Komplementärfarben
Kadmiumgrün
Kapitel 1:
Kadmiumgrün
Jill starrte auf ihre grauen Turnschuhe. Das tat sie immer, wenn sie in Gedanken versunken war.
„Wir sind bald da“, sagte ihr Vater, der neben ihr auf dem Fahrersitz des Wagens saß, in dem sie auf einer scheinbar endlos lang en Landstraßen entlang fuhren.
„Ich weiß“, antwortete sie leise und sah auf. Ihr Blick fiel aus dem Fenster. Das üppig bewachsene Maisfeld und die kleinen Wäldchen- das alles kam ihr irgendwie bekannt. Nein das konnte nicht sein. Es war viel zu lang her.
Es war schon spät. Jill konnte zusehen, wie die Sonne langsam den Horizont berührte, allmählich mit ihm verschmolz und schließlich ganz verschwand. Was blieb, war ein roter Streifen am Horizont, der verblasste, während sie sich der Kleinstadt näherten. Es war Sommer. Die Sonne ging spät unter.
Wie viel Zeit vergangen war, bis der Wagen endlich in die kleine Straße einbog, wusste Jill nicht genau. Sie hatte nicht auf die Uhr gesehen.
„Da wären wir“, sagte ihr Vater, als sie vor einem kleinen Einfamilienhaus hielten. Unter den Laternen tanzten Mückenschwärme und die warme Sommernacht war von Grillenzirpen erfüllt, als Jill schweigend ausstieg und vor der kleinen Gartenpforte stehen blieb. Das Haus ihrer Tante hatte ihr schon immer gefallen, es kam ihr jedoch kleiner vor, als sie es in Erinnerungen hatte.
„Es ist lange her“, sagte ihr Vater, als er neben sie trat und ihr sachte eine Hand auf die Schulter legte.
„Ein seltsames Gefühl“, meinte Jill leise.
„Du wirst dich schnell wieder einleben“, sagte er und sah seine Tochter von der Seite an. „Vielleicht war es nicht richtig, dich damals hier weg zu holen…“
Sie wandte ihr Gesicht zu ihm und schüttelte langsam den Kopf.
„Vielleicht war es egoistisch von, dass ich dich um jeden Preis bei mir haben wollte, Jill“, fuhr er fort und wandte den Blick ab.
Jill zog die Luft ein. So offen hatten sie noch nie darüber gesprochen und sie hatte nicht gewusst, dass er sich solche Vorwürfe machte. Es kam nicht oft vor, dass er so ein trauriges Gesicht zog. Und es gefiel Jill nicht.
Mit einem Schritt trat sie vor ihn und schlang die Arme um ihren Vater. „Du wirst mir so fehlen“, sagte sie leise. Dann spürte sie wie er sie fest an sich drückte und legte den Kopf auf seine Schulter. Der Duft von seinem Parfüm stieg ihr in die Nase. Er roch schon immer so, so lang sie denken konnte. ‚Deine Mutter hat diesen Duft sehr geliebt‘, hatte er ihr einmal erzählt. Ja, er roch schon immer so.
Emma wischte zum vierten Mal den Esstisch ab. Sie war nervös.
Es war fast zwei Stunden her, das Ted angerufen und bescheid gegeben hatte, das sie losfahren würden. Wie lange würde es noch dauern bis sie da waren?
„Ist der nicht langsam sauber?“, fragte ihr Mann Johannes, der mit einem amüsierten Lächeln in der Tür stand.
„Was?“, schreckte sie auf. „Der Tisch“, grinste er sie an.
Achselzuckend warf sie den Lappen in die Spüle und ließ sich auf einen Stuhl sinken. „Mach die keine Sorgen, Liebling“, sagte Hannes, der zu ihr hinüber ging und liebevoll lächelnd ihre Hand nahm. „Das wird schon alles gut gehen.“
In diesem Moment läutete es an der Tür. Emma sprang auf. „Das müssen die beiden sein“, entfuhr es ihr. „Das ist Jill!“
Gefolgt von ihrem Mann, eilte sie zur Tür und zog sie auf.
Und da standen sie. Jillian und Phillip. Emma atmete aus. Phil war noch immer ein gutaussehender Mann. Zwar sah man ihm an, dass einige Jahre vergangen waren, seit dem sie sich das letzte mal gesehen hatten, hier und da ein charmantes Lachfältchen und trotzdem war Emma sich sicher, dass er noch immer Frauen reihenweise um den Finger wickeln konnte, wenn er nur wollte.
Und Jill, mein Gott- Sie war kein kleines Mädchen mehr. Aus ihr war eine junge Frau geworden. Emmas Herz machte einen Hüpfer. Jill war das Ebenbild ihrer Mutter, die schlanke, große Gestalt, die hellbraunen langen Haare und das schmale hübsche Gesicht. Nur die großen, dunklen Augen hatte sie eindeutig von ihrem Vater geerbt.
Da seine Frau die Ankömmlinge nur wortlos ansah, trat Hannes vor. „Willkommen!“, sagte er und reichte zuerst Phil die Hand, dann seiner Nichte. „Kommt doch rein“, bat er und führte sie in das Wohnzimmer.
Noch immer sehr nervös, ließ Emma sich auf den Sessel sinken. Das Schweigen und die förmliche Begrüßung waren ihr mehr als unangenehm. „Mein Gott, wir haben uns so lange nicht gesehen“, brach sie das Schweigen. „Ich freue mich, dass ihr hier seid. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“Jill lachte auf. „Ich auch nicht“, meinte Jill plötzlich. Ich meine, ich habe so lange hier gelebt und trotzdem ist die ganze Situation so seltsam. Es ist so unglaublich lange her“, meinte sie und stellte erleichtert ein Lächeln auf den Gesichtern von Emma und Hannes erkannte.
Langsam verschwand die Anspannung. Sie begannen sich zu unterhalten und sich zu erzählen, wie es ihnen in den letzten Jahren ergangen war.
„Fünfmal?“, entfuhr es Hannes und sah mit großen Augen zwischen Jill und Phillip hin und her. „Ihr seid fünfmal umgezogen?“
Jill zuckte zunächst nur mit den Schultern. „Na, jedenfalls werde ich so weniger Probleme haben, mich hier in der neuen Schule einzuleben, schließlich habe ich Übung“, meinte sie nur und grinste. Emma musterte sie kritisch.
„Ich will, dass sie in ihrem letzten Schuljahr hier bleiben kann. Sie soll sich auf ihren Abschluss konzentrieren können“, erklärte Phil. Hannes und Emma nickten langsam. „Sie kann gern wieder bei uns wohnen“, erklärte Emma und auf ihrem Gesicht zeichnete sich ein mildes Lächeln ab. „Es wird wieder wie früher.“ Ihr Lächeln wandte sich zu einem kleinen Grinsen- „Zumindest fast“, lachte ihr Mann.
Das Eis war endgültig gebrochen. „Lasst uns noch ein Glas Wein trinken“, schlug Hannes vor.
„Eigentlich wollte ich noch heute Abend zurückfahren. Morgen früh habe ich einen Geschäftstermin“, wandte Jills Vater ein.
„Nichts da Phillip“, widersprach ihm Emma augenblicklich. „Wir haben uns schon ewig nicht mehr gesehen und du glaubst du kannst dich einfach so davon machen?“
Phillip sah auf. „Ich habe dir schon das Gästezimmer fertig gemacht“, sagte sie entschieden.
Er grinste. „Du hast dich gar nicht geändert, Emma.“
Emma blickte ihn an und zog die Augenbrauen hoch. „Also gut ich bleibe.“
Sie warf ihrem Mann einen zufriedenen Blick zu, der aufstand und den Raum verließ, während er etwas von einem köstlichen Rotwein murmelte.
Jill war sich nicht mehr genau sicher wie lange sie da saßen und sich unterhielten. War das das zweite oder das dritte Gals Wein? Ein Gähnen konnten sie nicht mehr zurückhalten. Wie spät war es eigentlich?
„Jill. Entschuldige. Du bist sicher müde“, sagte ihre Tante mit einem wissenden Lächeln. „Ich habe dein Bett schon frisch bezogen.“
Jill blickte ihren Vater an, der ihr den Autoschlüssel reichte. Jill grinste schief, nahm den Schlüssel und verlies das Haus, in dem sie ab jetzt leben sollte, um ihr Gepäck zu holen.
Der Gehweg knirschte unter Jakes Schuhen. Die Hände hatte er tief in seinen Taschen vergraben. Es war still. In den meisten Fenstern brannte kein Licht mehr, es war still. Nur das Grillenzirpen hatte auch so spät in der Nacht noch nicht aufgehört.
Ruckartig blieb er stehen, als ein schriller Klingelton aus seiner Hosentasche ertönte.
„Was willst du Kate?“, gab er recht genervt von sich, als er um eine Ecke in die Straße einbog, in dem sein Elternhaus stand.
Ein Poltern, ein kurzer erschrockener Aufschrei- das war das nächste, was er hörte.
Eine Gestalt rappelte sich vom Boden auf und fluchte leise vor sich hin. Jake blinzelte. Er hatte jemanden angerempelt. Ein Mädchen, ein junge Frau?
Jake grinste schief. Sie sah gar nicht schlecht aus. Im Licht der Straßenlaterne musterte er die Fremde. Sie hatte lange braune Haare und ein hübsches Gesicht, dass ein wenig mürrisch auf den aufgesprungenen Koffer, der auf dem Bürgersteg lag. Zerknirscht blickte sie auf.
Jake durchfuhr es wie einen Blitzschlag. Dieses Gesicht, diese Augen… nein, nein, das konnte nicht sein. Die Ähnlichkeit war verblüffend.
„Kannst du nicht aufpassen?“, meinte sie und bückte sich um ihre Sachen aufzuheben.
„Entschuldige, ich helfe dir“, antwortete Jake.
„Jake? Bist du noch dran?“, tönte Kates schrille Stimme aus seinem Handy, dass er immer noch in der Hand hielt. Er verdrehte die Augen, legte auf und beförderte das Telefon wieder in seine Hosentasche.
Die Braunhaarige starrte ihn plötzlich ungläubig an.
„Was ist denn?“
„Jake“, sagte sie so leise, dass er es kaum verstand.“Du bist Jake.“
Jake verstand nicht. „Stimmt. Und wer bist du?“
Jill richtete sich auf. Sie musterte sein Gesicht. Er hatte sich verändert. Seine Züge waren männlicher geworden und mittlerweile war Jake einen halben Kopf größer als sie. Seine dunklen Haare sahen ein wenig durcheinander aus und hingen ihm in die Stirn.
Grüne Augen musterten sie ebenso von oben bis unten. Diese Augen- sie hatten sich nicht verändert.
Jills Herz begann zu klopfen. Sie musste zugeben, wie gut Jake aussah und sie stand in einem weiten, unförmigen T-Shirt vor ihm. Seitdem sie wusste, dass sie hierher zurückziehen würde, hatte sie darüber nachgedacht, wie es werden würde ihn nach acht Jahren wieder zu sehen. Nie hatte sie erwartet, dass sie ihm schon heute gegenüberstehen würde. Darauf war sie absolut nicht vorbereitet.
Ein verwunderter Ausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit.
„Jill“, rief er aus. „Du bist es wirklich.“
Jill kratzte sich am Hinterkopf. „Ja…“, stammelte sie etwas verlegen.
„Ja, und was machst du hier?“, fragte Jake. Kurzerhand bückte er sich und begann die Sachen, die aus dem Koffer gefallen waren aufzuheben.
„Oh, lass nur“, sagte Jill