Kapitel 3
Der Engel der Revolution
Sie wird mich nie wieder beschützen
„Kommandant?“
Oscar schaute von ihren Unterlagen auf.
„Ja, was gibt es?“
Alain war in ihr Dienstzimmer der Kaserne getreten.
„Kommandant, habt ihr schon gehört, der König hat neuerlich ein auswärtiges flandrisches Regiment nach Versailles beordert, dessen Offiziere bei einem königlichen Bankett am gestrigen 1. Oktober die blau-weiß-rote Kokarde unter ihren Stiefeln zertraten.“
„Was?“
Vor Schreck ließ Oscar die Feder fallen.
‚Eure Majestät, wie könnt ihr nur so mit den Gefühlen des Volkes umgehen?’
„Woher weißt du das, Alain?“
„Bernard erzählte es mir soeben.“
Besorgt musterte er seinen Kommandanten.
‚Sie scheint noch viel für die königliche Familie zu empfinden. Ich glaube, sie war ehrlich erschrocken über die Tat des Königs. Und trotzdem kämpft sie mit solcher Hingabe für das Volk. Wie muss sie wohl unter der Situation leiden?“’
Ludwig XVI., dessen Unterschrift gebraucht wurde, damit die Dekrete der Nationalversammlung in Kraft treten konnten, machte allerlei juristische Vorbehalte geltend und versuchte als Gegenleistung für seine Zustimmung eine möglichst starke Veto-Position in der künftigen Verfassung herauszuschlagen. Der Vorgang des flandrischen Regiments wurde in Paris bekannt und heizte eine bei anhaltend hohem Brotpreis und Versorgungsmängeln ohnehin aufgeladene Stimmung weiter an.
Alain legte Oscar eine Zeitung auf den Tisch.
„Jean Paul Maurat, ihr wisst schon, der im September 1789 seine Zeitung „Der Volksfreund“ gegründet hat, hält mit anderen gemeinsam die Pariser auf dem Laufenden.“
Oscar schob sie beiseite.
„Ja, aber mit seinen Warnhinweisen auf die „Verschwörung der Aristokraten“ gegen das Volk behält er die Bürger in einer unguten revolutionären Spannung.“
Seufzend stand sie auf und ging zur Tür.
„Komm, Alain, wir haben einen Einsatz.“
Als drei Tage später Truppen der Nationalgarde durch Paris ritten und nach dem Rechten sahen, kam Oscars Kompanie an Bernards und Rosalies Haus vorbei. Rosalie sah sie durch das Fenster und kam herausgestürmt.
„Oscar, wartet!“
Diese zügelte ihren Schimmel.
„Rosalie! Wir haben uns ja lang nicht mehr gesehen.“
Oscars Freude machte Rosalie glücklich.
‚Sie ist noch viel schöner, als früher beim Garderegiment. Sie kämpft mit Leib und Seele für ihre Überzeugung. Oh, wie hübsch sie doch in dieser Uniform aussieht.’
„Oscar, habt ihr schon gehört, die Frauen von Paris versammeln sich vor dem Rathaus. Es sollen schon hunderte sein. Sie wollen nach Paris ziehen und ihre Forderungen nach Geschlechtlicher Gleichheit und Brot und anderen Lebensmitteln vor Ort Nachdruck zu verleihen.“
„Wie, ihre Majestät, hoffentlich tun sie ihr nichts an…“
Oscar wendete ihr Pferd.
„Männer, wir werden nach Versailles reiten und schauen, dass alles ruhig bleibt. Es wird nicht geschossen. Ich möchte nicht, dass irgendjemand verletzt wird. Auch die königliche Familie nicht.“
In dem Moment kamen Bernard und André herbei.
„Was höre ich? Der Kommandant der Nationalgarde eilt der Königin zu Hilfe?“
Verzweifelt schaute Oscar zu Bernard.
„Du weißt, dass ich ihr trotz allem immer loyal gegenüber war.“
Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
„Ich möchte nur verhindern, dass etwas Schlimmes passiert.“
Bernard wandte sich zu André.
„So werden wir euch ebenfalls begleiten.“
André nickte.
Unter dem Geläut der Sturmglocken verließen die Frauen Paris; später folgten ihnen 15 000 Nationalgardisten und zwei Vertreter der Stadtverwaltung mit dem Auftrag, den König nach Paris zu bringen.
Ludwig XVI. empfing die Frauen vom Balkon.
„Liebe Bürgerinnen und Bürger von Paris! Ich, der König von Frankreich und meine Frau Marie-Antoinette versprechen euch Lebensmittellieferungen in den folgenden Tagen. Bitte habt Geduld! Ich werde alles veranlassen!“
Plötzlich kam ein Leibgardist zum König und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dann hielt er ihm ein Schriftstück hin, welches der König durchlas.
„Als Zeichen meiner Zusage und als Beweis meiner Glaubwürdigkeit unterschreibe ich die Dekrete der Nationalversammlung. Hier vor den Augen des Volkes und meiner Leibwache.“
Oscar stand abseits der Menge und beobachtete Marie-Antoinette.
„Schau nur André. Obwohl sie beim Volk verloren hat und nur noch um ihr nacktes Überleben kämpft, strahlt sie eine Würde und Anmut aus, die mich immer noch in ihren Bann zieht.“
André musste ihr zustimmen.
Die Königin hatte nicht von ihrer Schönheit verloren.
Die Lage schien sich zu entspannen.
Oscar trommelte ihre Soldaten zusammen.
„Also, ich denke, hier bleibt es ruhig. Die Kompanien zwei und drei können nach Paris zurückkehren. Allerdings möchte, dass Kompanie eins unter meiner Führung noch hier verweilt, bis die Frauen Versailles verlassen.“
Girodelle übernahm das Kommando für die Zurückreitenden Kompanien.
„Wir treffen uns morgen um zwölf auf dem Exerzierplatz der Kaserne.“
Die Männer der zwei anderen Kompanien ritten los, während Oscar den übrigen Soldaten gebot abzusteigen.
„Macht es euch bequem. Behaltet die Zügel in der Hand, die Frauen im Auge und sucht euch ein Plätzchen in der Sonne.“
Überrascht von der Großzügigkeit im Dienst, zögerten die Männer.
Doch ihr Kommandant machte eben dasselbe und setzte sich in die Nähe eines Tores.
Also taten es ihr die Soldaten nach.
„Das wird hier hoffentlich nicht mehr lange dauern und wir können ebenfalls zurück.“
Alain lehnte sich neben Oscar an einen Baum.
Diese nickte und ließ die Sonne auf ihr Gesicht scheinen.
Doch anders als erwartet blieben die Frauen über Nacht, bewachten das Schloss und setzten auch der Nationalversammlung mit ihren Brotforderungen und Zwischenrufen zu.
Erschöpft schlief Oscar schließlich ein und erwachte erst von einem Tumult, der entstanden war.
„Kommandant! Die Frauen…! Sie dringen ins Schloss vor!“
Sofort war Oscar hellwach.
„Mist, ich hab tief und fest geschlafen und nichts mitbekommen.“
Ärgerlich wandte sie sich zu Alain.
„Warum hast du mich nicht früher geweckt?“
Dieser hob entschuldigend die Hände.
„Ihr wart so erschöpft gestern und ich habe mir Sorgen gemacht, dass ihr nach eurer schweren Verletzung noch mehr Ruhe bräuchtet, als wir Anderen.“
Er zeigte auf die Soldaten.
„Wir haben Wache gehalten, bis die Frauen in diesem Augenblick versuchen das Schloss zu stürmen.“
Oscar lenkte ein.
„Du hattest Recht. Ich bin noch nicht vollständig Einsatzfähig. Ich danke dir für deine Zuvorkommendheit und deine Rücksicht mir gegenüber.“
Oscar blickte zum Schloss.
„Uns bleibt nichts weiter, als zu warten, bis die Menge wieder herauskommt.“
Alain war überrascht.
„Wollt ihr denn nicht eingreifen und die Frauen daran hindern ins Schloss zu gelangen?“
Oscar schüttelte den Kopf.
„Nein, ich bin nicht mehr im Dienst ihrer Majestät. Sie hat ihre eigene Leibgarde, die sie beschützen. Ich kämpfe auf der Seite des Volkes. Und solange alles friedlich bleibt, sehe ich keine Veranlassung einzugreifen.“
Sie wandte sich an die Soldaten.
„Allerdings möchte ich, dass ihr durch die Menge reitet und präsent seid. Es wird nicht geschossen. Passt einfach auf, dass alles ruhig bleibt.“
„Ihre Majestät! Die Frauen dringen ins Schloss ein!“
Die Hofdamen von Marie-Antoinette waren in Aufruhr.
„Bitte ihr müsst fliehen!“
Die Königin stand am Fenster und schaute hinaus.
„Nein, ich bleibe. Ich werde nicht fliehen. Meine Mutter sagte mit einmal, eine Königin flieht nicht vor ihrem Volk.“
„Aber Majestät…!“
Die Hofdamen flohen. Auch Madame de Jarjaye war unter ihnen.
Doch Marie-Antoinette blieb.
‚Truppen der Nationalgarde… Ob Oscar unter ihnen ist? Sie soll ja der neue Kommandant sein.’
Traurig schloss sie die Augen.
Erinnerungen an wunderschöne Zeiten mit dem ehemaligen Kommandanten des königlichen Garderegiments gingen ihr durch den Kopf.
‚Ob sie kommt und mich beschützt?’
Tränen liefen ihr über die Wangen.
‚Nein, Sie kämpft nun gegen mich.’
„Oscar wird mich nie wieder beschützen.“
Weinend sank sie in die Knie.
Die Frauen drangen ins Schloss von Versailles und erzwangen gemeinsam mit Stadtbeauftragten und Nationalgardisten das Zugeständnis des Königs, nach Paris umzuziehen. Die Nationalversammlung schloss sich an. „Am frühen Nachmittag machte sich der endlose Zug lärmend auf den Weg nach Paris. An der Spitze marschierten Einheiten der Nationalgarde; auf jedem Bajonett steckte ein Brotlaib. Dann folgten die Frauen, mit Piken und Flinten bewaffnet oder Pappelzweige schwingend; sie begleiteten die Getreidewagen und die Kanonen. Hinter den entwaffneten königlichen Soldaten mit der Trikoloren-Kokarde der Leibgarde, dem Flandrischen Regiment und der Schweizergarde rollte langsam wie ein Leichenwagen die Karosse mit der königlichen Familie. Daran schlossen sich die Wagen der Abgeordneten. Den Schluss bildete die riesige Volksmenge mit dem Hauptteil der Nationalgarde. Als sei die Symbolkraft dieses Zuges noch nicht einleuchtend genug, riefen die Leute: ‚Wir bringen den Bäcker, die Bäckersfrau und den Bäckerjungen!’ Monarch und Nationalversammlung würden fortan den Pressionen des Volkes in der Kapitale Paris ausgesetzt sein.