Zerbrochen
Schnee
Langsam fahre ich mit meiner Hand durch den Schnee. Er ist kalt, fast so kalt wie ich mich fühle. Meine Kleidung ist bereits durchnässt, doch das stört mich nicht.
Mein Atem steigt in kleinen Wölkchen aus meinem leicht geöffnetem Mund. Verträumt sehe ich ihm nach. Ich zittere.
Wie lange liege ich hier schon im Schnee? Eine Minute? Zwei Tage? Die Zeit hatte schon längst jegliche Bedeutung für mich verloren. Kurz denke ich darüber nach, ob ich nicht doch besser aufstehen und zurückgehen solle. Doch sogleich verwerfe ich den Gedanken wieder. Warum sollte ich? Es wartete doch eh keiner auf mich?
Ein lautloses Seufzen entgleitet meinen mittlerweile blauen Lippen. Früher hättest du auf mich gewartet. Früher hätte ich einen Grund gehabt, nicht einfach hier liegen zu bleiben. Doch das ist schon lange her. Ich mache dir keine Vorwürfe dafür, dass du dich anders entschieden hast. Ich glaube, es war sogar das Anständigste, dass du je getan hast. Diese ewige Ungewissheit, weist du überhaupt, wie sie mich innerlich zerrissen hat? Jeden Tag ein bisschen mehr?
Ich weis es nicht, denn ich habe dich nie danach gefragt. Jetzt kommt mir wieder der Tag in den Sinn, an dem du mir deine Entscheidung mitgeteilt hast.
,Kagome’, hast du gesagt und ,Ich muss mit dir reden.’ Damals hast du mich so ernst angeschaut, dass ich schon Angst hatte. Wovor, dass weis ich bis heute nicht, aber trotz dieser Angst bin ich damals mitgekommen. Ich habe dich geliebt. Was hätte ich denn sonst tun sollen?
Dann bist du mit mir zum heiligen Baum gegangen und hast mich dabei immer wieder traurig angeschaut. Als wir dann an dem Ort angekommen waren, an dem wir uns das erste Mal getroffen haben, da hast du mich umarmt. Ganz fest in deine Arme geschlossen hast du mich und gesagt, dass es dir leid täte.
,Was tut dir leid?’, habe ich dich daraufhin unsicher gefragt. Dann hast du mich etwas von dir weggedrückt und mich wieder so ernst angeschaut. So hatte ich dich bis zu diesem Augenblick noch nie gesehen.
,Ich habe mich für Kikyo entschieden.’, hast du damals geantwortet. Dieser eine Satz, vor dem ich all die Jahre zuvor Angst gehabt hatte, in diesem Augenblick schien er bedeutungslos für mich geworden zu sein. Ich glaube, in diesem Moment ist irgendetwas in mir zersprungen. Ob es mein Herz gewesen ist? Meine Hoffnung? Meine Träume? Ich weis es nicht. Das einzige, was ich weis, ist, dass alles auf einmal so leer und bedeutungslos schien. Und in der Mitte dieser Leere standest du, nur du allein. Wie gesagt, ich gebe dir dennoch keine Schuld dafür. Nein, wenn ich ehrlich bin, dann bin ich dir sogar dankbar. Dankbar, für diesen glatten Bruch, denn sonst wäre ich schon an diesem Tag vollkommen geborsten. Stattdessen habe ich es dann einfach akzeptiert. Ich wollte einfach nur weiter in deiner Nähe sein. Mir erschien es an diesem Tag unwichtig, ob du meine Gefühle erwidert hast oder nicht. Hauptsache, du warst bei mir.
Ich erinnere mich noch genau an deinen verwunderten Blick, als ich dir gesagt habe, dass ich bleiben wolle. Wahrscheinlich hast du gedacht, dass ich mein Wort nicht lange würde halten können, doch ich habe es getan. Solange, bis selbst das letzte Gefühl in meiner Brust erloschen war und ich in Dunkelheit und Kälte stürzte.
Wie lange ist dieser Tag jetzt her? Ich weis es nicht. Ich weis so vieles nicht, wenn ich jetzt genauer darüber nachdenke. Was weis ich überhaupt? Vielleicht sollte man die Frage mal so stellen.
Sogleich kommt mir deine Umarmung in den Sinn. Ich weis, was für eine unglaubliche Wärme mich damals durchflutet hat, damals, in deinen Armen. Wie sehr sehen ich mich danach, diese Wärme wieder zu spüren. Ich bin süchtig danach.
Doch egal was ich je getan habe, diese Wärme kam nicht zurück. Und genau deswegen bin ich jetzt hier. Ich suche diese Wärme. Ich suche meine Gefühle. Ich suche den Menschen, der ich einmal war.
Der Boden unter mir ist kalt, selbst jetzt dringt seine Kälte noch durch meine Kleidung tief in mich hinein. Jemand hat mir einst erzählt, dass einem Warm wird, bevor man erfriert. Man soll alle Sorgen vergessen können…. Doch, wo bleibt die Wärme jetzt? Mein inneres verzehrt sich vor Sehnsucht nach ihr, doch sie kommt nicht. Sie will nicht kommen.
Eine einzelne Schneeflocke fällt auf mein Gesicht, dann eine weitere. Und schon bald fallen unzählige dieser kleinen Eiskristalle vom Himmel herunter.
Fasziniert sehe ich ihnen zu. ,Als würde der Himmel weinen….’, kommt es mir in den Sinn. Doch das ist natürlich Unsinn. Der Himmel weint nicht. Er kann es gar nicht. Genauso wie ich. Auch ich kann nicht weinen. Nicht mehr. Das Gefühl, dass ich dazu immer brauchte, fehlt mir jetzt. Genauso wie alle anderen Gefühlsregungen. Innerlich bin ich schon längst gestorben.
Langsam verschwimmt meine Sicht. Sterbe ich jetzt? Doch wo bleibt dann die Wärme? Wo bleibt der Frieden in mir? Kommt er nicht? Werde ich denn niemals erlöst werden?
Es dauert einige Zeit, bis ich merke, dass es nicht meine Augen sind, die trüber werden, sondern meine Umgebung. Mittlerweile bilden die Schneeflocken eine undurchdringliche Wand vor mir. Selbst wenn ich mich entschieden hätte, jetzt zu den anderen zurück zu gehen, so hätte ich es wahrscheinlich nicht gekonnt. Irgendwie erleichtert mich das.
Auf einmal sehe ich eine Gestalt neben mir auftauchen. Zuerst kann ich nur verschwommene Umrisse erkennen, die aber langsam immer klarer werden. Das lange Haar der Person weht im leichten Wind, der zusammen mit dem Schnee aufgekommen war. Dieses Haar… es ist weiß…. Bist du etwa gekommen? Hast du mich etwa gesucht? Ich will es kaum glauben. Langsam stütze ich mich mit den Händen am Boden ab, richte langsam meinen Oberkörper auf. Seltsam, warum gehorcht mir mein Körper überhaupt noch?
Jetzt kommt die Person näher. Als nächstes kann ich etwas langes, weißes über der rechten Schulter dieser erkennen. Nein, du kommst da nicht. Enttäuscht seufze ich auf. Es ist nur dein Halbbruder, der da kommt. Ich habe umsonst gehofft. Langsam will ich mich wieder in den Schnee zurück gleiten lassen, doch da durchbricht plötzlich eine tiefe Männerstimme die Stille.
“Ihr Menschen seit so schwach.”, sagt sie. Ich halte in der Bewegung inne und schaffe es sogar, empört zu deinem Halbbruder aufzuschauen. Ich will schon zu einer wütenden Antwort ansetzen, doch da verlässt mich dieses Gefühl wieder, das mich hatte innehalten lassen. Erneut bin ich leer. Erneut stürze ich in die Tiefe. Wann wird es endlich vorbei sein? Ich sehne mich nach diesem Tag. Ich wünsche ihn so sehr herbei.
Langsam kommt die Person näher. Jetzt werden die Umrisse schärfer. Ich kann das Gesicht deines Halbbruders mit dem blauen Sichelmond auf der Stirn erkennen und in seine goldenen Augen sehen. In diesen liegt ein seltsamer Ausdruck. Ist es Mitleid? Nein, dass kann nicht sein. Ich liege wahrscheinlich schon viel zu lange im Schnee und meine Sinne spielen mir daher gewiss einen Streich. Oder werde ich etwa verrückt? Das wäre schade. Ich habe es doch so lange geschafft, nicht dem Wahnsinn zu verfallen und jetzt sollte er mich vielleicht doch eingeholt haben? Jetzt, wo ich endlich wieder frei sein wollte?
Auf einmal spüre ich, wie etwas warmes, weiches um meine Schultern gelegt wird. Es ist das Fell deines Halbbruders. Verwundert sehe ich auf.
“Menschen vertragen keine Kälte.”, ist sein einziges Kommentar.
Vertragen keine Kälte…. Ja, da ist etwas dran. Ich vertrage wirklich keine Kälte und das ist auch der Grund, warum ich hier bin.
“Ich brauche es nicht.”, meine ich und will ihm das Fell zurückgeben, doch er nimmt es nicht an.
“Du wirst sterben.”, sagt er ruhig. Es ist eine Feststellung, nicht mehr und nicht weniger.
“Ich bin schon tot.”, antworte ich darauf. Das stimmt sogar. Mein Herz ist schon vor langer Zeit gestorben und jetzt endlich will ich folgen.
“Ihr seit so schwache Kreaturen.”, meint dein Halbbruder darauf bloß und beugt sich zu mir herab. Verwundert spüre ich, wie er mir einen Arm unter die Kniekehlen und einen unter die Achseln legt. Dann hebt er mich hoch und ich lehne mich an ihn. Ich kann nicht anders. Es hat mich schon so lange keiner mehr im Arm gehalten.
,Sein Körper ist so warm…’, denke ich und schließe leicht meine Augen. Diese Wärme…. Sie dringt tief in mich ein und füllt mich aus, bis in die letzte Pore. Wie lange war es her, dass ich mich je so gefühlt habe? Die Antwort darauf kenne ich sogar. In deinen Armen, Inuyasha. Doch das hier bist nicht du. Es ist dein Halbbruder.
Er ist es, der mich in den Armen hält und mich vor dem erfrieren rettet und nicht du. Seine Wärme ist es, die er mit mir teilt und nicht deine. Er ist es, der seit langem das erste Gefühl in mir geweckt hat, sei es auch nur Wut gewesen. Es ist ein innere Regung gewesen, die mich kurzzeitig aus der Schwärze gerissen hat und jetzt ist es seine Nähe, die erneut die Kälte aus mir vertreibt. Nicht völlig, aber mehr, als ich es mir jemals zu träumen gewagt hatte. Wie eine ertrinkende klammere ich mich an ihn, deinen Halbbruder. Erst jetzt nehmen ich die Taubheit in meinen Gliedern wahr, die langsam zurückweicht. Wegen ihm, nur wegen ihm und nicht wegen dir.
Aus irgendeinem Grund kriecht Geborgenheit in mein Herz. Ich fühle mich geborgen, in den Armen deines Halbbruders, den du so hasst. Ist das nicht seltsam?
Und da kommt in mir ein Wunsch auf. So stark, dass ich ihn nicht unterdrücken kann. Ich will nicht mehr allein sein. Nie mehr. Ich will nicht wieder in dieser Schwärze versinken, die mich so lange gefangen hielt. Aber in ihr werde ich wieder versinken, wenn mich keiner rettet und mich an der Oberfläche hält.
“Sesshoumaru, bitte, verlass mich nicht.”, murmle ich in sein Fell. Ich würde es nicht überleben, wenn auch er mich jetzt verlassen würde. Jetzt, wo er mich doch gerade erst gerettet hat. In so vielerlei Hinsicht.
Er antwortet