Die Suche nach alter Freundschaft
One Shot
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Ihre müden Augen verfolgten ein kleines Segelbötchen, das schon seit einiger Zeit auf dem mit Wellen überzogenen See fuhr. Sie war gerade angekommen und lehnte nun am alten Fenster in dem Haus ihrer kürzlich erst verstorbenen Mutter. Den ganzen Tag hatte sie mit ihren sperrigen Koffer im Zug verbracht. Umringt von genervten Müttern, schreienden Kindern, alten sowie jungen Menschen. Das leise Rauschen des Meeres, das der angenehm kühle Wind hoch zu ihrem Fenster trieb tat ihr in der Seele gut und entspannte ihre Glieder. Sie hatte es so vermisst.
Ihre Eltern hatten sich vor drei Jahren getrennt und sie war mit ihrem Vater weggezogen. Damals fand sie es nicht fair, mit ihrem Vater mitkommen zu müssen, aber nun verstand sie warum. Ihre Mutter hatte schon damals gewusst, dass sie unheilbar krank war. Leider hatte sie es niemanden gesagt und so war sie eines Tages einfach nicht mehr da gewesen. Das ganze Gerede, von wegen deine Mutter wird immer bei dir sein, auch wenn du sie nicht siehst, half ihr nicht im Geringsten. Nun waren Ferien und sie war für zwei Wochen wieder in ihre alte Heimat gereist. Ihr Vater war dagegen, dass sie ihre Ferien hier verbrachte. „Du solltest deine Vergangenheit hinter dir lassen.“, hatte er gesagt. „Du hättest sie längst hinter dir lassen sollen.“
Doch sie musste hierhin, denn schließlich hatte sie dieses Haus geerbt, und wenn sie volljährig werden würde, dann wäre es ihr Haus und sie wusste schon nun genau, das sie hierhin ziehen würde. Aber es gab auch noch einen anderen Grund, der sie hierhin gebracht hatte. Sie wollte ihre alten Freunde wieder sehen und vor allem einen, Christopher.
Beinahe hatte die Müdigkeit sie dazu gebracht hier am Fenster einzuschlafen, doch im letztem Moment erklang die warme Stimme ihrer Tante: „Emellie. Kommst du? Du solltest erstmal etwas schlafen. Die Reise war lang.“
Emellie drehte sich um und schaute ihre Tante mit ihren braunen Augen an, die eine gewisse Traurigkeit widerspiegelte. „Ja“, sagte sie erschöpft und folgte ihrer Tante aus dem Haus.
Der Weg zum Haus ihrer Tante war lang, denn es lag am anderen Ende der Stadt und ihre Tante hatte kein Auto. Die hälfte des Weges war noch nicht erreicht und Emellie’ s Augen brannten und ihre Beine schmerzten. Als sie endlich am Haus ihrer Tante ankamen, befand sich Emellie in einer Art Halbschlaf. Dieser verflog aber schlagartig als sie merkte, dass sie von jemand lauthals begrüßt und umarmt wurde. Sie schreckte auf und blickte in strahlend blaue Augen. In die Augen ihrer Cousine Natalie. „Emellie! Schön dich wieder zu sehen. Wie geht es dir?“, stürmte Natalie los und Emellie hatte nur noch die blonden Haare ihrer Cousine im Gesicht. Natalie war ebenfalls einer ihrer alten Freunde gewesen.
„Lass deine Cousine los, Natalie. Sie sollte sich erstmal ausruhen. Euer wieder sehen könnt ihr später noch in ruhe feiern. Komm mit Emellie. Ich zeige dir dein Zimmer.“
Emellie schlief nicht sofort ein, als ihre Tante sie hoch ins Bett schickte. Sie lag in einem gemütlichen weichen Bett, das sich in dem Zimmer ihrer Cousine befand.
Ein Gefühl von Freude stieg in ihr auf, denn bald würde sie ihre alten Freunde wieder treffen, die sich zurücklassen musste. Damals hatten sie sich geschworen in Kontakt zu bleiben, doch die Briefe wurden immer weniger, bis schließlich gar kein Brief mehr ankam. Jeder lebte einfach sein eigenes Leben weiter. Doch Emellie dachte fast jeden Tag an ihren besten Freund, Christopher,
Am liebsten würde sie aufspringen und in die Stadt hinausschreien, dass sie endlich wieder da sei. Natürlich konnte sie das nun nicht tun, denn ihr Onkel würde dies nicht besonders komisch finden. Bei dem Gedanken an ihrer Mutter flaute die Freude wieder ab. Mit ihrer Mutter hatte sie damals viel unternommen. Zusammen waren sie am Strand, gingen einkaufen oder standen einfach nur am Fenster und schauten auf den See. Sie vermisste ihre Mutter sehr. Ihr Vater musste viel arbeiten und so war sie oft allein.
Am nächsten Morgen wurde sie von einem leisen Poltern geweckt. Sie hatte nicht tief geschlafen. Emellie richtete sich auf und sah ihrer Cousine dabei zu, wie sie möglichst leise versuchte sich umzuziehen. Doch leider war Natalie ein Wirbelwind, der eben nicht dazu gut war leise zu sein und so versagte sie kläglich und machte dadurch nur noch mehr Krach. Emellie kicherte leise, woraufhin Natalie zu ihr aufsah und den Kopf dabei etwas zu schnell nach oben nahm, wodurch sie erneut umfiel.
„Tut mir leid, Emellie. Ich wollte dich echt nicht wecken, aber ich muss jetzt zur Schule. Mutter hat gesagt ich soll dich noch schlafen lassen. Das wird ärger geben“, entschuldigte sich Natalie bei Emellie und richtete sich stöhnend wieder auf.
„Nicht so schlimm“, erwiderte Emellie fröhlich. „Aber hättest du was dagegen wenn ich mitkommen würde?“
Emellie wollte gerne mit, denn sie kannte viele dort auf der Schule und war bei den Lehrern sehr beliebt gewesen. Vielleicht würde sie ja auch alte Freunde wieder treffen. Oder vielleicht auch einen ganz bestimmten alten Freund. Sie sprang aus ihrem Bett und zog sich hastig um als Natalie sagte: „Aber sicher kannst du mit, wenn Mutter es erlaubt. Die werden sich freuen, wenn die dich wieder sehen.“
Als die beiden Cousinen die Treppe hinunter in den Flur gingen stand dort ihre Tante die erst Emellie verwundert ansah und dann, an Natalie gewand, sagte: „Ich hab dir doch gesagt du sollst sie noch schlafen lassen.“
„Tante, ich wollte fragen ob ich Natalie heute zu Schule begleiten könnte.“, sprang Emellie für Natalie ein. Ihre Tante sah sie darauf erst etwas verwirrt an und setzte dann ein lächeln auf. „Natürlich kannst du mit Natalie mitkommen, aber dann müsst ihr euch beeilen. Es ist schon spät.“ Emellie hatte gewusst, dass ihre Tante sie hätte mitgehen lassen und so strahlten die beiden Cousinen und gingen aus dem Haus, nachdem sie gegessen hatten und Natalie ihre Tasche gefunden hatte.
Auf dem Weg zur Schule sah Emellie viele alte Bekannte, aber leider niemanden ihrer alten Freunde. Nach einiger Zeit fragte sie ihrer Cousine: „Bist du eigentlich noch mit unseren alten Freunden in Kontakt?“ Damals gehörte Emellie mit Natalie zusammen zu einer kleinen Art von Clique und so war es für Emellie eine Selbstverständlichkeit gewesen, das Natalie mit den alten Freunden in Kontakt geblieben war.
Ihre Cousine überlegte einige Zeit und sagte dann: „Ja, fast. Also die Mädchen sind alle noch dabei und die Jungs auch, außer Christopher. Der hat sich, nachdem du weggezogen warst, sozusagen von uns losgeseilt. Wir sehen ihn nur noch in der Schule und manchmal in der Stadt." Emellie versuchte ihren enttäuschten Gesichtsausdruck zu verbergen.
Ein Trupp von Mädchen stieß auf sie, als sie aus einer kleinen Gasse kamen. Es sah so aus als würden sie alle auf einmal reden, aber sich doch noch gegenseitig zuhören. Emellie erkannte sie erst gar nicht, aber bei genaueren Betrachten erkannte sie ihre alten Freunde. Als diese Emellie erblickte kreischten sie alle gemeinsam laut auf und umarmten sie. Die Umarmte selbst war sehr überrascht, freute sich aber sehr und lachte.
Auf dem weiteren Weg wurde sie förmlich ausgequetscht und musste alles erzählen. Wie es ihr in den Jahren ergangen war, wie es bei ihr war und was sie für neue Freunde hatte…
Ihr wurde auch viel erzählt und so verging der Weg zur Schule schneller, als sie sich es vorgestellt hatte.
In der Schule riss der Faden von Zurufen, Händeschütteln und Umarmungen nicht ab. Einige schauten sie nur verwundert an. Leider hatte Emellie noch nicht denjenigen erblickt, den sie so unbedingt hatte wieder sehen wollen.
Doch dann fragte einer ihrer alten Freunde: „Hast du eigentlich Christopher schon mal wieder gesehen. Ich wette mit dir, dass er sich riesig freuen wird.“ Ohne vorher reagieren zu können wurde Emellie durch die halbe Schule geschleift, bis ihre Freunde auf einmal anhielten. Sie steckten die Köpfe zusammen und Emellie hörte verwirrt zu: „Du gehst hin. Ich spreche den nicht an.“, sagte eine. „Nein, du gehst hin. Es war deine Idee.“
„Ich kann auch hingehen. Schließlich dreht es sich doch um mich.“, sagte Emellie, nachdem sie es nicht mehr aushielt.
„OK. Also Christopher ist der Junge da in Grün. Siehst du ihn?“, sagte Natalie und zeigte mit dem Finger auf einen Jungen.
Emellie ’s Herz schien einen Luftsprung zu machen, als sie ihren alten Freund wieder erkannte. Ihren alten allerbesten Freund. Langsam und etwas ängstlich Schritt sie auf ihn zu. Er stand mit einigen Jungen an der Wand und unterhielt sich mit ihnen. ‚Was ist wenn er mich überhaupt nicht mehr wieder sehen will?’, fragte sich Emellie auf einmal, doch nun war es schon zu spät. Christopher hatte sie bereits gesehen und kam mit großen Augen auf sie zu.
„Emellie?“, fragte er verwirrt und sah sie an. Emellie nickte nur und sagte: „Schön ich wieder zu sehen.“
„Aber… was machst du den hier?“, stotterte Christopher
„Ich habe Ferien und dachte, ich komme euch mal besuchen.“
Christopher seufzte siechlicht enttäuscht. „Schade. Ich dachte du wärst wieder zurückgezogen. Wie lange bleibst du?“
„Ich bleibe für zwei Wochen. Aber ich habe das Haus meiner Mutter geerbt.“, sagte Emellie und ein großes Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit
„Was soll das den heißen?“
„Wenn ich volljährig bin“, sagte Emellie „werde ich hierhin ziehen.“
Das nachkommende Gefühl war nicht in Worte zu fassen. Christopher stieß einen Freudenschrei aus und umarte Emellie stürmisch. Beide sahen sich ins Gesicht und es war beinahe so, als ob die letzen drei Jahre überhaupt nicht existiert hätten.