Scheinwahrheit

Ich bin...

...Missionvale

Mein Name ist Lana. Einst glaubte ich, alles geschieht, weil das Schicksal es so will. Heute bin ich mir nicht mehr ganz so sicher darüber.

Meine Mutter war HIV positiv. Früher wusste ich nicht, was das bedeutet, doch als meine Mutter eines Tages schlimm hustete, wurde es mir klar. Ihr Mund war rot. Ihre Hände waren rot. Alles war rot. Aids im Endstadium. Das Purpurne kam direkt von ihrem Mund. Sie hustete ihr Leben aus. Dann war sie tot. Für mich würde sie das für immer bleiben.

Mein Vater sah das jedoch anders. Er kümmerte sich kaum mehr um seine oder meine Grundbedürfnisse – er sorgte durch seine nutzlos langen Finger dafür, dass wir zu gar nichts mehr kamen. Weder zu Essen, noch zu Schlaf – von einer Unterkunft mal ganz zu schweigen.

Die letzten Nachbarn, die grundsätzlich nicht gerne bestohlen wurden – schon gar nicht von einem farbigen Landstreicher und seiner minderjährigen Göre – revanchierten sich, in dem sie unsere Hütte, »den Fingerhut«, wie Mutter ihn so liebevoll nannte, ausräucherten. Nichts als Asche blieb uns.

Ich zwang meinen Vater unter Tränen, zu verschwinden, woanders weiterzumachen, doch heute denke ich darüber nach, was wäre, wenn ich ihn einfach hätte liegen lassen und mich daneben gelegt hätte. Wären wir jetzt wohl erlöst? Wäre ich dann wohl bei meiner Mutter?

Ich wusste es nicht. Nie. Weder, als mein Vater eine neue Gemahlin hatte, um sie in demselben Atemzug mit dutzenden Frauen zu betrügen, noch, als er dem Tod knapp bei seinem letzten Coup entging. Bei jedem Schritt, den mein Vater nach dem Sein meiner Mutter ging, dachte ich immer: ‚Das war’s – das war’s’

Mein Vater war ein Strolch und sah jede Frau nach Mutter mit den Augen eines Besitzers. Niemals zollte er ihnen so viel Respekt und Zuneigung entgegen, wie er es bei meiner Mutter tat. Ich konnte mich glücklich schätzen. Ich war gewollt. Ich war ein Kind der Liebe.

Um meinem Namen eines Tages gerecht zu werden, hatte Vater sich in der Nachbarschaft umgehört. Geld. Alles sollte wegen Geld, Ansehen, Rum und langfristig gestillten Grundbedürfnissen seine geregelten Bahnen nehmen.

Alles – das war das Arrangement mit dem gegenwärtigen Don Karlos. Ich erfuhr nie seinen richtigen Namen, doch er sprach Spanisch – immer zu. Mutter hatte mir aus dem Buch vorgelesen. Dem Buch rund um die spanische Geschichte. Don Karlos war der Leidtragende und Drahtzieher des Ganzen. Obwohl er vom Autor auf ein höheres Podium als die anderen Protagonisten gehoben wurde, musste er schlussendlich der Sterblichkeit erliegen – »tragischer Held«, nannte ihn Mutter bei unserem letzten Leseabend unter Tränen. Mutter hatte dieses Buch geliebt. Jede Nacht weinte ich um die Asche, die das Buch nun geworden war. Es war unser kostbarstes Gut und ein stilles Geheimnis zwischen Mutter und mir. Vater wusste nie etwas von der Existenz dieses Buches. Er hätte es sofort zu Alkohol oder Geschmeide degradiert, durch welches er folglich bei den Nachbarn betucht wirken wollte – gewollt, aber eben nicht gekonnt.

Don Karlos meiner Zeit sollte also die Karten mischen, die ihm das Schicksal bereitwillig in die Hände gelegt hatte. Meine Karten. Er wurde seiner Aufgabe gerecht, als er in die Stadt kam, als er meinen Vater bei einem mageren Coup überraschte und Vater schließlich mit ihm zu uns Nachhause kam. Vater hatte ihn des Nachts eigentlich bestehlen wollen, doch Karlos war nicht umsonst ein Don – der Don schlechthin.

Er schlug Vater mit seinen eigenen Waffen.
„Gib mir deine Tochter – oder ich reiße dir die Kehle auf.“

Mein Wimmern ersuchte ich zu erdrücken. Ich kauerte mich wie ein Embryo in die Lumpen und hoffte, der Geruch nach Urin und Abfall, der in unserer bescheidenen, von Maden und Wetter zerfurchten, löchrigen Hütte herrschte, würde mich ohnmächtig machen, mich ganz und gar vergessen machen, ausblenden, dass ich gerade erst zwölf Mondläufe lang auf der Erde verweilte und zum Gut von einem fremden Vertrauten und einem vertrauten Fremden geächtet wurde. Wenn es dort oben jemanden gab, wieso hat er nicht urplötzlich die Hütte Feuer fangen lassen? Wieso ist Don Karlos nicht das Messer aus der Hand gerutscht? Wieso verlor Vater ausgerechnet in diesem Moment seine Kühnheit, dem Tod schallend ins Gesicht zu lachen?

Wieso?

Macht und Ohnmacht.

Ersteres verlor mein Vater in dieser Nacht. Macht über mich, über sich selbst – über sein Leben.
Letzterer erlag ich bis zum Schluss, als Karlos mich aus der schäbigen Hütte nahm, mich wie eine Braut durch die winzige Ansammlung noch viel schäbiger Hütten trug und mich in einer dunklen Ecke auf den Boden absetzte. Sanft, viel zu sanft.

Er sah auf mich herab, als wäre ich die Pastete auf dem Silbergeschirr – als läge ich auf einem Silbertablett und nicht auf einem matschigen, von Müll und Exkrementen verseuchten Boden, dessen Torf nur zu erahnen war.
Tränen liefen mir über das Gesicht und zeichneten still Schlieren auf meiner rußigen Haut.
„Nicht – nicht – still, mein holdes Mädchen“, wagte er, mit sanfter Bestimmtheit, mein Herz zu einem Freudensprung zu zwingen.
So sehr ich diesen Mann auch fürchtete, so sehr mir bewusst war, warum er mich hier her genommen hatte, so sehr konnte ich der Wärme und Güte nicht böse sein, mit der er mich belohnte. Ich war doch noch ein kleines Mädchen. Ich war das Kind der Liebe. Die Tochter der Hoffnung. Ich dachte, wenn ich die Augen fest verschloss, wenn ich an etwas Schönes dachte und mir die geliebten und leblosen Smaragde in Erinnerung rief, die von den onyxfarbenen Wellen sanft umrahmt wurden, dann würde der Kelch gewiss an mir vorüberziehen.
‚Alles ist gut – alles wird gut.’, mein Mantra in dieser Nacht, in der Karlos ‚seiner Braut, die sich nimmer traut’ die Unschuld und Kindheit nahm.

Don Karlos sorgte dafür, dass ich nie mehr »das Kind der Liebe« sein würde. Er holte sich, was er wollte. Er war rücksichtslos und unersättlich – bedrängte mich mehr als dieses eine Mal. Danach machte er sich aus dem Staub – ließ mich armseliger denn je zurück. Kein Geld, kein Ansehen, kein Ruhm für meinen Vater. Vater hatte alles auf eine Karte gesetzt und er hatte haushoch verloren. Er hatte auf voller Linie versagt. Wir tauschten die Rollen.

Am ersten Morgen meines Erwachsenseins trat ich in die Fußstapfen meines Vaters, der sich nicht mehr aus dem Haus traute. »Verlorenes Gesicht«, damit redete er sich aus der misslichen Lage heraus – dieser Hochstapler auf zwei viel zu gesunden Beinen. Anstatt sein Gesicht also zu wahren, versuchte er, die Unordnung aufzuräumen – er ordnete das Chaos; ein sinnloses Unterfangen, doch jedem das seine. Meine Bestimmung war es, von nun an durch die Straßen Missionvales zu ziehen und für Material zu suchen, das uns am Leben erhalten konnte – zumindest provisorisch.

Nach vielleicht einer Woche – das Zeitgefühl war mir völlig abhanden gekommen – entpuppte ich mich als wahres Talent, wenn es um »Stehlen und Bestehlen« ging. Ich säte zwischen Nachbarn die Zwietracht – Freunde zum Zweck wurden erbitterte Rivalen bis aufs Blut; nun »wenn sich zwei streiten, freut sich bekanntlich der dritte«,. Ich beschaffte mir das notwendige Werkzeug, verkehrte mit zwielichtigen Gestalten und schnitt mir sogar »die Sonnenstrahlen« – so bezeichnete Mama immer meine Haare, die sich in verspielten Wogen an Gesicht, Schultern und Rücken schmiegten. Ich gab nie meinen richtigen Namen preis. Besser noch, ich mischte mich als Junge unter die Untergrundgesellschaft.

Schon bald hatte ich mir einen Namen gemacht. Für alle war ich das Phantom. Keiner wusste, wer ich wirklich war oder woher ich kam – doch sie erkannten eine Verbindung zwischen dem Ladendieb Josh, dem Langfinger Jerome und dem Gernegroß Dan. Sie durchschauten mich, doch sie konnten mir nichts nachweisen, nichts anhängen. Ich blieb ein Rätsel auf zwei Beinen, das mit den Schatten verschmolz und schnell wie der Wind davon jagte.

Das Gefühl von Kontrolle gefiel mir. Die Standards, die es mit sich brachte – Mahlzeiten, Schlafplatz, Ordnung – auch. Ich wurde nicht vorsichtiger, aber bequem. Mein Verhängnis.

„Wen versuchst du zu täuschen, kleines Mädchen?“

Wie oft hatte ich mir gewünscht, diese Frage aus dem Mund meines Vaters zu hören? Wie sehr wünschte ich, es wäre meine Mutter, die das zornig wissen wollte? Wie oft wünschte ich mir, es wäre die höhere Macht von dort oben, die sich nach meinem Wohl sorgte? Doch keine Eltern, keine ohnmächtige Macht von dort oben stand mit verschränkten Armen und funkelnden Katzenaugen vor mir. Ich wunderte mich sehr. Noch nie hatte ich so große Augen bei dem anderen Geschlecht entdeckt. Es kam mir so vor, als wäre ich nach jahrelanger Suche auf Gold gestoßen. Der Anblick zerbrach irgendetwas in mir.

Eine unterbewusst längst gefällte Entscheidung reifte wie der Apfel der Zwietracht.
Glück und Unglück suchte sich durch die Augen und die Lippen einen Weg nach draußen.
Ich brach das jahrelange Schweigen durch Grübchen und Tränen im Gesicht.

„Deine Augen sind schön.“, wisperte ich meinem Gegenüber entgegen, schritt weiter zurück, als er die vom Mond fahl beschienene Klinge zur Erlösung an meine Kehle hielt.

„Gib mir, was ich will – sonst zerschneide ich dir die Kehle.“
Ich lächelte verzeihend. „Ich fürchte, du kommst zu spät. Don Karlos hat mich schon zu einer Erwachsenen gemacht – das Privileg kann ich dir nicht mehr bieten, so gerne ich auch wollte.“ Zur Bekräftigung hielt ich ihm beide Hände, die wie hohle Schalen geformt waren, entgegen. Leer.
„Rede nicht so einen Scheiß! Du verdammtes, schmutziges Miststück! Rede nicht! Schweig! Hörst du?! Schweig still!“ Außer sich fuchtelte er mit einer Hand – dann mit dem Messer. Er war wütend, hatte ich doch zu oft und zu gut seine Pläne vereitelt.
Ich hatte
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