Sieben Sünden

Prolog

Prolog "Märchen des Lichts und Dunkels"


„Warte Will!“

Das kleine Mädchen hörte das Rufen ihres Bruders, das schwach durch die dichten Schwaden des abendlichen Nebels drang. Es war dunkel und kalt und ohne ihre zwei älteren Brüder an ihrer Seite fürchtete sie sich, so allein hier in der Dunkelheit.

Ihre kurzen Beine bewegten sich, sie fing zu laufen an, getrieben aus der Angst, dass sie sie zurücklassen und vergessen würden.

„Warte Bruder! Bleib hier!“, rief sie mit aufgeregter, zittriger Stimme, die bereits unter reinen Tränen ein leiser Laut nur noch war.

Sie lief über den alten und mit unebenenen Pflastersteinen versehenden Weg, der vor ihr lag, bis ihre tollpatschigen Laufkünste sie zu Boden zwangen, sie mit den Knien über den harten Boden rutschte und der Stoff ihrer Hose ihre Haut scheuerte, bevor sie sich mit ihren Händen aufzufangen versuchte.

„…Aua! Uweehh…“

„So warte, Willhelm! Komm zurück!“, vernahm das kleine Mädchen die vertraute Stimme ihres Bruders Jacob, welcher nun endlich wieder bei ihr war. Sie hatte ihn sofort erkannt, nachdem er ihr seine warme Hand zum Aufstehen geboten hatte.

„Entschuldige, Lousie. Das hat wohl wehgetan.“

„Was ist los, Lousie? Bist du hingefallen?“, fragte auch Willhelm, der ihr mit einem Finger leicht auf die Stirn tippte, während Jacob sie bei der Hand nahm.

„Lass uns zu dem Brunnen gehen und Verstecken spielen, Louise. Und nur du darfst dich verstecken.“

Louise antwortete nicht, schüttelte nur stumm ihren Kopf und klammerte sich mit ihren Fingern um die Hand ihres Bruders, als sie weitergingen.

„Sie will nicht.“

Sie blieben an dem alten Brunnen des Dorfes stehen, den Ort, an dem die drei Geschwister immer so viel Zeit zusammen verbrachten und wo sie fast jeden Tag miteinander spielten. Auch gestern hatten sie Fangen und Verstecken gespielt. Außer heute.
Heute nicht, denn es war ein sehr warmer Tag gewesen und der Platz überfüllt an Leuten, vorallem Bewohnern dieses Dorfes. Sicher würden sie morgen wieder hier spielen können, dachte Lousie und freute sich bereits jetzt darauf, wenn ihre älteren Bruder morgen aus der Schule wiederkamen.

„Hey, hier ist etwas!“

Willhelm rannte aufgeregt um den Brunnen, an die Stelle, an der er etwas entdeckt hatte und ließ sich, dem Trieb seiner kindischen Neugier nachgebend, achtlos auf seine Knie fallen.

„Oh, wie alt!“

„Was hast du gefunden?“, fragte Jacob.

„Ein Buch…“, antworte er und blätterte wild durch das alte Papier und seine Augen flogen über eine zufällig ausgesuchte Seite.

„Ein gewöhnliches Buch.“, sagte Willhelm, und wälzte den gesamten Inhalt auf die erste Seite zurück.



In dem leuchtenden, strahlenden Zeitalter, in welchem du jetzt lächelst,

ohne jemanden zu hassen oder den Tod zu bereuen,

dort werden wir uns sicher treffen.

- ‚Märchen von Friedhof‘
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