Nachtläufer
Kapitel 1
Der Sommer war vorüber und der Herbst hatte Einzug gehalten in die dünn besiedelten, nördlichen Küstenregionen von Temoney.
Beim Anblick der kahlen, stellenweise noch braun und orange gesprenkelten Baumkronen, kam es Peyete gelegentlich so vor, als wären die Äste erst gestern noch grün und voll gewesen, erfüllt von der gleichen Euphorie, wie die Menschen, die Jahr für Jahr den Sommer und die damit verbundene Erntezeit herbeisehnten. Auch für Peyete war der Sommer eine gute Zeit, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Er erinnerte sich mit Freuden zurück an die kurzen Nächte, die ihm so viel länger erschienen waren, durch die Feste und Feierlichkeiten. Es hatte nicht oft-, aber für die Felder ausreichend geregnet, und die Wärme der Sonne hatte sich auch noch lange nach den Abenddämmerungen in der Luft gehalten.
Wärme, Spaß, leichte Mädchen und Alkohol… All das war nun vorüber und würde erst mit dem nächsten Sommer nach Havenar zurückkehren.
Peyetes haselnussbraune Augen wanderten am Kai entlang, über die hölzernen Docks hinweg und weiter zu den dahinter liegenden Schiffen, die im Hafen fest vertaut lagen. Er sah alles durch die Tür des Schuppens, in dem er gegen Ende der letzten Nacht einen Schlafplatz gefunden hatte. Den ganzen Tag über hatte er geschlafen, war gerade erst aufgewacht und war erstaunt noch so viele Menschen am Kai zu sehen, die ihren alltäglichen Beschäftigungen nachgingen und nie stillzustehen schienen. Ein Fischer stand breitbeinig auf dem Deck seines Zweimasters und entwirrte die Netze, die er tagsüber benutzt hatte, während ein Matrose die gefangenen Fische in Kisten packte und mit den Möwen zu kämpfen hatte, die wie Aasgeier über der Ausbeute schwirrten. Eine Frau sammelte am Ufer Muscheln und ein paar Jungen standen mit selbstgefertigten Angeln an einem Steg und versuchten vergeblich im seichten Wasser einen lohnenswerten Fang zu machen. Der Wind hatte im Laufe der letzten Stunde zugenommen, und das schwache Mondlicht des erst kürzlich angebrochenen Abends spiegelte sich zuckend auf unendlich vielen kleinen Wellen, die auf und ab wogen und eine wunderschöne Hinter-grundkulisse zum Hafen bildeten.
Peyete setzte sich auf seinem Schlafplatz halb auf und stützte seinen Kopf mit dem Arm ab. In dem Lagerschuppen, der an einer Wand Platz für vier stromlinienförmige Kanus mit Paddeln bot, war auch eine breite Bank, die als Bett hatte herhalten müssen. Sein Mantel, der in schwerem, schwarzen Stoff normalerweise bis zu seinen Knien hing, lag noch zu einer groben Matte zusammengerollt auf dem Holz und Peyete strich rasch über das Gewebe, um ein paar Splitter und Fasern zu entfernen, die sich von der morschen Unterlage gelöst hatten. Vorsichtig faltete er seinen Mantel wieder auf und schlang ihn sich um seine schlaksige Figur. In einer Tasche fühlte er seinen Geldbeutel, in einer anderen seinen Glücksbringer: Ein walnussgroßer Quarzstein, geschliffen wie das fein geschnittene Gesicht einer Elfe. Vor langer Zeit hatte er den Stein von einem der Märchengeschöpfe jenseits des Everengebirges geschenkt bekommen und bis heute trug er ihn bei sich.
Aber heute hatte ihm der Stein kein Glück gebracht.
Er verzog sauer seine Miene, als er feststellen musste, dass der Rucksack, den er neben der Bank abgesetzt hatte, verschwunden war. Irgendein Halunke musste ihn gestohlen haben. Die Hafenstadt Havenar war der einzige halbwegs große Ort im Umkreis von 100 Meilen, dementsprechend war hier auch die Kriminalität größer als im Umland und Peyete sollte eigentlich schon glücklich darüber sein, dass man ihm nicht auch sein Geld zu entwenden versucht hatte, denn die meisten Banditen hier gaben sich nicht mit einer Flasche Wasser, einem Päckchen getrockneter Apfelringe und einem Laib Brot zufrieden, zumal er ja geschlafen hatte. Es hätte deutlich schlimmer kommen können, doch daran wollte er jetzt nicht denken. Er stand auf und schlenderte mies gelaunt der Schuppentür entgegen, dann glitt er wie ein Geist in die Nacht hinaus und war mit seinem schwarzen Gewand kaum von der dunklen Mauer und den Schatten zu unterscheiden. Seine Augen leuchteten kurz wie die Flammen zweier Kerzen, dann verglomm ihr Glühen, denn Peyete hatte genug gesehen.
Jeden späten Arbeiter, jeden streunenden Hund und jedes sonstige Leben am Kai hatte er während diesem kurzen Augenblick wahrgenommen, und er wusste, dass irgendwo am hinteren Teil eines Stegs ein Mann auch ihn entdeckt hatte, aber mit einer einzigen Handbewegung lenkte er die Dunkelheit der Nacht um seine Gestalt. Wie eine Windhose umfuhr ihn die Finsternis und spätestens jetzt war er für niemanden mehr auszumachen.
Er atmete tief ein, lief ein paar Schritte, bis er durch ein Loch in der Mauer schlüpfen konnte, dann ließ er die Dunkelheit davongleiten und ging ohne ihren Schutz weiter. Seine Fähigkeit alles Licht aus seiner Umgebung praktisch aufzusaugen war etwas, das ihm sein Großvater in jahrelanger geistiger Arbeit beigebracht hatte. In ganz Temoney war er seines Wissens der einzige, der diese uralte Fertigkeit der alten Elfendruiden noch besaß. Und er beherrschte sie wahrlich zur Perfektion.
Havenar bestand zum größten Teil aus ein- bis dreistöckigen Gebäuden, die grau und trist, und nur durch enge, verwinkelte Gassen miteinander verbunden waren. Wenige der Straßen waren gepflastert und überall lagen Pferdeäpfel, platt gedrückt durch die unzähligen Wagenräder und Pferdehufe, die täglich die Wege passierten. Vereinzelt schimmerten Laternen, die an eisernen Haken unter den Vordächern bestimmter Häuser im Wind baumelten und mehr Schatten erzeugten, als sie Licht schufen.
Ein Mann kam aus einer Kneipe gewankt und für einen Moment, bevor sich die Türe zur Taverne wieder schloss, sah Peyete mehrere grölende Kerle an einem langen Tisch. Bierhumpen standen vor ihnen oder lagen neben so manchem Gast am Boden, und Peyete fragte sich, in was für eine Gegend ihn die Lady geschickt hatte. Überall an den Ecken lungerte Gesindel, und Betrunkene lagen am Straßenrand, wo geschickte Finger sich über das geringe Geld hermachten, das noch nicht versoffen worden war. Die Freudenhäuser waren gut gefüllt und einige Male wurde Peyete von Huren angesprochen, die er kopfschüttelnd weiterschickte. Er war nicht zum Spaß quer durch Temoney nach Havenar gewandert und die Nacht bot ihm kaum genug Zeit, den ersten Teil seiner Mission zu erfüllen.
Der Wind blies durch seinen Mantel und er fröstelte, also lief er schneller, bis er an ein Lokal kam, das ihm zumindest ein klein wenig besser gefiel, als die, an denen er bislang vorbeigekommen war. »Merlin’s Inn« stand auf einem verwitterten Holzschild und unter dem Namen war ein Bild von einem spitzen Hut und einem Bierkrug.
Im Inneren war es düster, aber warm, und es saßen nur wenige Gäste an einer langen Theke. – Vier um genau zu sein. Sie sahen aus, wie Männer vom westlichen Divengrad, vielleicht Jäger oder Waldläufer, und alle richteten sie ihre Blicke auf Peyete, als er eintrat, und die Tür mit einem lauten Quietschen sein Kommen verriet.
„N’Abend.“, murmelte er und wenigsten einer nickte zurück. Die anderen bedachten ihn kurz mit musternden, abschätzenden Blicken, dann wandten sie sich wieder ihren Getränken zu und Peyete erkannte, dass alle vier in ein Kartenspiel vertieft waren. Etliche Kupfermünzen lagen auf der Thekenfläche und der Wirt führte eine Gewinnerliste auf einer Schiefertafel. Peyete hatte den Hausherrn im ersten Moment gar nicht bemerkt, denn nur auf dem Tisch der Spieler standen ein paar Kerzen, aber dann trat dieser von seiner Liste weg und nahm ein Tischtuch von einem Haken an der Wand.
„Willkommen.“, sagte er mit tiefer, rauchiger Stimme. „Was kann ich für Euch tun?“
Peyete streifte seinen Mantel ab und legte ihn über eine Stuhllehne. „Ich hätte gerne etwas zu essen.“, antwortete er.
Der Wirt nickte langsam, bewegte sich aber nicht vom Fleck. Erst als Peyete seine Geldbörse hervorholte und mit dem Inhalt klimperte, zeichnete sich ein Lächeln auf den bärtigen Gesichtszügen des Mannes ab.
„Ihr müsst Euch keine Sorgen um Euren Verdienst machen.“, versicherte Peyete. „Ich habe genügend Geld bei mir. Sehe ich tatsächlich aus, wie irgendein Betrüger von der Straße?“
„Entschuldigt, Herr. Natürlich nicht. Es ist nur so, dass… Havenar ist voller Halunken und man muss hier immer auf der Hut sein. Ihr seid wohl nicht von hier…“
„Nein.“
Der Wirt schien noch einen Moment lang auf eine ausführlichere Antwort zu warten, aber Peyete wollte kein längeres Gespräch mit ihm beginnen. Er ließ den Gastwirt einfach stehen und setzte sich an einen Tisch im hintersten, dunkelsten Eck des Wirtshauses, wo seine Gestalt vor den Blicken der anderen geschützt war.
„Ich… ich bringe Euch eine kalte Platte, etwas Brot und einen Humpen Bier, außerdem eine Kerze, damit Ihr nicht im Dunkeln speisen müsst.“, meinte der Wirt schließlich stockend, und wollte sich bereits umdrehen, aber Peyete hielt ihn mit einer raschen Geste zurück.
„Nein.“, widersprach er leise. „Bringt mir Wasser statt Bier, und lasst Eure Kerze, wo sie ist. Ich brauche kein Licht.“
Die Miene des Wirts regte sich kein bisschen, aber Peyete wusste, dass es hinter seiner Stirn arbeitete. Wie viele Menschen mochte es wohl geben, die gerne im Dunkeln aßen? Langsam, mit vorsichtigen, bedächtigen Schritten folgte der Mann Peyete in den finsteren Teil des Lokals.
Einen Meter vor dem Tisch blieb er stehen. Seine rechte Hand hatte er zusammen mit dem Abtrocken-tuch unter eine weiße, leicht fleckige Schürze, die er um seine untersetzte Hüfte gebunden trug, ge-steckt. Mit seiner linken Hand fuhr er sich über seinen Bart und beobachtete nachdenklich den seltsa-men Gast vor ihm.
Peyete erwiderte seinen Blick gelassen und der Wirt beugte sich etwas vor.
„Ihr seid einer von ihnen, nicht?“, flüsterte er