Frozen

Part I

Das Ende kam mehr oder minder genauso, wie wir es uns immer vorgestellt hatten. Die Euphorie zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts mündete bereits nach ein paar Jahren in einer übermächtigen Arroganz, die den Verstand der Menschheit als Ganzes vernebelte. Wir waren geblendet von unseren Errungenschaften in Wissenschaft und Technik und trunken von der unendlichen Macht, die sich daraus ergab. Die Unantastbarkeit, die wir uns selbst so vehement zurechneten, verbrannte schließlich in dem Feuer des Hasses, das vor unseren eigenen Augen entfacht wurde.

Ein atomarer Funke, gezündet von verwirrten Geistern, deren Motive schon vergessen waren, ehe sich das wahre Ausmaß der Katastrophe bemerkbar machte. Die Bombe gab uns den Tod, doch noch viel mehr nahm sie uns.
Den Frieden.
Die Hoffnung.
Unsere Menschlichkeit.
Nur einige der zahlreichen Opfer eines Anschlages, der die Welt für immer verändern sollte. Doch niemand von uns darf sich der Illusion hingeben, dass fremde Mächte alleine daran verantwortlich waren. Die wirkliche Schuld trifft letztendlich einen jeden einzelnen von uns. Wir alle haben unsere Augen, unsere Ohren und unsere Münder vor der Wahrheit verschlossen und sind viel lieber blind, taub und stumm unseren Führern hinterhergelaufen, ohne einen einzigen Gedanken an das Warum zu verschwenden. Getrieben von Hunger und Krankheit wandten wir uns dem Letzten der apokalyptischen Reiter zu, der uns noch geblieben war.
Wir selbst entzündeten den Funken erneut und schürten den Krieg, der uns auch die letzten Ressourcen nahm und uns schließlich zurückließ, in dieser Welt der Trümmer, der Strahlung und der verdunkelten Sonne, die unsere Generation vielleicht nie wieder in ihrer wahren Pracht erblicken wird.

Wir waren unser eigenes Schicksals Schmied, und wir haben die Rechnung für unser Versagen als Rasse und Bewohner dieses Planeten auf einem silbernen Tablett serviert bekommen.
Alles, was noch bleibt, ist Reue.


Mit einem leichten Seufzen sah er auf die letzte geschriebene Zeile und den blinkenden Strich, der hinter dem letzten Wort stand und wie ein Metronom gleichmäßig aufleuchtete. Seine steifen Fingerglieder schmerzten und er konnte regelrecht spüren, wie sie langsam taub wurden. Nichtsdestotrotz rieb er seine Hände kurz aneinander und tippte schließlich weiter.

Vielleicht werden wir der letzten Generation von Menschen angehören, die diesen Planeten bevölkert, vielleicht wird unsere Rasse aber auch wider jeder Chance überleben. Ich weiß nicht, was die Zukunft uns bringen mag, aber ich hoffe, dass die Entscheidung schnell fallen wird. Wir sind des Leidens leid. Und wir sind diese Welt leid, die nichts anderes mehr ist, als ein gigantisches Wartezimmer des Todes.

Er hielt einen langen Moment inne und ließ sich den letzten Satz noch einmal durch den Kopf gehen. Irgendwie wollte er ihm nicht so recht gefallen. War er zu theatralisch? Zu kitschig? Vielleicht war er aber auch einfach zu direkt. Mit einen leichten Seufzen fuhr er seinen kleinen Finger zu der Backspace-Taste, stoppte ihn aber kurz vorm Durchdrücken ab.
Hatte er tatsächlich vergessen, dass es eigentlich vollkommen egal war, wie überzogen dieser Text klang? Immerhin war es ja nicht mehr so, als würde er einem Editor vorgelegt werden, der ihn auf so etwas hin prüfen würde. Ein schmales Lächeln bildete sich kurz auf seinen Lippen, das aber beinahe augenblicklich wieder erstarb.
Ein Fetzen der Erinnerung an eine bessere Zeit kam in ihm hoch.
Eine Zeit, in der es noch so etwas wie Editoren gab.
Oder Journalisten.

Und Warten ist alles, zu dem wir noch fähig sind. Der ironischste Faktor unserer menschlichen Natur ist, dass wir uns trotz allem noch die Hoffnung machen, dass es eines Tages wieder besser sein wird. Dass wir nur durchhalten müssen, um schließlich gerettet zu werden. Und so bleiben wir weiter am Leben, verblendet und voller falscher Hoffnung harren wir aus und lassen die Tage vorbeiziehen.
In der Hoffnung, dass endlich IRGENDETWAS passiert, dass uns aus dieser Stagnation bringt, die tausend mal schlimmer als der Tod oder die Hölle selbst ist.
Die Möglichkeit, einen weiteren Schritt setzen zu können, ist alles, was wir uns wünschen.
Egal, in welche Richtung.


„Robert! Sieh auf die Uhr. Du bist bereits zehn Minuten über der Zeit. Speichere jetzt sofort, oder wir müssen dir den Strom abstellen – deine Entscheidung.“
Die alte Stimme klang nicht mehr oder weniger feindselig, als er sie ohnehin schon längst gewohnt war. In den vergangenen Jahren wurde der Klang der rauen, oftmals heiseren Tonart viel zu vertraut - wie auch die Nachricht, die in ihr mitschwang. Ian war in vielerlei die andere Seite der Medaille, der typische Vertreter der Partei des Ausharrens. Aber dennoch saß er auf dem längeren Ast. Nicht zuletzt, weil die Anderen ebenfalls auf Ians Seite waren. Und das machte die ganze Situation nicht gerade einfacher.

*

Aber was genau war die Situation eigentlich? Für Robert Clay war die Sache recht einfach. Eine absolute Stagnation des gesamten Lebens, hier, in einer kleinen Holzhütte mitten im Nirgendwo von dem, was früher einmal Teil einer kanadischen Provinz gewesen war. Vier Menschen, die sich seit über sechs Jahren mit dem Wenigen über Wasser hielten, dass das Land zu bieten hatte – was nicht gerade viel war. Auch wenn die Strahlung wie durch ein Wunder diesen Teil des Planeten nahezu verschont hatte, die verdunkelte Sonne war ein weltweites Problem. Und der ewige Winter, der nun schon seit mehr als sieben Jahren andauerte, zollte jede Woche mehr von dem Land, und den Menschen, die sich noch darauf befanden.
Nur äußerst robuste Pflanzen wie die mächtigen Kiefernwälder, in deren Mitte sie sich befanden, überlebten diese lange Kälte. Aber Kiefern waren nur bedingt essbar. Und die restliche Flora und Fauna war seit den Tagen der Katastrophe feindseliger als je zuvor. Ehemals essbare Pflanzen, die unter dem Einfluss der Kälte Gifte entwickelten. Ehemals scheue Einzelgänger von Wildtieren, die auf einmal als Rudel zu jagen begannen. Für Clay war die Erklärung ziemlich eindeutig: Die Natur ergriff die letzte Möglichkeit, der Seuche Menschheit Herr zu werden, ehe sie es endgültig schaffen würde, diesen Planeten zu vernichten.

Und tief im Innersten teilte Clay diese Überzeugung.

Mit einem tiefen Seufzen speicherte er schließlich das halbfertige Dokument und fuhr den Computer herunter. Er verharrte noch eine geschlagene Minute, um wirklich sicherzustellen, dass das Gerät wirklich deaktiviert war, ehe er sich von dem einfachen Holzstuhl erhob und einen Blick durch den Raum warf, in dem er sich befand.
Ein trister, lichtscheuer Raum, der nur von einer sehr schwachen 40 Watt Glühbirne erhellt wurde, die ab drei Uhr nachmittags die einzige Lichtquelle darstellte. Das kleine Fenster, in dessen Nähe sich schon lange niemand mehr gewagt hatte, war einfach zu wenig. Der Rest des Zimmers war spartanisch. Der braune Holztisch, auf dem sich der schwarze Monitor befand, dessen Display schon vereinzelt von Eisblumen gezeichnet war, bildete die Haupteinrichtung und wurde nur spärlich von einigen halbvereisten Pappkartons ergänzt, die wild in dem Raum angeordnet waren. Stauraum. Für Dinge, die nicht wirklich notwendig fürs Überleben waren.
Bücher. Kulturgegenstände. Nutzlose Erinnerungen. Dinge, die es mit einen Wort nicht verdienten, in den beheizten Räumen des Hauses untergebracht zu werden. Ganz egal, ob es sich dabei um sein Lebenswerk handelte, oder nicht.

Etwas verträumt strich er noch einmal über den kalten Monitor und bemerkte nur nebenbei, dass seine Finger schon wieder angeschwollen und rot waren. Dem weißen Nebel nach zu urteilen, der bei jedem Atemzug auch von ihm aufstieg, war es wohl wirklich ziemlich kalt. Für einen kleinen Moment schoss ihm die Frage in den Kopf, wann es wohl das letzte Mal gewesen war, an dem er Kälte auch wirklich als solche empfunden hatte, aber er verdrängte diesen Gedanken wie üblich mit einem leichten Kopfschütteln. Er sollte langsam wieder zurück zu den anderen. Rose würde es ihm übel nehmen, wenn er schon wieder zu spät zum Abendessen kommen würde. Bill wäre es ziemlich egal, aber er hatte eine ungefähre Vorstellung davon, was Ian dazu sagen würde und diesmal hatte er einfach keine Lust auf einen Streit mit dem alten Ranger. Nicht schon wieder. Nicht heute.

Widerwillig drehte er sich also im Stand um und verließ sein Arbeitszimmer.
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