Der Augenblick ist Zeitlos
Advent, Advent...
Türchen IX. – Wie Dornröschen
Der erste Schnee hat mich aus dem Winterschlaf geholt. Kannst du dich noch erinnern? Damals, als Schneemänner unsere einzigen Sorgen waren? Als jeder Tag im Winter mit Schneeengeln und Schneeballschlachten eingeleutet und beendet wurden? Die Zeit verstrich und unsere Gewohnheiten gerieten in Vergessenheit. Ehe ich mich versah, waren wir groß geworden. Jedes Mal, wenn sich unsere Blicke kreuzten, schien der Schnee aus der Kindheit zu schmilzen. Es war, als verriete ich unseren zuletzt gebauten Schneemann. Ich habe das Bild immer noch, was wir von ihm geschossen haben. Kannst du dich noch daran erinnern? Ich bin jedes Jahr verzweifelt. Ich bin über diese einfachen Floskeln gestolpert, als wären es meine offenen Schnürsenkel. Es war, als würde meine Zunge trocken wie Schleifpapier werden, wenn ich auch nur den Gedanken an die Worte an dich fasste. Es war schwer. Es war lang. Oft musste ich weinen, aber heute ist der Tag gekommen, an dem dein Dornröschen aus ihrem hundertjährigen Winterschlaf erwacht ist.
Das sanfte Lächeln kann ich nicht mehr aus meinem Gesicht verbannen. Es hängt an mir, wie die Schneeflocken sich in mein Haar verirrt haben. Es scheint, als würde ich über die unschuldig weiße Landschaft schweben – als wäre ich mit zwei unsichtbaren Schwingen der selben Farbe ausgestattet worden. Heute soll es geschehen. Ich bin fest entschlossen. Heute will ich dein Engel sein.
Du rufst meinen Namen. Ich sehe es an deinem halb geöffneten Mund. Dann öffnest du ihn wieder. Du willst noch etwas sagen, aber es kommt nichts. Die ungesprochenen Worte haben Mäntel, die sie unsichtbar machen und sie mit der Nacht verschmelzen lassen. Es ist in Ordnung so, Hauptsache, du bleibst hier.
„Naruto“, hauche ich. Es fühlt sich gut an, deinen Namen über die Lippen gleiten zu lassen, ohne rot zu werden. Es fühlt sich befreiend an, die Buchstaben zergehen auf meinen Lippen als wären sie Sirup.
Du blickst mich verstummt und überrascht an. Dein Gesicht ist so ebenmäßig und makellos. Auf die Wangen hat sich ein rosiger Schimmer gelegt. Niht aus Verlegenheit – ich schätze, es ist der Schnee der Kindheit, der uns wirbelnd und mit sausendem Jubel willkommen heißt. „Hina…ta…“ Die letzte Silbe ist so unendlich zart, so flüchtig wie der reflektierte Sonnenstrahl auf der Wasseroberfläche.
„Heimat ist da, wo meine Lieben sind…“, sage ich, trete einen weiteren Schritt auf dich zu und sehe dir fest in die Augen. „Wo du auch bist, dort will ich auch sein, denn ein Ort ohne dich würde mich augenblicklich obdachtlos machen.“
Ein zögerndes, breites Lächeln breitet sich auf deinen Lippen aus. Es ist so breit, dass es dir glatt vom einen zum anderen Ohr reicht. „Hinata…“, seufzt du. Ich frage mich, was du gerade denkst. So plötzlich, wie dein Blick in die Ferne rückte, kehrte er wieder zurück zu mir. Du legtest deine Hand auf meine Wange.
Dabei musste ich kihern. Du hattest immer noch deine Handshuhe an und ich spürte nur, wie der geschmolzene Schnee zu Wasser wurde und meine Wange langsam herablief. „Hast du ihn zurückgeholt?“, fragte ich leise.
Dein Lächeln war mir Antwort genug und ich musste mich auf die Zehenspitzen stellen, um über deine Schulter hinwegsehen zu können. Tränen der Freude stiegen mir in die Augen. Ein Schneemannn – ein riesiger Schneemann stand da – mit Mörennase, Mandarinenaugen, Mütze auf dem Kopf, Schal um den Hals und einem Besen, der aus Zweigen, Zeit, Geschick und Liebe geflochten war. Deine Hände hatten ihn geformt. Die Hände, die jetzt sanft mein Gesicht umrahmten.
„Ich habe dich vermisst, Hina-chan…“, flüstertest du nahe an meinem Ohr.
Ich lächelte dir zu und packte mein Geschenk aus. „Für dich, Naru…“ Damit legte ich dir den Schal um, an dem ich seit Jahren arbeitete. Jedes Jahr, wenn ich mir wegen ihm in die Finger schnitt, ließ ich es mit ihm bleiben. Doch immer, wenn ein neues Jahr anfing, trudelte auch neue Hoffnung in mein Herz und ich wagte es erneut. Dieses Mal schnitt ich mir wieder in die Finger – mehr als ein Mal – doch ich gab nicht auf und stellte den Schal noch in dieser Nacht fertig.
Als mich der Neuschnee am Morgen des zweiten Advent blendete und Tageslicht grell auf den gestrikten Schal schien, wusste ich, es war so weit. Ich wusste, dass wir heute wieder zueinander finden würden. Jetzt lasse ich dich nie mehr los, ganz egal, wie oft ich mir dafür in den Finger stechen werde.
A/N: Damit wünsche ich euch einen frohen, zweiten Advent – genießt die Weihnachtszeit. <3