Schattennacht
Offenbarung
Lautlos bogen sich die Äste der altehrwürdigen Eichen in den Böen des stetig stärker werdenden Sturmes, doch geräuschvoll raschelten die unsichtbaren Blätter des im Frühling erblühenden Laubwerkes in den kalten Luftströmen, auf denen sie tanzend ihrem unvermeidbaren Schicksal entgegenwanderten, während ein einsamer, pechschwarzer Rabe auf den Schwingen des Windes trieb, dessen hämisches, höhnisches Krächzen in den Ohren all jener hallte, die sein bedeutungsschweres Wort zu vernehmen vermochten, der jungen Frau, die sein prachtvolles Gefieder mit unverhohlener Neugier ängstlich betrachtete, ein scheinbares Lächeln schenkend, bevor er, für die Wildheit des plötzlichen Sturmes viel zu langsam, aus ihrem Sichtfeld glitt.
Widerwillig wandten sich die ausdruckslosen Augen der jungen Frau, in der das einst lichterloh brennende Feuer ihrer Seele gänzlich erloschen war, von jenem seltsamen Schauspiel ab und fokussierten sich auf die gebückte Gestalt des Greises, dessen schwarzer Mantel inmitten des wütenden Sturmes bewegungslos von seinen Schultern hing, während sie klamm beobachtete, wie er seine zum Gruße erhobene Hand langsam auf den Knauf seines schweren hölzernen Stabes und damit auf die bereits auf ihm liegende, linke Hand legte, sein Gewicht beinahe gänzlich auf den Stab stützend. Erst nun bemerkte die junge Frau, dass sie das Gesicht des Fremden noch nicht gesehen hatte, da er, obgleich er ihr gegenüber stand, seinen Blick noch kein einziges Mal erhoben hatte.
Als ob der unbekannte Greis die Gedanken der jungen Frau zu lesen vermochte, hob er seinen Kopf mit anmutiger Eleganz empor, deren gleichen sie noch nie erblickt hatte, doch noch während sie die ersten Züge seiner in Falten liegenden Stirn, die von einer zeitlosen Jugend und keinesfalls eines fortgeschrittenen Alters sprach, sah, verschwamm ihr Blickfeld. In plötzlicher Schwäche taumelte sie wenige Schritte zurück, doch ihre schreckensstarren Augen wichen keinen Zentimeter von seinem Gesicht, das, obgleich es in stetigem Wechsel verschwamm und wieder aufklarte, langsam sichtbare Konturen annahm, während sie das ferne Geräusch in heißblütigem Rhythmus ertönender Trommeln zusammen mit dem in den Gestaden unbekannter Länder verblassenden Wiehern edler Rösser vernahm.
Obgleich ihre vor unergründlicher Schwäche zitternden Beine ihr Gewicht scheinbar nicht länger tragen wollten, versuchte die junge Frau, ihren unvermeidbaren Fall hochkonzentriert zu verhindern, da sie spürte, da sie wusste, dass sie vor dem Fremden kein Anzeichen von Schwäche zeigen, ihren Meister nicht enttäuschen durfte, obwohl ihr nicht bewusst war, warum ihr gerade zu diesem Zeitpunkt, an dem sie sich fragte, warum ihr Herz schlug, wenn sie doch nichts zu fühlen vermochte, jene Klarheit geschenkt war, die sie in der Einsamkeit des Waldes gesucht hatte; doch noch während sich ihre Gedanken im Kreise drehten und sie die zeitlose Stirn des fremden Mannes erkannte, brachen ihre schwachen Knie, deren Zittern durch die unheimliche, unmenschliche Präsenz des unscheinbaren Greises verstärkt wurde, ein.
Sie spürte, wie sie fiel, doch ihre schreckensstarren Augen waren noch immer auf die schwarze Gestalt in der Türschwelle gerichtet, während ihr Blick für nicht mehr als einen Wimpernschlag verschwamm; für einen unendlich langen Moment, doch nicht länger als der verblassende Widerhall eines leisen Fingerschnippens, fühlte die junge Frau die sengende Hitze der am Horizont stehenden Sommersonne, hörte sie das unverkennbare Trommeln des Krieges, das Erschallen der Hörner, das Geräusch aufeinanderprallenden Metalls, sah sie den von abertausenden, auf dem trockenen Boden des verlassenen Tals trampelnden Füßen aufgewirbelten Staub, der das Tal in eine undurchdringliche Wolke hüllte, roch sie den Geruch frischen Blutes, das das Erdreich tränkte, und bemerkte nun erst die beiden Männer, die das Geschehen teilnahmslos von einer Erhöhung beobachteten.
Doch bevor die junge Frau erkennen konnte, wer sich hinter den Masken des roten und schwarzen Gewandes, in die die beiden Männer gehüllt waren, verbarg, klarte ihr Blick für wenige Sekunden wieder auf, sodass die Augen des Mannes in ihrem Sichtfeld aufblitzten. Noch während ihres Falls erschauderte sie, als sie in die grauen Tiefen seiner unendlichen, allwissenden Augen blickte, die sie mit einer ausdruckslosen Neugier taxierten, bis der Blick des Lehrlings ein weiteres Mal verschwamm.
Für einen Wimpernschlag in der Unendlichkeit fand sie sich in einem Wald wider, fühlte das feuchte, kühle Klima ihrer eigenen Heimat in jeder Pore ihres Wesens, roch das feuchte Moss des wilden Waldbodens, nahm die dichte Nebelwand, die die dicht beieinanderstehenden Bäume im Zwielicht des sterbenden Tages undurchdringlich erscheinen ließ, wahr, hörte das ferne Ertönen der Kriegshörner, das wilde Einstimmen hunderter, unsichtbarer Männerstimmen in den Tiefen des Nebels, die Stille, in der das Krächzen der Raben, die auf ihre Beute warteten, unheimlich laut erschien, das näherkommende Trappeln hunderter Schlachtrösser, die alsbald durch die Nebelwand brachen und die in altehrwürdigen Kriegsrüstungen gekleideten Kämpfer auf ihren Rücken gegen ihre Feinde trugen, und sah letztlich dieselben beiden, in ein rotes und schwarzes Gewand gehüllten Männer gegen die Stämme naheliegender Bäume gelehnt, die Arme verschränkt, dem Geschehen und der jungen Frau den Rücken zugeneigt.
Die junge Frau wusste nicht, was mit ihr geschah, sie wusste nicht, was sie als nächstes erwartete, als ihr Blick ein weiteres Mal aufklarte, und sie wieder ihren Fall spürte, der sich bald seinem Ende zuneigen würde, da ihre Knie nur noch Zentimeter vom Boden entfernt waren, während sie die rauen, aufgesprungenen Lippen des fremden Mannes erblickte, deren höhnisches Lächeln, das sie getragen hatten, nun einem neutralen Ausdruck wichen, als er sie beobachtete, bevor ihr Blick ein drittes und letztes Mal verschwamm und sie in die fernen Gefilden ihrer Träume entführte.
Doch dieses Mal bemerkte sie den Mann im roten Gewand sofort; einsam stand er inmitten einer wüsten Steppe, umkreist von einem Dutzend wilder Banditen, deren im Licht der Sonne glänzende Säbel auf ihn gerichtet waren, und entledigte sich seines roten Gewandes. Als der rote Stoff raschelnd zu Boden fiel, erkannte die junge Frau keuchend ihren Meister, gekleidet in einem roten Hemd und einer schwarzen Stoffhose, ein elegantes Schwert an seinem Gürtel, der in einer fremden Sprache auf die Räuber einredete, doch nicht mehr als ein hämisches Grinsen erntete, bevor sich der erste Mann, dem ihr Meister den Rücken zugekehrt hatte, aus dem Kreis löste und seinen Säbel nach seinem Hals schwang; doch seine Klinge sollte nie wieder geschwungen werden, da der junge Mann sein eigenes Schwert blitzschnell aus der Scheide zog und dem Angriff des Banditen zuvorkam. Wieder und wieder blitzte die rote Klinge des schwarzhaarigen Mannes im Blutrausch in den farblosen Strahlen der Sonne golden auf, als er schnell wie der Wind mit zeitloser Eleganz zum Rhythmus des donnernden Schlagen seines Herzens um seine Feinde tanzte, dessen Schläge die Zahl der fallenden Körper diktierte.
Schmerzhaft schlugen die Knie der jungen Frau auf dem Boden auf und rissen sie aus den klammen Phantasien ihrer Träume zurück in die Realität des Seins, in der sie in Ohnmacht zu fallen drohte, als sie in das ausdruckslose Gesicht des fremden Mannes blickte, dessen silbergrauen, schulterlangen Haare seine Schläfen bedeckte und dessen Mund Worte formten, die sie nicht zu verstehen vermochte, da das Rauschen ihres Blutes so laut in ihren Ohren hallte, doch noch immer kämpfte sie um ihr Bewusstsein, um ihrem Meister keine Schande zu bringen.
„Wer ist sie?“, erklang die tonlose Stimme des Mannes aus den Tiefen der Hütte, obgleich er noch immer in der Türschwelle verharrte, während er den Blick seines Gegenübers suchte.
„Mein Lehrling“, antwortete der schwarzhaarige Mann kurz angebunden, und doch nicht, ohne dass ein Hauch von Stolz in seiner Stimme mitschwang. „Was willst du hier?“
„Wieso kann sie mich sehen?“, erfragte der Fremde in ebenjenem ausdruckslosen Tonfall, der bereits seine erste Frage dominiert hatte und keinen Widerspruch gewohnt war, mit keiner Silbe auf die Frage des anderen Mannes eingehend.
Doch anstatt auf eine Antwort auf seine Frage zu beharren, drehte sich der junge Mann das erste Mal seit dem Eintreffen des schwarz gekleideten Mannes zu seinem Lehrling um und sog die kalte Luft zischend ein, als er das schreckensbleiche Gesicht seiner Akane sah, in deren Augen sich die Gestalt des alten, jungen Greises spiegelte, und vor ihm wie im Gebet zu knien schien. Ranma bedachte den greisen Mann mit einem durchdringenden Blick blanken Hasses, bevor er sich vor die junge Frau kniete, um ihr den Blick auf den Mann zu verdecken, doch sein Spiegelbild schien in ihre Augen eingebrannt worden zu sein. Langsam lehnte er seine Stirn an ihre Stirn, doch noch immer reagierte die junge Frau nicht, sondern starrte weiterhin regungslos in seine Augen, ohne ihn zu sehen.
„Akane“, flüsterte er ihr zu, während sein warmer Atem ihre Wangen streifte, er die Handfläche seiner rechten Hand vorsichtig und sanft auf ihre Brust über ihrem Herzen legte und seine linke auf ihre Wange legte. „Akane, kannst du mich sehen? Akane? Kannst du mich hören? Konzentriere dich auf meine Hand, sie gibt dir den Rhythmus des Schlagens deines Herzens vor. Konzentriere dich nur auf mich und meine Worte.“
Tief in den Wogen des schäumenden Meeres gefangen, in denen ihre Unschuld in lodernden Flammen verbrannte, kämpfte Akane darum, ihr Bewusstsein zu behalten, um ihrem Meister, dem Mann, den sie liebte, zu beweisen, dass sie seiner Liebe würdig war, als seine warmen Worte über das Tosen des Meeres zu ihr drangen, sie eindringlich baten, sich