Rabenherz

Erinnerungen der Vergangenheit

Kapitel 1: Der Aufbruch

Als ich ein Kind war, wollte ich immer sein wie die Prinzessinnen in den Märchen, die man mir immer erzählt hatte. Ich wollte reich sein und in einem Traumschloss wohnen. Aber ich wusste, dieser Traum würde nie in Erfüllung gehen. Also träumte ich eben weiter. Wenn man als armes Bauernmädchen aufwuchs, hatte man nicht viel mehr. Zwar mochte meine Familie arm sein und unser Gut kaum genügend Nahrung hervorbringen, um uns vor dem Hungertod im Winter zu bewahren, aber wenigstens hatte ich meine Fantasie. Dort lebte ich in meiner eigenen Welt. Manchmal lebte ich als Prinzessin auf einem Schloss, ein andern Mal zog ich zusammen mit den Spielleuten umher. Nacht für Nacht und Tag für Tag träumte ich vor mich hin. So kam es, dass ich im Alter von etwa zwölf Jahren immer wieder diesen einen Traum zu träumen begann.
Zumindest waren es Teile, kleine Bruchstücke dieses einen Traumes. Immer sah ich dieses wunderschöne Amulett und diesen schwarzhaarigen Mann. In meinem Traum war ich tatsächlich eine Art Prinzessin und dieser Mann wohl sozusagen mein „Prinz“.
Das Amulett diente als eine Art Wiedererkennungsmerkmal. Die Fassung des Amuletts war silbern, auf der Vorderseite war ein Stein eingelassen, der aussah, wie der Mond in seiner ganzen Pracht und Schönheit. Auf der Rückseite jener Fassung war ein Wort in einer alten Schrift eingraviert: Míonîn.*
Es war ein Fantasiewort, das mein Prinz und ich uns ausgedacht hatten.
So vergingen in meinem ständig wiederkehrenden Traum viele Jahre oder gar Jahrhunderte.
Und doch fanden wir einander immer wieder. Aber ebenso verloren wir uns auch wieder und wieder. Das war der Preis, den die Kinder des Lichts und der Schatten zu zahlen hatten, wollten sie einander lieben.

Einige Zeit nach meinem dreizehnten Geburtstag entschied ich mich, mein Dorf zu verlassen. Die Träume, für mich schon so vertraut, wie ferne Erinnerungen, kamen nun beinahe jede Nacht und waren meine stetigen Begleiter. Am Abend packte ich, nachdem mein Vater glaubte, ich schliefe schon, ein paar Dinge in einen Beutel. Ich nahm nur so viel mit, wie ich auch wirklich hatte tragen können. Nicht, dass es sonderlich viel gewesen wäre.
So kletterte ich aus meinem Fenster und trat auf das untere Dach, unter welchem sich unsere Küche befand. Fast lautlos gelange es mir, bis an das andere Ende zu schleichen, von wo aus ich mich an den Holzdielen der Wand, von der der Putz größtenteils abgebröckelt war, herunter hangelte. Ziellos rannte ich davon. Ich lief einfach, ohne auf Weg oder Wegweiser zu achten.
Ich rannte fast die ganze Nacht hindurch, machte Rast auf einer Waldlichtung. Im Morgengrauen hatte ich den Wald bereits durchquert.
Früher hatte man mich immer davor gewarnt, den Wald zu betreten. „Wenn du dich verläufst, Kind, kehrst du nie zurück“, hatten sie gesagt.
Sie hatten weder Recht noch Unrecht.
Ich hatte mich nicht verlaufen, aber zurückkehren würde ich dennoch nicht.
Ich warf einen letzten Blick über meine Schulter. Ein Gefühl von Entschlossenheit beschlich mich und ich wusste, dass ich das Richtige tat.

Ich folgte der kleinen Straße, die in der Nähe des Waldausganges in meine Zukunft verlief. Hie und da gab es einen kleinen Hof, ansonsten war ich umgeben von grünen Wiesen und Weiden. Allmählich kam ich von den Feldern und Wiesen fort. Wie ein Wald sahen diese größeren Baumgruppen allerdings nicht aus. Es wirkte eher… wie eine Art Zaun, eine Grenze.
Ich fragte mich, ob hier möglicherweise die Grenze zu einem anderen Königreich verlief und ging den Weg weiter. Mein Herz pochte immer lauter, raste immer schneller, je näher ich den Baumgruppen kam. Ich erwartete fast, dass jeden Moment eine Grenzwache hinter einer der alten Eichen oder Buchen hervorspringen und mir erklären würde, dass ich hier nicht weiterkäme und doch lieber wieder nach Hause gehen solle. Vielleicht würde er sich darüber beschweren, dass die Kinder heutzutage viel zu frech wären, sich einfach davonzuschleichen und vor der Arbeit zu drücken. Ich lief weiter.
Doch nichts dergleichen geschah. Etwas weiter hinten, jedoch, zwischen ein paar Bäumen, auf einem kleinen Hügel, einer Lichtung ähnlich, sah ich ein großes Haus. Möglicherweise der Sitz eines unserer Lehnsherren, wie ich vermutete, und meine Brust schwoll ein wenig an, vor Stolz, das Versteck eines solchen Parasiten entlarvt zu haben. Aber scheinbar ging meine Fantasie wieder einmal zu sehr mit mir durch.
Alles, was ich vorfand, war ein Knabe mit fast feuerrotem Haar und tiefgründig dreinblickenden Jadeaugen, ähnlich wie es die Meinen waren. Er mochte vielleicht ein Jahr älter sein als ich, oder zwei, aber nicht mehr. Der Bursche war alleine. Ob er wohl hier draußen spielte? Möglicherweise mit den hier lebenden Tieren, demnach konnte er nicht der Familie eines Lehnsherren entspringen. Diese fanatischen Möchtegern-Aristokraten hatten nicht mehr viel Sinn für die Schönheiten der Wälder und Felder und generell der gesamten Natur um sie herum.
Der Junge entdeckte mich. „He! Du! Was machst du hier?“
Ich stammelte nur vor mich hin. Hatte ich nun gegen ein Gesetz verbrochen?
Ich spürte, wie eine leichte Panik in meinem Innern aufstieg. Er beugte sich halb über mich, soweit es ihm möglich war. So wirkte er noch imposanter, wenngleich er auch nicht sehr viel größer war, als ich selbst.
„Ich-Ich habe nichts Böses im Sinn, wirklich nicht! Ich… Ich wollte nur wissen, was sich hinter diesen Bäumen verbirgt.“ Meine Stimme klang ängstlicher, als ich es in Wirklichkeit gewesen war. „Hier? Außer meiner Familie lebt hier niemand“, antwortete er mit einem Schulterzucken. „Wir leben alleine hier, aber es macht mir nichts aus!“ Als er sich stolz auf die Brust klopfte, weil er so tapfer war, die Einsamkeit zu ertragen, klimperte etwas an seinem Hals und ein kleines Amulett kam zum Vorschein.
Ein mondförmiger Stein war in die silberne Fassung eingelassen, alles in allem wirkte das Amulett schon sehr, sehr alt. Plötzlich kamen mir die Erinnerungen an meinen Traum wieder in den Sinn. „Oh, das ist aber eine wunderschöne Kette! Darf ich sie mir ansehen?“, fragte ich ihn in meinem unschuldigsten Tonfall.
Irritiert legte er die Kette ab und legte sie behutsam in meine ausgestreckte Hand.
„Ein altes Erbstück meiner Familie“, prahlte er, „Laut meiner Mutter ist sie schon viele hundert Jahre alt.“ Der Bursche war sichtlich stolz darauf, ein solches Stück tragen zu dürfen. Mich jedoch interessierte nur, was ich auf der Rückseite des Fassung finden – beziehungsweise nicht finden würde.
Die Gravur war kaum noch lesbar, verwittert und abgegriffen. Aber sie war da. Ich erkannte jeden einzelnen Strich wieder, jedes einzelne noch so kleine Zeichen.
„Míonîn…“, murmelte ich.
„Bitte, was sagtest du da?“ Im Nu war meine Gedankenreise wieder beendet und ich in das Hier und Jetzt zurückgeholt.
„Oh… ähm… Nichts, gar nichts! War nett, deine Bekanntschaft gemacht zu haben!!“,
rief ich ihm in vollem Lauf zu. Ich konnte seine schnellen Schritte hören, als er mir nachjagte und das Amulett zurückverlangte.
Ich rannte, so schnell meine Beine mich tragen konnten, ohne darauf zu achten, wohin ich lief.
Ich wusste nicht, wie lange ich nun vor ihm davongelaufen war, geschweige denn wo ich mich befand. Der einzige Vorteil an meiner Situation war, dass ich den Rotschopf wohl abgehängt hatte. Zumindest glaubte ich das. Ich machte gerade eine kurze Pause, als ich sich rasch nähernde Schritte vernahm. Aufgeschreckt wie ein Reh, sprintete ich davon.
Auf meinem Fluchtweg entdeckte ich, gar nicht weit entfernt von mir, einen herrenlosen Planwagen, vor den bereits zwei Pferde gespannt waren.
Ich warf ein paar verstohlene Blicke zur Seite, um sicherzugehen, dass mich auch niemand sah und mich womöglich verraten würde.
Niemand war in der Nähe.
So kletterte ich in den hinteren Teil des Wagens und versteckte mich unter einer sich darin befindlichen Decke.

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*: Mionin stammt aus dem Gälischen und bedeutet übersetzt so viel wie "Mein Liebstes". Die Gälische Sprache existiert in dieser Geschichte nicht. Ich habe mnir herausgenommen, die Schreibweise minimal zu veröndern. Die Bedeutung des Wortes bleibt die selbe.
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