken hassen, obwohl ich das nicht verstehen kann. Der Typ ist ein echter Kotzbrocken…Argh, er ist schon da! Was soll ich nur tun?“, sprach May ihre Gedanken, mit schon etwas festerer Stimme, aus. Da klopfte es auch schon.
„May, mach auf! Na, los, altes Weib, tu was ich dir sage!“, brüllte Kane, schlecht gelaunt wie immer, durch die Eingangstür.
„Bei deinen Manieren überlege ich mir das zweimal, du Spasti!“, kam die verärgerte Antwort.
Kane bekam einen so blutroten Kopf, dass man meinen könnte, er würde gleich explodieren, was er, zu Mays Bedauern, nicht tat. Ein letztes Mal noch seufzte sie und machte dann dem Menschen die Tür auf, den sie am meisten auf der Welt verabscheute.
Kanes Gesicht hatte schon fast wieder seine normale Farbe zurück, als sich endlich vor ihm die Tür öffnete. „Na, geht doch, du Sumpfhexe! Wo, zum Teufel steckt dieser kleine Zwerg, der sich Kate nennt? Sie ist doch bei dir, nicht?“, fragte er mit einem spöttischem Grinsen. Ohne zu fragen stieß er die Tür weiter auf und betrat den Wohnwagen. Er ließ seinen Blick von dem Bett, welches ganz links stand, zur Mitte gleiten. Dort war das kleine „Wohnzimmer“ mit einer Couch und einem bequemen Ohrensessel eingerichtet. Der kleine Tisch dazwischen – May liebte ihn – war ein Erbstück. Auf ihm türmten sich Bücher, die Kate bei ihrem letzten Besuch zurückgebracht hatte. Selbst nachdem Kane sie so minderwertig behandelt hatte, musste May bei dem Gedanken an Kates strahlendes Gesicht lächeln, als sie erfuhr, dass dies Bücher für sie waren.
Anscheinend war Kane fertig mit seiner Suche nach dem „Balg“, wie er Kate immer nannte, denn seine Stimme war schneidend als er fragte: „Na, wo ist sie? Sag’s mir, sonst …“
„Sonst was?“, unterbrach ihn Mays vor Wut zitternde Stimme, „Was willst du dann machen? … Na, siehst du, du kleiner Jammerlappen hast nicht genug Mumm in den Knochen, einer alten Frau etwas anzutun. Also kann deine Mutter bei deiner Erziehung nicht völlig versagt haben. Zu deiner Frage: Ich weiß nicht, wo sich meine Enkelin aufhält, doch selbst wenn ich es wüsste, würde ich es dir mit Sicherheit nicht verraten!“
Kane holte unvermittelt aus und war bereit, zuzuschlagen, doch als er Mays vor Hass blitzende Augen sah, hielt er inne. Er hatte keine Angst, nein. Doch ein seltsames Gefühl machte sich in ihm breit. War es Hass? Nein, dieses Gefühl kannte er, da brauchte er nur an das Balg denken. War es Überraschung? Ja, das konnte es durchaus sein. Es gab nicht viele Menschen, die sich ihm so widersetzten. Nur diese alte Frau und das Balg. Aber auch Überraschung war es nicht allein. Konnte es …? War es möglich …? Nein! Bestimmt täuschte er sich. Nie und nimmer empfand er für die Alte Respekt! Das wäre ja noch schöner.
Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und fast lief er den Weg zurück, zu dem riesigen Zelt, wo Nacht für Nacht seine weltberühmten Auftritte stattfanden.
Verwundert über Kanes Verhalten blieb May in der Tür stehen und sah ihm nach. Sie war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie nicht sah, wie sich jemand an sie heranschlich. Immer noch war die Tür offen und May einfach zu verblüfft um sich zu bewegen.
Plötzlich tauchte ein Gesicht vor ihr auf! Mit den Worten: „Buh, … na, wieso bist du so verwundert, Großmutter?“, beendete Kate die Starrheit Mays. Blinzelnd löste sich ihr Blick von dem Weg zum Zelt. Wieder einmal hatte ihre Enkelin ihre besondere Fähigkeit unter Beweis gestellt. Kate war nämlich in der Lage, die Gefühle der Menschen zu fühlen und zu deuten, bevor diese selbst noch recht wussten, was in ihnen vorging.
„Wie kommst du darauf, dass ich verwundert bin?“, fragte sie, ohne jedoch eine Antwort zu erwarten. Immer, wenn May versuchte mit ihrer Enkelin über deren besondere Fähigkeit zu sprechen, wich diese ihr aus. Kate mochte es nicht, über sich selbst zu sprechen. Über Gefühle wollte sie schon gar nicht reden, seien es ihre eigenen oder die ihrer Freunde. Bei jedem konnte Kate die Gefühle spüren, bei jedem, außer bei Nick.
Kate war einmal ganz aufgelöst zu ihr gekommen, als sie gerade mal sieben Jahre alt war, und wollte wissen, warum sie nicht spürte, was Nick fühlte. Sie sagte, sie sei noch nicht einmal im Stande zu erraten, was er vielleicht fühlte. Mit der Zeit wurden aber die Gefühle der anderen so übermächtig, dass es Kate sogar willkommen hieß, wenn es wenigstens einen Menschen gab, mit dem sie reden konnte, ohne gleich von seinen Emotionen überwältigt zu werden.
Wie erwartet hatte sie Mays Frage einfach überhört und plauderte munter weiter: „Oma, hast du schon die neuen Bücher?“
Schmunzelt entgegnete die Großmutter ihr: „Aber Kind, hast du denn die zwei Wälzer, die ich dir gestern gegeben habe, schon durchgelesen?“
Errötend blickte Kate auf den Boden. Ja, sie hatte die Bücher schon gelesen, aber was sollte sie tun? Sie liebte Bücher über alles. Damit konnte sie in eine andere Welt entfliehen, dorthin, wo sie sich nicht verstellen musste, dorthin, wo …
„Kate? … Kate? Kleines, was ist los? Du siehst nicht gut aus. Hast du heute schon etwas gegessen?“, unterbrach dir besorgte Stimme Mays ihre Gedanken.
„Was? Äh, ja, … ja hab ich. … Oma, sagst du mir bescheid, wenn die neuen Bücher eintreffen? Ich muss jetzt wieder weiterüben“, antwortete Kate fast emotionslos.
Sie war schon halb zur Tür hinaus als May sie noch einmal zurückrief: „Kleines, Kane war gerade hier. Er hat dich gesucht und schien auch ziemlich sauer zu sein“
„Wann ist dieser Idiot mal nicht sauer?“, murmelte Kate vor sich hin. Sie war schon auf den Weg zurück zu Nick und den anderen, somit hörte sie nicht, was May noch sagte: „Pass auf dich auf, Kate. Du bist etwas ganz Besonderes. Lass dich nicht unterkriegen, wenn ich nicht mehr da bin“

Zwischenfall mit Folgen

Immer weiter lief Kate den Weg hinab, der sie näher und näher zu Kanes riesigem, protzigem Wohnwagen führte. Sie wusste, dass sie zuerst zu Kane musste und dann erst zurück zu ihren Freunden gehen durfte. Sonst hätte er sie gesucht und vor versammelter Mannschaft verprügelt, was Kate als unheimlich peinlich empfand.
Plötzlich stoppte sie und murmelte vor sich hin: „Oh nein, jetzt hab ich ihr gar nichts von meinem neuen Rekord erzählt! Aber wenn Oma dauernd versucht, mit mir über Gefühle zu reden, ist das ja auch kein Wunder. … Gefühle, ja, für sie ist Fühlen eine Besonderheit. Warum eigentlich? … Na, kann mir ja eigentlich egal sein.“ Und schon war sie wieder in Bewegung.
Nur noch wenige Schritte und Kane müsste Kate, falls er sich in seinem Wagen befand, kommen sehen. Normalerweise lief er ihr dann immer mit wutverzerrtem Gesicht entgegen und holte bereits zum ersten Schlag aus. Doch heute sollte es etwas anders kommen.
Schon bevor sie ihn sah, konnte sie ihren Onkel hören. Er war außer sich vor Wut und schien mit jemandem zu streiten. Unbemerkt schlich sich Kate näher an den Wohnwagen heran und spähte durch das Fenster. Was sie erblickte, sollte ihr noch einige unruhige Nächte verschaffen: Kane war allein. Niemand war bei ihm. Keiner, mit dem er hätte streiten können. Auch telefonierte er nicht. Er stapfte einfach nur hin und her und schrie durch die Gegend. So hatte Kate ihn noch nie erlebt! Was mochte nur geschehen sein, um ihn so aus der Fassung zu bringen?
Als ein weiterer Wutausbruch folgte, versuchte Kate etwas zu verstehen: „Dieses alte Weib! Was bildet die sich eigentlich ein? So mit mir zu reden! Und dann auch noch über die Vergangenheit! Über meine Mutter! Wie kann sie es wagen?! Und was mach ich? Verschwinden! Was wird die jetzt denken? Alte Hexe, ich hab mich getäuscht! Nie und nimmer hab ich Respekt vor dir! Pah, ….wenn ich sie das nächste Mal…“ Kate hatte genug gehört. Sie wusste ja, dass Kane bei ihrer Großmutter war, doch dass sie mit ihm über seine Mutter gesprochen hatte, konnte sie sich nicht vorstellen. Was Kate jedoch am meisten verwunderte, war, dass ihr Onkel sagte, er hätte Respekt vor May! Das musste sie ihrer Großmutter unbedingt erzählen! Die würde sich vor Lachen nicht mehr einkriegen! Schon bei dem Gedanken daran, musste Kate loskichern – was sich als schwerer Fehler herausstellte!
Schon sprang die Tür auf und ihr Onkel schoss mit blutrotem Gesicht durch die Tür hinaus. Verwirrt blickte er sich um – und sah Kate.
„Du, … du,… wie kannst DU es wagen?! Na warte, du kleine Ratte, ich zeig dir gleich was, wobei dir dein dämliches Gekicher vergeht! Und sollte ich dich auch nur ein einziges Mal dabei erwischen, wie du jemanden von dem, was du gehört hast, erzählst, dann wirst nie wieder die Gelegenheit bekommen, um zu Lachen!“ Mit diesem Worten holte Kane aus und schlug das Mädchen mit aller Kraft ins Gesicht. Diese war so überrascht, dass sie das Gleichgewicht verlor und rücklings auf den Boden stürzte. Dies nutzte ihr Angreifer aus, indem er ihr mit voller Wucht in die Rippen trat. Man hörte es Knirschen und Krachen, doch das stoppte Kane nicht im Geringsten – im Gegenteil, jetzt, da er hörte, dass seine Angriffe Früchte trugen, kam er erst so richtig in Fahrt.
Der 35-Jährige hockte sich auf Kates Arme und fing an, ihr brutal ins Gesicht zu schlagen.
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