Ewiger Schlaf

One-Shot

„Guten Tag! Kaufst Du heute wieder Blumen für deine Freundin?“
„Ja“, sagte er lächelnd, „ich möchte gerne einen Strauß Immortellen.“
Die Blumenverkäuferin verpackte die rot-gelben Immortellen in eine durchsichtige Folie und wickelte passend zu den Blumen ein rotes Band um die Stiele.
„Bitte sehr. Deine Freundin wird sich sicher über die wunderschönen Immortellen freuen.“
„Ja, das glaube ich auch. Vielen Dank.“
Er übergab ihr das Geld und verabschiedete sich freundlich. Als er auf die Straße trat, blickte er auf seine Armbanduhr. Erleichtert stellte er fest, dass ihm noch zehn Minuten blieben, da er sich mit seiner Freundin um vierzehn Uhr verabredet hatte. Bis zu ihrem bekannten Treffpunkt dauerte es nicht mehr lange. Ruhig passierte er die Straße und entdeckte einige Liebespaare, deren Gesichter vor Glück strahlten. Bald würde es ihm und seiner Freundin genauso gehen. Mit diesem Gedanken überquerte er die Straßenkreuzung und sogleich erstreckte sich vor ihm das große weiße Gebäude, welches ihm schon mehr als vertraut war. Er öffnete die eine Hälfte der Doppeltür, um einzutreten, als ihm der bekannte Geruch in die Nase stieg. Die vielen Menschen dort, die er fast jeden Tag sah, eilten von einem Ort zum anderen. Einige davon waren weiß gekleidet, die anderen wiederum nicht. Ohne ihnen besondere Beachtung zu schenken, ging er zum Fahrstuhl und fuhr in die zweite Etage. Nun waren es nur noch wenige Schritte bis zu seiner Freundin. Auf dem Weg dorthin begrüßten ihn die in weiß gekleideten Menschen, da sie ihn schon sehr gut kannten. Plötzlich blieb er vor der Tür am Ende des Flurs stehen. Hinter dieser Tür wartete sie, dachte er. Schnell rückte er die Immortellen zurecht und atmete tief ein, bevor er langsam die Tür öffnete und in den Raum trat.
„Und wie geht es dir heute? Ich habe dir wunderschöne Immortellen mitgebracht“, sagte er, während er den Strauß ablegte. Dann sprach er weiter: „Ich mache die Gardinen mal auf, sonst kannst du die Sonne nicht genießen.“
Nachdem er ans Fenster trat und die Gardinen zur Seite geschoben hatte, setzte er sich auf den Stuhl neben dem Bett, auf dem seine Freundin lag. Er strich eine durch das Sonnenlicht gold wirkende Haarsträhne aus ihrem Gesicht und nahm ihre kalte Hand. Ihr Gesicht war blass, doch in seinen Erinnerungen gab es nur ihr warmes Lächeln und ihre kristallblauen Augen, die er vor zwei Jahren zuletzt gesehen hatte.
„Weißt du, warum ich ausgerechnet Immortellen gekauft habe?“, fragte er – ohne eine Antwort zu erhalten. „Immortellen stehen für…“ Er ließ seinen Satz unbeendet, als er plötzlich das Piepen des Herzmessgerätes hörte. Er blickte auf die Anzeige und Panik ergriff ihn. Die Zahl sank mit rasender Geschwindigkeit. Schnell drückte er auf den roten Knopf an der Wand, um den Arzt zu rufen. Während ihr Herz immer langsamer schlug, drohte sein Herz jeden Augenblick zu explodieren. Er bemerkte gar nicht, dass der Arzt schon im Krankenzimmer war und die Krankenschwester ihn aus dem Zimmer schob. Das letzte, was er noch sah, bevor die Tür zuging, war das Aufbäumen des Körpers seiner Freundin, welches von dem Defibrillator verursacht wurde. Die Minuten auf dem Flur waren für ihn wie Stunden. Nervös ging er auf und ab und wartete jeden Moment darauf, dass der Arzt herauskam und ihm sagte, dass alles in Ordnung sei. Sein Körper war schweißbedeckt und seine Hände krampften sich vor Angst zusammen. Plötzlich wurde die Tür geöffnet.
„W-wie geht es meiner Freundin?“, brachte er stotternd über die Lippen.
Der Arzt blickte schweigend auf den Boden und es herrschte einen Moment Stille. Die Atmosphäre war bedrückend. Immer noch schweißgebadet wartete er ungeduldig auf eine Antwort.
„Es tut mir leid. Wir haben unser Bestes gegeben, aber das Herz der Patientin ist stehen geblieben“, sagte der Arzt leise, während er seine Hand auf die Schulter des Jungen legte und ihn danach auf dem Flur alleine ließ.
Er verharrte noch Minuten auf dem Flur, bevor er in das Krankenzimmer trat. Mit langsamen und schwachen Schritten bewegte er sich auf das Bett zu. Seine Hand strich über das weiße Tuch, welches den leblosen Körper seiner Freundin bedeckte. Wie in Trance befreite er ihr blasses Gesicht von dem weißen Stoff und berührte es mit der anderen Hand. Er spürte Kälte und Einsamkeit. Alles um ihn herum war still. Der Himmel verdunkelte sich, weil die Wolken das Sonnenlicht verdeckten. Draußen fiel Regen vom Himmel; drinnen flossen Tränen. Sogar der Himmel weinte. Er sank zu Boden. Sein Herz zog sich vor Schmerzen zusammen. Plötzlich blickte er auf. Erst jetzt bemerkte er die Immortellen, die auf dem Boden lagen. Sie mussten vom Tisch gefallen sein, dachte er. Er nahm eine Immortelle in die Hand und stützte sich an der Bettkante auf. Mit einem schwachen Lächeln blickte er zu ihr.
„Ich habe dir noch gar nicht gesagt, warum ich ausgerechnet Immortellen gekauft habe“, sagte er leise und legte die Blume auf das weiße Kissen neben ihrem Kopf. „Immortellen stehen für ewige Liebe...“
-- ENDE --
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