Muttergespräche
Muttergespräche
Muttergespräche
*Muttergespräche*
Es war Mittwochmorgen, 10:34 Uhr, als Frau G. auf ihre Uhr sah und die Nase rümpfte. Gestern hatte ihre Tochter angerufen um zu fragen, ob sie am Mitwoch nicht mal vorbei kommen könne, um ihre Sachen abzuholen. Drei Wochen lang hatte sie nichts mehr von dem Mädchen gehört. Obwohl, das stimmte nicht. Frau G. hatte nämlich am Wochenende zuvor erfahren, dass ihr Kind bei ihrer Mutter, der Rosemarie, zu Besuch war um mal nach dem Rechten zu sehen.
Sie müssen wissen, die Rosemarie leidet an Krebs und hatte gerade erst die letzte Chemotherapie hinter sich gebracht. Da war es schon angebracht, dass man sich um sie kümmerte.
Wie gut, dass es Frau G.s Tochter gab, sie selbst hatte nämlich kaum Zeit für ihre eigene Mutter, da die Arbeit sehr ermüdend und der spätere Sport und die vielen Nebenbeschäftigungen noch ermüdender waren.
Doch trotzdem störte sie etwas.
Sie hatte das Gefühl, dass etwas nicht stimmte.
Ein erneuter Blick auf die Uhr, ein erneutes Nasenrümpfen und Frau G. war sich sicher.
Sie kannte ihr Kind sehr gut, zumindest glaubte sie es. Wie könnte es ja auch anders möglich sein, schließlich war sie ihre Mutter.
Und so wurde der Verdacht in ihr immer größer.
Das Mädchen würde heute bestimmt wieder absagen!
Eine kleine Ader bildete sich an der rechten Schläfe der Frau G.
Schnell griff sie zum Telefonhörer und wählte die Nummer ihrer Tochter.
Sie wollte sich sicher sein, dass das Mädchen nicht einfach so absagte, schließlich opferte sie ja ihre kostbare Zeit für sie und überlegte, sogar ihren Sportkurs für das Kind ausfallen zu lassen.
Langes Klingeln, Frau G. dachte schon, dass sie schon wieder nicht an das Telefon ranging, doch dann hörte sie das vertraute Klicken, das einem zeigte, dass abgenommen wurde.
„Hey, Mom“, klang es müde und leise von der anderen Seite, so leise, dass die störenden Hintergrundgeräusche von Bussen und Autos sie fast übertönten.
Frau G. rümpfte zum dritten mal ihr kleines Näschen, was war denn jetzt schon wieder los?
Ständig war dieses Mädchen krank, oder gab zumindest vor krank zu sein, aber erst mal egal. Es gab wichtigeres zu besprechen.
„Und, bist du schon auf dem Weg zu Omi?“, zwitscherte sie gespielt fröhlich ins Telefon.
Warum gespielt, fragt sich hier wohl der Leser...
Nun ja, Frau G. war eigentlich wütend auf ihre Tochter, da sie ja nun schon genau wusste, was kommen würde, doch gut erzogen, wie sie war und voll mütterlicher Zuneigung gegenüber ihrem Kind wollte sie nicht sofort mit der Tür ins Haus fallen und sie verschrecken. Nein, das zierte sich auch nicht.
Bei Menschen wie diesem Mädchen hier musste man sowieso erst die Vordertür verbarrickadieren und sich dann heimlich durch die Hintertür reinschleichen. Anders drang man nämlich nicht zu ihr durch.
Kurz war es still auf der anderen Seite der Leitung, bis auf die Straßengeräusche war nichts zu hören.
Aha, erwischt, dachte sich Frau G. und wollte gerade etwas sagen, so richtig loslegen, wie man das eben so macht, doch dann sprach das Mädchen wieder, langsam, aber sie sprach.
„Uhm“, drang es langgezogen an Frau G.s Ohr, „Mom, mir geht es nicht so gut.“
Nuscheln, was soll das?!
Kann dieses Ding denn nie deutlich sprechen?
Ist es denn so schwer?
Nein, ist es nicht, man macht einfach den Mund auf und spricht. Aber das beherrschte sie ja nicht, und das, obwohl sich die Mutter so große Mühe gegeben hat, sie zum richtigen Sprechen zu erziehen. Sie durfte keinen Slang sprechen, und berlinern? - das ging natürlich gar nicht! Früher konnte sie das Mädchen wenigstens noch bestrafen, indem sie ihr Fernsehverbot gab, aber jetzt, wo ihre Tochter nicht mehr bei ihr wohnte, ging gar nichts mehr.
Frau G. musste mitansehen, wie die Sprache des Mädchens mit ihr verlotterte und fragte sich wieder einmal, was dieses Kind überhaupt konnte.
Ja, da war das Schreiben, aber das war ja nichts. Und so ganz unter uns, Frau G. fand, dass ihr Kind nicht mal ordentlich ein paar Zeilen auf ein Blatt schreiben konnte, ohne Fehler zu machen und ohne, dass es sich schlimm anhörte. Sie persöhnlich hatte zwar noch nie die wirklich guten Sachen gelesen, sie waren ihr zu brutal und wer wollte schon über den Tod heutzutage lesen, wo er doch an jeder Ecke lauerte, doch wusste sie es ganz bestimmt, denn die Sachen, über die sie mal, wenn sie Zeit fand, rübersah, waren wirklich nichts besonderes.
Lange Rede, kurzer Sinn, Frau G. wurde langsam richtig wütend.
Und deswegen ging es jetzt erst richtig los.
„Aber, weißt du, Schatz, ich habe extra meine Sportsachen zu Hause gelassen, und den zweiten Helm mitgebracht, ich wollte dich doch abholen...“, zwitscherte sie abermal ins Telefon, möglichst darauf bedacht wirklich zu zwitschern, um ihrem Gegenüber nicht zu verraten, dass sie eigentlich kurz vorm Explodieren steht.
Oh, ja, was macht man nicht alles für sein eigen Fleisch und Blut?
Man streicht Termine und manchmal auch Sportkurse, man riskiert es, gefeuert zu werden, da das Kind schon zum dritten Mal in Folge 39°C Fieber hat und noch zu jung ist, um sich selbst zu versorgen. Man geht zu Elternabenden, und nimmt einen Extra-Job an, um sich und das Kind über Wasser zu halten. Man macht so viel, opfert so viel, und wie wird es einem gedankt?
Mit vorwurfsvollen Blicken, weil man statt 23 Uhr nachts, um 1 Uhr morgens von einer Disco nach Hause gekommen ist. Mit Gestöhne, wenn man mal um 19 Uhr endlich von der Arbeit kommt und eine Muttiepause braucht, da die Kinder auf der Arbeit schon wieder so laut waren, und man wirklich auch mal Ruhe braucht.
Herrgott noch mal! Sie war keine Supermami!
Musste das Kind eben auch mal im Haushalt helfen und eben schon früher als andere Kochen lernen, wenn sie was warmes essen wollte. Dieses Mädchen konnte froh sein, wenn sie mal die Zeit fand um zu kochen. Aber nein, was tat sie dann, sie rümpfte die Nase. Dieses Balg rümpfte die Nase und meckerte!
Es war wieder kurze Zeit still am anderen Ende, so als ob die Tochter die Gefahr schon riechen konnte. Ihrerseits kannte sie ihre Mutter ja auch, zumindest ein bisschen und wählte damit ihre Worte mit Bedacht, na ja, sie versuchte es.
„Uhm, Mom, ich wollte das alles morgen machen. Weißt du, da habe ich sowieso einen Termin, dann kann ich das alles verbinden, und na ja, deswegen fahre ich gerade zu meiner einen Freundin. Will da meine Bewerbungen nochmal überarbeiten und mich etwas ausruhen.“
„Aha!“, dachte sich Frau G.
Da war sie wieder, diese verdammte Ausrede mit den Bewerbungen und dem, dass es ihr nicht gut ginge. Warum geht sie überhaupt zu jemandem, wenn es ihr nicht gut geht?! Wenn man krank ist, sollte man zu Hause im Bett bleiben und schlafen! Man sollte weder feiern noch sonst irgendwas machen.
Einfach nur schlafen und ruhen, und mal ehrlich, wenn es dem Kind so gut ging, dass sie noch fröhlich zu einer Freundin gehen konnte, dann hätte sie auch ruhig die ganzen Verabredungen einhalten können, die sie getroffen hat!
Rosemarie ging es auch nicht gut. Konnte dieses Mädchen denn nie an andere denken?!
Selbst als Frau G.s Mutter im Krankenhaus lag und Frau G. im Sommer ausgerechnet zu dieser Zeit verreißt war, jammerte das Kind ständig rum. Ständig bekam sie Anrufe von ihr, in denen sie sich beklagte, wie schrecklich voll die S-Bahnen waren, nur weil mal ein paar Bahnen ausgefallen waren und dass sie ja kaum noch Luft bekommen hätte, da man zusammen gequetscht in einem Wagon stehen musste. Wie oft sie versuchte in diesen Wochen Klaustrophobie und Menschenangst als Grund vorzuschieben um nicht zu ihrer Omi zu müssen. Am Ende ist sie zwar doch gegangen, aber es war ständig so ein angestrengter Kampf zwischen Frau G und ihrer Tochter, wo Frau G. fast alle ihre Mutter- und Familienwaffen rausholen musste.
Die ganze Palette von „Sie ist doch auch immer für dich da“ bis “Du bist es ihr schuldig, schließlich hast du dieser Frau schon sehr viel Stress bereitet“ und natürlich der Joker: „Du weißt, was du getan hast, und kannst froh sein, dass wir dich nicht angezeigt haben!“, doch manchmal hatte Frau G. das Gefühl, dass selbst das ihre nichtsnutzige Tochter nicht zum Gehen bewegen würde.
Das Mädchen am anderen Ende wurde langsam unruhig. Ihre Mutter hatte nun schon seit einiger Zeit nichts mehr gesagt und das hieß für sie ganz gewiss nichts Gutes.
Dann nach einer weiteren Minute des Schweigens ergriff Frau G. wieder das Wort.
Aber diesmal war es kein Zwitscherlaut, der ihr da aus dem Mund hüpfte, sondern eher ein Gemisch aus Verachtung, Enttäuschung und Verletzung, gepaart mit einer Alkoholfahne, die nach Wut stank.
„Weißt du eigentlich, was ich für dich opfere?!“, schrie sie ins Telefon.
„Wie kannst du bloß?! Ständig denkst du nur an dich! Josy hier, Josy da! Aber so nicht, Fräulein! Wenn du je wieder etwas von mir willst, wirst du gefälligst heute kommen, oder ich werde dir nie wieder bei deinen verdammten Pro-“, ein Klicken und das Rauschen der Leitung schnitten ihr das Wort ab.
Das Kind hatte aufgelegt.
Wieder einmal wurde ihr Wutausbruch erfolgreich durch eine Gesprächstrennung unterbunden.
Frau G.s Gesicht nahm die Farbe einer Tomate an, ihre hellbraunen Augen bekamen immer mehr einen gelben Stich und surrten wutentbrannt in ihren Augenhölen herum.
Ein Zustand wohlgemeint, bei dem man sich ihr lieber nicht näherte, oder sie ansprach, da sie dann allgemein sehr schlagfertig und bissig reagierte. Doch auch ein Zustand, bei dem sie sich abreagieren musste, schließlich musste sie ja noch weiter arbeiten, es könnte ja nicht jeder so faul auf der Haut rumliegen wie ihre Tochter.
Und so wählten Frau G.s mittlerweile leicht zitternden Finger die Telefonnummer ihrer liebenswerten Tochter, die ja gerade so nett war und aufgelegt hatte, um sie erneut zur Rede zu stellen und alles ruhig und in gesittetem Ton auszudiskutieren, oder um zu schreien. Sie wusste noch