Komplementärfarben
Der Mann im Anzug
0. Der Mann im Anzug
“Aber komm rechtzeitig zurück, Jill. Die Gäste werden bald da sein!”
“Ja, Tante Emma”, rief Jill und rannte über den Rasen, vorbei an dem Rosenbeet, unter den Obstbäumen und dann zwischen den Büschen hindurch und am Zaun entlang. “Eins, zwei, drei…”, zählte Jill leise die Zaunslatten. An der elften blieb sie stehen und schob sie zur Seite. Sie war locker und leicht zu bewegen. Dann schlüpfte sie auf das Nachbargrundstück.
Der Rasen unter ihren Füßen war kurz geschnitten und sah gepflegt aus. Vor einer riesigen Rotbuche machte das zehnjährige Mädchen das nächste Mal halt. An der Schaukel, die an einem starken Ast befestigt war, war ein roter Luftballon gebunden, der sich in einer lauen Brise sachte hin und her bewegte. Ein Lächeln huschte über Jills Gesicht.
Sie ging um den dicken Baumstamm herum. Auf der anderen Seite waren breite Holzstreben an den Baum genagelt, sodass man sie als Leiter benutzen konnte. Jill kletterte behände hinauf. Sie wusste genau wohin sie ihre Füße setzen musst. Oft genug war sie hinauf zum Baumhaus geklettert, sie hätte es mit verbunden Augen sicher erreichen können. Jill setzte sich auf eine Astgabel, drückte die Klappe der Luke nach oben und kletterte in das Baumhaus.
“Happy Birthday!”, rief Jake und sprang ihr freudig entgegen. Der dunkelhaarige Junge pustete Jill eine bunte Luftschlange ins Gesicht. Sie sah sich etwas überrumpelt um. Luftballons und Girlanden schmückten das kleine Baumhaus. “Wow” war das Einzige, was sie herausbrachte. Sie war wirklich sprachlos. Jill sah ihn mit großen, vor Freude strahlenden Augen an.
Jake grinste zufrieden. “Freu dich nicht zu früh. Ich hab nämlich tatsächlich versucht zu backen”, verkündete er, holte einen kleinen Teller hinter einem Haufen aus Luftballons hervor und hielt Jill einen kleinen Schokoladenkuchen unter die Nase. Jill musste kichern. Zugegeben, etwas unförmig sah er schon aus und die kleine Kerze steckte ein bisschen schief, aber sie wusste genau, was er sich für eine Mühe damit gegeben haben musste. Sie sah in lächelnd an.
Jake senkte seinen Blick und wurde etwas rot um die Nasenspitze. Jills Grinsen wurde noch etwas breiter. Sie waren seit vielen Jahren miteinander befreundet, aber sie hatte nur selten erlebt, dass er verlegen oder sogar rot wurde. Sie beugte sich ein Stück hinunter und pustete die kleine Kerze aus. “Hast du dir was gewünscht?”
“Natürlich!”, lachte Jill. Jake stellte den Schokokuchen auf den Boden und zog ein kleines buntes Päckchen aus dem Berg von Luftballons hervor, das mit einer roten Schleife verziert war. “Alles Gute zu deinem Geburtstag, Jill!”, verkündete Jake feierlich. Begeistert sah sie zuerst auf das Geschenk in seiner ausgestreckten Hand und dann in sein Gesicht.
“Danke”, sagte sie leise. Strahlend fiel Jill ihm um den Hals. “Danke”, sagte sie noch einmal. Jake war zunächst etwas überrumpelt und noch ehe er richtig begriffen hatte, was geschehen war, hatte sie ihn auch schon wieder losgelassen.
“Ich wünschte, es könnte für immer so bleiben”, sagte sie mit ernstem Ton und sah ihm fest in die dunklen Augen.
Warum sah sie ihn denn plötzlich so traurig an? Eben hatte sie doch gestrahlt. “Hey, mach dir keine Sorgen”, sagte er und lächelte sie an. “Wir sind doch die besten Freunde -schon immer- und das wird auch immer so bleiben.” - “Versprochen?”
“Versprochen! Und jetzt pack endlich dein Geschenk aus”, grinste Jake und reichte ihr zum zweiten mal das Päckchen. Jill nahm es grinsend an. “Ich freue mich so, Jake. Du hast dir so viel Mühe gegeben…”
“Jill!”, ertönte plötzlich eine Stimme von draußen. “Das ist meine Tante”, stellte Jill verdutzt fest, und steckte den Kopf zu einem der kleinen scheibenlosen Fenster heraus. Am Fuße der Rotbuche stand tatsächlich ihre Tante Emma , doch sie war nicht allein. Neben ihr stand ein Mann in einem Nadelstreifenanzug, den Jill vor Jahren zum Letzten mal gesehen hatte und trotzdem sofort erkannte - ihr Vater. Eigentlich hatte sie etwas sagen wollen, aber vor Überraschung bekam sie keinen Ton heraus und starrte nur hinunter.
“Dein Vater ist da…”, begann ihre Tante, sie schien selbst etwas verwirrt, “er will dich... mitnehmen. “
“Mitnehmen?” Jill hatte einen Kloß im Hals. Sie wusste nicht einmal, ob sie sich darüber freuen sollte ihren Vater zu sehen. Einerseits hatte sie ihn seit so langer Zeit nicht gesehen und sich oft gewünscht, dass er sie besucht, aber andererseits war er ihr nach all den Jahren fremd geworden. Die Elternrolle für sie hatten ihre Tante und ihr Onkel übernommen.
Der Mann da unten war ein Fremder…
“Ja, Schätzchen. Ich habe endlich eine passende Wohnung gefunden, ich habe dir ein eigenes Zimmer eingerichtet. Du kannst endlich bei mir einziehen, mein kleiner Engel.” Mein kleiner Engel, so hatte sie ihn immer in den Briefen genannt, die in letzter Zeit immer seltener geworden waren.
“Ich.. Ich soll zu dir ziehen?”, stammelte Jill verwirrt. “Wann denn?” Hilfe suchend schaute sie ihre Tante an. Sie schaute angespannt zu Boden.
“Nun in einer viertel Stunde müssen wir uns wieder auf den Weg machen”, erklärte ihr Vater und sah lächelnd zu seiner Tochter hinauf. “Die Autofahrt dauert ein paar Stunden und ich habe heute Abend noch ein wichtiges Geschäftsessen. Und jetzt komm schon herunter, damit dein Vater dich begrüßen kann.”
Jill, drehte sich zu Jake um. Zu ihrer Überraschung lächelte er sie an. “Nun geh schon! Du hast dir doch immer gewünscht, dass dein Vater sich endlich um dich kümmert. Dein Wunsch ist endlich in Erfüllung gegangen!”
Einen Moment sah sie ihn verwundert an. Dann kletterte sie schließlich hinunter. Ihre Beine waren schwer wie Blei, ihre Knie zitterten und ihr Herz schlug nur holprig, als sie ihrem Vater gegenüberstand.
Er beugte sich zu ihr hinab und schloss sie stürmisch in die Arme. “Mein kleines Mädchen ist ja groß geworden”, meinte er freudig und musterte Jill von oben bis unten. Als sie seine strahlende Augen sah, stellte sie fest, dass er sich aufrichtig freuen musste, sie zu sehen und irgendwie hatten seine Augen und seine Stimme etwas Vertrautes. In diesem Moment begann sie sich wirklich sich darüber zu freuen, ihn wieder zu sehen.
Ihr Vater schaute zu Jake, der ebenfalls von Baum geklettert war und -mit einem gewissen Sicherheitsabstand zu ihnen- unter dem Baum stand und die Szene beobachtete. “Du bist wohl ihr Freund?”, fragte er höflich.
“Mein bester Freund”, erklärte Jill stolz. “Das ist Jake.”
“Freut mich sehr, Jake.“ Jake selbst sagte nichts. Plötzlich warf Jills Vater einen nervösen Blick auf die Uhr. “Es tut mir Leid, aber ich fürchte ihr müsst euch jetzt verabschieden.”
Jill war durcheinander. Irgendwie ging ihr das alles viel zu schnell.
Mit weichen Knien ging sie zu Jake hinüber und sah ihn etwas niedergeschlagen an. “Ich weiß gar nicht, was…”
Jake schüttelte nur den Kopf. Sehr zu ihrer Überraschung lächelte er sie wieder an. “Das ist schon in Ordnung. Ich werd dir schreiben, wir können telefonieren und uns besuchen. Außerdem wirst du eine tolle Zeit mit deinem Vater haben. Jetzt könnt ihr endlich alles nachholen!”
Jill schluckte und zwang sich ebenfalls zu einem Lächeln. Wenn Jake das alles so positiv sah, dann würde sie den Kopf auch nicht hängen lassen. “Aber vergiss dein Geschenk nicht”, fügte er hinzu und drückte ihr das kleine bunte Päckchen in die Hand. Obwohl sie sich hatte zusammenreißen wollen, fiel Jill ihm noch einmal um den Hals.
“Auf Wiedersehen”, sagte Jill.
“Ja, bis bald”, verabschiedete Jake sich.
Ihr Vater nahm Jills Hand, als sie gingen. Mit der Anderen drückte sie ihr Geburtstagsgeschenkfest an ihre Brust. Ihre Tante Emma trottete stillschweigend nebenher. Sie drehte sich noch einmal um und warf Jake einen bedrückten und um Verzeihung bittenden Blick zu.
“Zu Hause wartet auch noch ein Geburtstagsgeschenk auf dich…”, erzählte Jills Vater gerade, als das zehnjährige Mädchen einen kleinen Regentropfen abbekam. Sie lauschte weiter seiner freudigen Stimme und schaute zum dunklen Wolken verhangenen Himmel hinauf. Seltsam, eben war er doch noch klar und blau gewesen.
Jake spürte die kalten Tropfen nicht, die auf ihn niederprasselten und immer mehr wurden. Er spürte auch nicht wie viel Zeit verging, bis er sich endlich umdrehte, um ins Haus zu gehen. Er wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Jungs durften doch nicht heulen!
[i]Ende Prolog[i]