Verlorenes Kind

One Shot

“Der Kiefer ist gebrochen Frau Schmidt! Das tut mir sehr Leid aber das wird eine Weile dauern, bis wir das gerichtet haben! Es handelt sich um einen komplizierten Splitterbruch am Gelenk und nicht um eine einfache Fraktur! Schonen Sie sich möglichst! Ich weder Sie die nächsten Tage wieder besuchen und sehen, was Sie für Fortschritte gemacht haben!”, der Chefarzt verließ, ohne auf eine Antwort zu warten, das Zimmer.
Was hätte sie auch groß sagen sollen. Ihre Kehle verließ höchstens ein angestrengtes Gurgeln aber mehr auch nicht.
Die metallischen Ketten, mit denen ihre Arme und Beine an der Liege gehalten wurden, klapperten unter den ruckartigen Befreiungsversuchen.

Sie wollte abhauen. Schon lange.

Schon seid dem sie Kind war, wollte sie abhauen aber sie konnte nicht. Sie saß fest, wie ein Tier in einem goldenen Käfig aus kaltem Metall.
Es fing früh an.
Jany besuchte sie bereits, da war se erst sieben Jahre alt.
Jany. Ein kleines rothaariges Mädchen, mit Sommersprossen und einem bunt geblümten Kleid, wie man es vor 50 Jahren einmal trug.
Anfangs brachte man sie wegen Depressionen in die Klinik, doch als Jany anfing sie zu besuchen wurde es schlimmer, von Tag zu Tag schlimmer.
Abhauen war die einzige Lösung. Bei einem ihrer Ausbruchversuche, schnappte sie ein Pfleger und donnerte sie zu Boden. Er wollte sich mit dem Knie auf ihren Rücken stützen, damit sie nicht wider flüchten konnte, aber sie zappeltest stark, dass er ihren Keifer traf und zertrümmerte.
Da begann Jany ihr im Gegenzug Schnittwunden unter ihren langen Haaren, am Hals zu zeigen und deutete auf eine Vase. Sie musste grinsen und strich sich mit dem Zeigefinger über den Hals, als sei es ein Messer. Danach winkte sie und verschwand wider aus ihrem Zimmer.
Liz war mittlerweile alt geworden. Zu alt, um zu hoffen jemals wieder entlassen zu werden aber Jany alterte nichts. Sie blieb ein kleines Kind. Sie blieb so klein und unschuldig, wie Liz es damals war, als man sie dorthin schleppte.
Eines Abends geschah etwas, was Lizs Leben veränderte.
Sie lag im Bett und rührte sich nicht, starrte teilnahmslos an die Decke. Das einzige Geräusch war das kratzige Atmen ihrer ausgetrockneten Kehle.
“Man hat dich vergessen!”, flüsterte ihr eine süßliche Stimme ins Ohr.
Ihre Augen weiteten sich und sie sah sich apathisch um. Wie besessen drückte sie immer wieder auf den Notfallknopf, den man ihr in ihre angekettete Hand gelegt hatte.
“Man wird dich hier verrotten lassen!”, murmelte wieder diese Stimme.
Liz wurde panisch. Adrenalin pumpte durch ihre Adern, wie eine aufputschende Droge. Tränen der Verzweifelung rannen ihr Gesicht hinunter. Sie wollte schreien, wollte auf sich aufmerksam machen. Aber es geschah nichts. Ein leises Summen trat aus ihrer Kehle.
Sonst nichts.
“Man lässt dich nicht mehr gehen!”
Jany stand am Fußende des Bettes und starrte sie fast liebevoll an. Ihre Augen besaßen einen Ausdruck, der so unendlich alt und weise erschien, dass es Liz schauderte.
“Ich lasse dich nicht mehr gehen!”
Mit diesen Worten jagte sie auf Liz zu und umgriff ihren Hals. Sie würgte sie, schüttelte sie und ließ nicht ab von ihr.
Irgendwann hing der Notfallknopf nur noch in ihrer leblosen Hand, als eine Schwester das Zimmer betrat. Schreiend rannte sie wieder hinaus und Liz wunderte sich, denn sie fühlte sich doch so gut.
Man hatte ihr die Ketten abgenommen und ihr erschien alles wunderbar.
Vorsichtig stieg sie aus ihrem Bett und spürte die kalten Fliesen unter ihren nackten Füßen.
Der Chefarzt kam mit der Schwester wieder ins Zimmer gelaufen.
“Lasst ihr mich gehen?”, fragte sie freudig, doch niemand reagierte auf ihre Frage. Man schien sie gar nicht zu beachten.
Vorsichtig drehte sie sich zum Bett um.
Eine alte ausgezehrte Frau lag dort. Ihre Haut war blass und blau angelaufen. Ihr Körper befand sich in einer Menschen unwürdigen Position.
“Koma…?”, fragte die Schwester.
“Ja… und ein psychoepileptischer Anfall! … wie bei Jany und den anderen! Das ist jetzt schon der 32. Fall dieser Art!”, resignierte der Arzt.
Liz starrte das Bild, was sich ihr bot an und überlegte, ob sie um die arme alte Frau trauern sollte. Sie selbst hatte noch ihr ganzes Leben vor sich.
Jany trat neben sie und nahm sie an die Hand. Beide Mädchen waren fast gleich groß. Liz trug ihr Lieblingskleid, mit den blauen Glitzersteinen, mit dem sie immer mit ihrer Mutter am Strand war.

“Die alte Frau wurde allein gelassen! Ich lass dich nicht allein! Komm, ich zeige dir meine anderen Freunde und es werden bestimmt bald mehr! Wir werden nie wieder alleine sein!”
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