One-Short

Opfer

Die Sonne brannte vom strahlendblauen Himmel herab und hüllte alles in ein wundervolles, goldenes Licht.
Ein leichter Wind wirbelte die bunten Blätter auf, die auf dem ganzen Rasen verteilt waren.
Die junge Frau schloss die Augen und sog die warme Herbstluft begierig ein.

Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter.
Sie blickte sich um und sah das frühzeitig gealterte Gesicht eines alten Freundes.
„Es…“
Sie wusste, was er sagen wollte und schüttelte den Kopf.
Sie wollte es nicht hören, konnte den mitleidigen Klang in seiner Stimme nicht ertragen.
„Es muss dir nicht Leid tun, du trägst keine Schuld.“
Die sanften braunen Augen des Mannes füllten sich mit Tränen, doch er kämpfte gegen sie an.
„Weißt du, ich beneide dich.“
Ihre Stimme klang fremd.
Früher….
Sie verbot sich selbst an die Vergangenheit zu denken, sie fürchtete, es würde ihr Herz zerbrechen.

„Du beneidest mich?“
Hörte sie Verzweiflung?
„Ja, ich beneide dich. Ich beneide dich um deine Tränen.“
Er blickte sich ungläubig an.
„Wie meinst du das?“
Offenbar konnte er nicht verstehen, wie man jemand um so etwas Banales beneiden konnte.
Jeder weinte doch wenn er traurig war, es war völlig normal.
„Meadows, die Prewetts, Edgar Bones, Dearborn, Fenwick, McKinnon.“, begann sie leise und mit gefasster Stimme Namen aufzuzählen.
„James und Lily Potter, Peter Pettigrew, Alice und Frank Longbottom und…Sirius Black.”
Nun blickten ihre traurigen, braunen Augen auf die beiden weißen Steinplatten vor ihr.

„Verstehst du nicht, was dieser Krieg gekostet hat? Das Ministerium feiert seinen großen Sieg, doch sie sprechen nicht über den Preis, den wir dafür bezahlt haben.“
Der Mann schüttelte wütend den Kopf.
Er konnte nicht fassen, dass ausgerechnet sie so sprach.
„Wie viele sind gestorben? Wie viele hat man nie gefunden? Wie viele…. Denkst du denn, dass jetzt alles vorbei wäre? Voldemort wird zurückkommen, er ist verschwunden aber nicht besiegt.“
Er wusste nicht, was er erwidern sollte.
Gab es überhaupt eine Antwort?
„Es sind so viele…. Schon heute weiß niemand mehr alle Namen. Man wird sie vergessen, die großen Helden. Sie werden zu einem Kapitel in den Geschichtsbüchern, doch wer wird sich an sie erinnern?“

Sie drehte sich um und sah ihn nun eindringlich an.
„Wer wird in ein paar Jahren noch wissen, wie schön Lilys Haare im Sonnenlicht glitzerten und wie fröhlich James Lachen klang? Wer wird sich an Alice Longbottoms legendären Käsekuchen, Franks Leidenschaft für Schokoladenfrösche, Dorcas Meadows Zynismus und McKinnons Quidditch Besessenheit erinnern? Es werden nur noch Namen auf einem Blatt Papier sein…“
Er wollte ihr widersprechen, doch er konnte nicht.
Tief in seinem Herzen wusste er, dass sie Recht hatte.
„Sieh dir doch an, wie sie Harry feiern. Sie wissen nicht einmal wie er aussieht, wie er lacht, sie waren nicht dabei, als er getauft wurde. Alles was sie kennen, ist seine blitzförmige Narbe.“

Sie machte eine kurze Pause und blickte auf die Ruine, die hinter ihnen stand und nun, im warmen Sonnenlicht, aus purem Gold gebaut zu sein schien.
„Du fragst, warum ich dich um deine Tränen beneide?
Ich saß an unzähligen Krankenbetten, habe gesehen wie sie gesund gepflegt wurden, nur um dann von einem Todesser getötet zu werden.
Ich habe gegen Voldemort gekämpft, nur um festzustellen, dass dieser Krieg von Anfang an aussichtslos war.
Ich habe meine Familie, meine Freunde und den Mann, den ich liebe verloren.
Ich habe gesehen, wie die Todesser ein Ordensmitglied nach dem anderen geholt haben.“

Er unterbrach sie barsch.
„Du hast Sirius nicht verloren, er ist freiwillig zu Voldemort gegangen, er hat Lily und James aus freien Stücken verraten und Harry damit zum Waisen gemacht.“
Sie lächelte melancholisch.
„Du magst Recht haben, doch er ist ein Opfer des Krieges wie wir alle. Ich habe zu viel Blut fließen gesehen um zu weinen, zu viel Tränen und Leid. Die Hoffnung, sie stets durch Verzweiflung zerstört wurde, die Ausweglosigkeit, all die Toten und Verletzten…. Ich habe alle Tränen vergossen, die ich hatte.“
Sie seufzte und fuhr mit ihrer rechten Hand über die Inschrift auf einem der Steine.
„Lily und James hätten die Steine gefallen. Du weißt, sie liebte diesen Platz, hier unter dem Baum im Halbschatten.“
Sie nickte und richtete sich auf.
Die dunkle Erde war noch ganz frisch, die Blumenkränze noch nicht verwelkt.
„Was willst du jetzt tun?“

Er lächelte bitter über ihre Frage.
„Was habe ich denn für Möglichkeiten? Ich bin ein Werwolf. Ich werde mich irgendwie durchschlagen, so wie immer…Und du?“
Sie nickte und tastete nach dem silbernen Abzeichen, das an ihrer Brust prangte.
„Ich bin müde, erschöpft…. Am liebsten würde ich verschwinden und nie wieder hierher zurückkommen. Vielleicht ein kleines Restaurant in den Bergen, ein Häuschen am Meer….“
Sie brach ab und schüttelte über sich selbst den Kopf.
„Ich werde weiter kämpfen, Remus. Ich werde dafür sorgen, dass man die Namen nicht vergisst, dass man die großen Helden unseres Krieges in Erinnerung behält. Eine Aufgabe wartet auf mich, ich werde jeden einzelnen Todesser jagen und nach Azkaban bringen. Wenn es mich umbringt, dann gehe ich gerne.“

Remus Lupin lächelte und legte seine Hand erneut auf ihre zierliche Schulter.
„Ich wusste, dass du das sagen würdest, Nojiko. Wir werden kämpfen bis auch der letzte Marauder gestorben ist…“
„… und wir gehen stolz, hocherhobenen Hauptes in den Tod, so wie James und Lily.“, setzte sie entschlossen hinzu.
„Wie James und Lily.“, antwortete der Mann und warf einen letzten Blick auf die beiden Grabsteine, auf denen James Potter und Lily Potter zu lesen war.
Gemeinsam drehten sie sich um und verließen Godrics Hollow entschlossenen Schrittes.
Am Horizont versank die Sonne langsam hinter den Bergen und hüllte die beiden Freunde in blutrotes Licht.

THE END
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