Fanfic: Die Leiden des alten Stain

einzige was den Pflanzen gut tut, ist das CO2, was Sie ihnen zuhauchen!“
Beleidigt strich Sieglinde ein Wort auf ihrer Liste durch:
Selbstmordversuch.
Wenn er nicht bis zu den Knöcheln im Wasser stand und dann gestürzt ist, hat das nichts mit Selbstmord zu tun, das ist nicht einmal Füße waschen.
Das Wort Halluzinationen unterstrich sie fein säuberlich. Zutreffend sollte das bedeuten.
Dann nahm sie das Wort Existenz- bzw. Identitätsprobleme in Augenschein.
„Herr Marmore Stain... ich will Ihnen nichts vormachen, Sie sind wirklich der eigenartigste Patient, den ich je hatte.”
„Ich dachte Sie nennen das lieber GAST?“
„Ja, eigentlich schon, aber Sie sind eindeutig eine Klasse für sich. Also Patient, weil das mit Ihnen könnte länger dauern.“
„Na wenigstens sind sie so offen uns sagen mir das ins Gesicht.“
„Ich kann es Ihnen aufschreiben auch, wenn Ihnen das lieber ist... achja, darf ich Sie Marmore nennen? Da tue ich mir leichter“
„Ja, wenn sie möchten, gerne. Darf ich auch Sieglinde sagen? Oder Siggi?“
„Nein, bitte nicht, ich möchte diese Distanz beibehalten. Danke.“
„Ach, ich verstehe, sie setzen mich herab indem Sie mich mit meinem Vornamen ansprechen und sich selber gehobener vorkommen. Na mir soll es Recht sein, wenn sie dann ihre Autorität als Psychologin besser durchbringen, bitte.“
„Also gut, wenn Sie das so sehen wollen. Machen wir beim Thema weiter. Dass Sie durch ihren Namen natürlich voreingenommen sind, sich als Stein zu fühlen verstehe ich ja noch. Aber dass Sie meinen Sie sind einer, finde ich grotesk! Wenn ich Sie ansehe, sehe ich einen übergewichtigen Mann mit schütterem Haar!“
„Das wird ja immer besser mit Ihnen! Jetzt denken Sie mal logisch nach... Steine SIND schwer! Und haben bekanntlich keine Haare.“
„Wie oft noch, Sie sind ein Mensch.“
„Außen schon, innen nicht.“
„Na schön.“
Energisch ringelte sie „Existenz- bzw. Identitätsprobleme“ ein und malte ein riesiges Rufzeichen daneben. Auf zur nächsten Notiz, Kindheitstrauma. Könnte ja am Namen liegen, außerdem haben Menschen mit Persönlichkeitsproblemen meistens ein Trauma von früher.
Da sie zwei Wochen davor auf einem dreitägigem Seminar für Hypnose war und sich dafür extra ein Pendel in einem Esoterikshop um zehn Euro samt Anleitung zum Pendeln gekauft hatte, wollte sie ihre neu angeeigneten Kenntnisse gleich mal testen. Dieser Kauz von Marmore Stain würde ihr erstes Opfer werden.
Sie stand auf und deutete auf ihre dunkelbraune Ledercouch.
„Legen Sie sich doch bitte auf die Couch, dann werde ich mit Ihnen über Ihre Kindheit sprechen.“
„Muss ich wirklich? Ich würde die schöne, teure Couch doch nur kaputt machen!“
„Wieso?“
„Ich bin ein Stein, ein übergewichtiger mit schütterem Haar und rauer Oberfläche, die manchmal etwas bröselt, aber das Leder sicherlich zerkratzt!“
„Aaah, wissen Sie was, ich lege ihnen gerne meine alte Tagesdecke drüber, wenn es Sie glücklich macht!“
„Oh ja, wie reizend, danke!
Der werte Herr Stain grinste freundlich während Siggi Leid immer verzweifelter wurde. Warum hatte sie diesen Beruf nur gewählt? Um sich dann mit solchen Idioten rumzuärgern? Sich ihre Couch versauen zu lassen? Und sich Moralpredigten über ihre Emotionen anhören zu müssen? Na Bravo, Siggi, das hast du wieder toll gemacht! Sigmund Freud hatte ja anscheinend Spaß an seinem Job, aber sie verfluchte ihn allmählich. Griesgrämig holte sie eine Wolldecke aus einem Schrank und breitete sie auf der Couch aus.
Brav machte er es sich bequem und fragte sich, was die Verrückte jetzt wohl machen würde. Als sie dann mit dem Pendel in der Hand ihren Chefsessel zu ihm schob, hatte er schon so eine Vorahnung.
„Sie wollen mich hypnotisieren?“
„Ja, will ich. Haben Sie etwa ein Problem damit?“
„Ich? Nein, aber Sie werden eines haben.“
„Marmore, ich kann hypnotisieren, ich werde garantiert keine Probleme haben.“
„Aber haben Sie schon mal einen Stein hypnotisiert?“
„Nein, aber meinen Hibiskus!“
„Jetzt lassen Sie doch mal ihre bekloppten Pflanzen aus dem Spiel, wir haben doch wohl schon geklärt, dass sie keinen Intellekt haben so wie ich oder meine Frau oder sogar die Kinder!“
„Was haben Sie nur gegen meine Pflanzen, mein Hibiskus erlebt seine Blütezeit seitdem ich ihn hypnotisiere! Also lassen Sie mich jetzt bitte fortfahren?“
„Nein.“
„Wieso nicht?“
„Ich bin ein Stein, ich habe keine Augenlider, die schwer werden können, oder Blätter oder Blüten! Mich zu hypnotisieren wird eine Lebensaufgabe, ich wünsche ihnen viel Spaß“
„Marmore! Hören Sie mir zu! Sie sind kein Kind mehr, und auch kein verdammter Stein! Sie sind ein Mann, haben Augen und die dazugehörigen Lider! Und ich würde Sie sehr wohl hypnotisieren können!“
„Aber...“
„Aber JETZT ist mir gehörig die Lust vergangen!“
„Wissen Sie was, Frau Doktor Leid? Sie erinnern mich an meine Schwiegermutter. Die war genauso ein Drache wie Sie. Nur konnte man das bei ihr verstehen, sie war ja schließlich ein Lavastein! So zackig und grau wie ihr Äußeres war auch ihr Charakter, ich bin wirklich froh, dass der Vulkan noch einmal ausgebrochen ist und sie wieder geschmolzen hat. Jetzt ist sie wiedergeboren, als neuer Stein, nur haben wir sie nicht wieder gefunden...“
„Sind Sie hergekommen um mir ihre Steingeschichten zu erzählen, oder wollen Sie meine Hilfe?“
„Eigentlich wollte ich ihre Hilfe...“
„Na eben. Also erzählen Sie mir was über ihre Kindheit, wenn ich Sie schon nicht hypnotisieren darf!“
„Meine Kindheit... traurig. Alle Kinder haben mich immer gehänselt mit meinem Namen, Steinzeitmensch genannt oder so. oder sie haben gesungen: „Marmore Stain und Eisen bricht...“ das war sehr verletzend!“
„Aber jetzt brauchen Sie sich doch nicht einreden, dass Sie ein Stein sind, nur weil ihr Name so klingt! Was sind Sie denn von Beruf? Steinmetz?“
„Ah! Sind Sie denn verrückt? Steinmetze sind Verbrecher! Foltermeister, Körperverletzer! Wissen Sie, wie sehr ein einziger Grabstein gelitten hat? Unmengen Qualen hat er durchlebt! Was für eine Unverschämtheit, mir so einen Beruf zuzuschreiben, sind Sie noch bei Verstand? Frechheit.“
„Entschuldigen Sie bitte, aber ich dachte das wäre nur eine Art Tatoo für den Stein...“
„Tatoo? Meine liebe, Sie haben ja Sinn für Humor! Würden Sie es als Tätowierung bezeichnen, wenn Sie jemand mit Hammer und Meißel bearbeitet und ihnen Wörter, Sätze oder Zeichen eingraviert? Ich nicht und sie können die Grabsteine fragen, die werden ihnen das Selbe erzählen. Natürlich gibt es auch freiwillige Grabsteine, die fallen dann aber eher unter die Kategorie Masochist. Wenn sie mit einer Spraydose einen Stein ansprühen, könnte man es noch eher Tatoo nennen.“
„Okay, ich habe verstanden, danke. Was war noch in ihrer Kindheit? Haben Sie etwas gesammelt?“
„Steine.“
„Aha. Was mögen Sie an Steinen denn so? irgendetwas muss Sie ja faszinieren.“
„Ja.. eine ganze Menge. Wir sind kalt, aber doch warm, wir scheinen grau und eintönig, sind aber alle verschieden in Form, Farbe und Struktur! Wenn man es genau nimmt ist jeder von uns ein Abschlag von einem großen Stein, wir waren alle mal eins, eine flüssige Materie! Sehen Sie mich doch mal an, meine Form und Struktur! Ich habe zwei Seiten, die fast viereckig sind, und zwei Seiten die gleichschenkelige Dreiecke sind. Ich habe in meiner grauen Haut hellbraune und weiße Streifen, das sind meine Lebenslinie und so. Ich glänze auch stellenweise sehr schön, bin aber doch rau und habe ein grobes Relief. Meine Rückseite ist meine schlechtere Seite, ich bin sandig und bei weitem nicht so gutaussehend. Aber darunter verbirgt sich ein Stein, von dem manche nur träumen! Man muss manchmal nur seine sandige Haut ablegen und zum Vorschein kommt man selber! Steine sind nicht tote Objekte, die in der Weltgeschichte herumliegen und nur darauf warten zu einem Haus oder einer Straße verarbeitet zu werden, sie leben, denken, fühlen und handeln manchmal sogar, wenn man rollen als Handeln bezeichnen kann. Wir Steine haben es satt, dauernd verarbeitet zu werden, als tote Materie bezeichnet zuwerden! Wir wollen nicht getreten oder begangen werden, nicht sinnlos herumliegen! Wir haben eine Seele, sind Energie, genau wie Menschen und Pflanzen! Sogar Pocahontas hat das gesagt! In Ihrem Film singt sie über uns, berührt einen Stein und dann flattern tausend bunte Schmetterlinge herum! Das ist Leben, sogar jedes Kind weiß das! Nur Sie nicht, sie schändliche Psychologin!“
„So, mein Herr Marmore Stain! Jetzt reicht es mir aber! Das ganze Zeug darüber, wie Steine leben, höre ich mir ja an, aber beleidigen muss ich mich hier nicht lassen, ist das klar? Ich möchte dass Sie jetzt gehen! SOFORT! Die Sitzung ist somit beendet, ich schicke ihnen die Rechnung zu, glauben Sie ja nicht, dass Sie hier noch einmal auftauchen dürfen! Auf Wiedersehen!“
Erschüttert sprang Herr Stain auf und hastete zur Türe. Jetzt zeigte die Frau Leid anscheinend ihr wahres Gesicht. Na, ihm sollte es recht sein. Sein Problem war nicht gelöst, er wurde wegen seiner Vorstellung ein Stein zu sein, immer noch nicht ernst genommen. Wer nimmt einen denn ernst, außer die eigene Frau und die Kinder, wenn es nicht einmal eine Psychiaterin tut? Betrübt ging er nach Hause, doch er freute sich schon auf seine Familie.

Dass sein Besuch an diesem Abend einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat, war ihm nicht bewusst und wird ihm auch nie sein...

Ein Jahr später:
Frau Dr. Sieglinde Leid betritt ihre schöne Wohnung, legt den Schlüssel auf die Ablage und grinst ihren Hibiskus an.
„Guten Abend, mein Schatz! Wie war dein Tag? Ich habe heute wieder gutes Trinkgeld bekommen, darum hab ich dir gleich eine neue Flasche Dünger gekauft!“
Triumphierend wedelt sie mit einer grün-weißen Flasche in der Luft herum
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