Fanfic: Rita Rotfuchs

gemerkt, dass ich es in der Hand gehabt hat, denn am nächsten Tag war es weg und ich habe es seither nie merh wieder gesehen, auch nach ihrem Tod nicht.
Nun, da meine Mutter für mich fast eine Fremde geworden war, endeten meine träumenden Kinderspiele. Ich überredete sie einmal an einem ihrer guten Tage dazu, mit mir in den Beginienhain zu gehen und zuerst schien es sogar, als würde sie wieder ein bisschen aufblühen, bis wir an eine Bank kamen, auf der wir öfter gesessen hatten. Dort wurde sie auf einmal wieder blaß und saß die restliche Zeit nur da und strich mit ihrer Hand wie unbewusst über die grüne Kackierung an einer bestimmten Stelle und sie war dabei so abwesend, dass in mir bald jeder Spieltrieb, der zuerst in mir durch die altbekannte Umgebung geweckt wurde (ich hatte die Trauer um meinen Vater recht schnell verwunden) erstarb und ich nur betrübt zu ihren Füßen saß und meinen Kopf gegen ihr Knie lehnte. Sie bemerkte es wohl kaum, denn sie reagierte nciht und stand irgendwann auf und ging wie eine Schlafwandlerin zurück zum Dorf. Ich lief die ganze Zeit lautlos weinend hinter ihr her.
Aber es gab noch einen anderen Grund dafür, dass ich nicht mehr soviel spielte wie früher und das war die zweite große Veränderung. Denn drei Monate nach meines Vater Tod begann für mich die Grundschule. Ich erinnere mich kaum noch an diese vier Jahre, die ich mit acht anderen Jungen und mehreren Mädchen in einem muffigen Klassenzimmer in der Dorfschule unter Aufsicht einer betagten Lehrering verbrachte, die uns unsere Buchstaben und Zahlen beibrachte und uns mit schlepender Stimme über die Nebenflüsse der Donau und die Opfer des Ersten Weltkrieges aufklärte. Seltsamerweise hatte ich in diesen vier Jahren kaum Streit mit meinen Klassenkameraden, omgleich ich noch immer ein Ausenseiter war. Ich denke heute, dass es daran lag, dass ich meine Rolle als Einzelgänger annahm und mich dannach verhielt. Meine Mitschüler waren mir egal und so hielt es sich auch umgekehrt. Am Anfang versuchte wohl einmal ein Junge, sich mit mir an zu freunden, aber er gab seine Versuche schnell auf und erklärte mir kurzerhand, ich wäre viel zu sehr "in Gedanken".
Diese Bemerkung mag auch in der Tat zutreffen, denn ich erinnere mich, dass ich - obgleich ich in jener Zeit die vertrauten Kinderspiele aufzugeben begann - meistens in einer Art magischen Fantasiewelt lebte, in der ich mir meine eigenen Abenteuer erschuff. Ich will nicht etwa damit angeben, dass ich ein großer Schöngeist gewesen wäre, noch dazu im zarten Alter von sechs Jahren. Meine Träume waren lediglich das Ergebniss meiner Vergangenheit, geprägt durch meine Mutter.
Wenn ich nun so darüber nachdenke, so war ich wohl das einzige Kind in meiner Klasse, dass eine Vergangenheit hatte. Das klingt etwas eigenartig, aber ich will versuchen, es zu erklären.
Die meisten Kinder in meinem Alter hatten ihr bisheriges Leben in blindem Trubel verbracht und wenn man sie gefragt hätte, was sie so alles gemacht hätten im letzten Jahr, so wäre die Antwort zweifellos entweder recht kurz oder äußerst umständlich und unklar gewesen. Diese Art des "In den Tag lebens" ist natürlich für ein kleines Kind, aber obwohl ich nun sicherlich ebensoviel, wenn nicht mehr gespielt hatte wie meine Klassenkameraden, so hatte ich doch in meinen Spielen dank meiner Mutter eine Art fester Ordnung. Sie war der letungsgebende Geist, der meine Spiele mitplante und dafür sorgte, dass ich Spaß hatte. Sie baute eine Art festen Ritualzirkel um mich herum auf, der mir erst jetzt - also weit im Nachhinein - auffällt.
So waren für bestimmte Zeiten des Tages, der Woche, des Jahres, bestimmte Spiele, Lieder oder Geschichten üblich. Große Ereignisse wurden von vornherein geplant und gemeinsam organiesiert, etwas, dass einem kleinen Jungen normalerweise sehr fremd erscheinen mag. Außerdem schrieb meine Mutter gemeinsam mit mir Tagebuch. Es handelte sich hierbei um kleine, etwa 20 · 25 cm große Büchlein, in Graues, mit hellgrauen Wellenmustern in unterschiedlichen Schattierungen bemaltes Umschlagpapier. Meine Mutter schrieb in ihrer kleinen, runden Handschrift Tag für Tag alles auf, was wir taten, von Spaziergängen, über gefundene Schneckenhäuser und Blumen bis hin zu neuen Liedern oder Büchern. Da ich zu jener Zeit natürlich noch nicht lesen konnte, verzierte sie jede Seite mit kleinen Zeichnungen, die das Geschehene verdeutlichten. So konnte ich, ohne auch nur meinen eigenen Namen buchstabieren zu können, schon im Vorschulalter (obwohl ich niemals irgendeine Vorschule oder Kindergarten besuchte) die Geschehnisse der letzten Jahre "lesen".
Irgendwie gelang es meiner Mutter immer, diese Bücher in einem Jahr, also vom ersten Januar an bis zum 31 Dezember, von der ersten bis zur letzten Seite vollzuschreiben, nicht weniger, nicht mehr, sodass sich zuhause, ganz unten rechts im Bücherregal ein kleiner Stapel aus sechs graumelierten Büchlein befand, die ich mitunter herausnahm und "las". Der letzte Eintrag im obersten Buch ist datiert mit 13. April. und der Text geht bis zur Hälfte der Seite. Dann bricht er ab. Seit dem Tod meines Vaters schrieb meine Mutter auch kein Tagebuch mehr. Dieser Brauch war mit ihm gestorben.
Wie erwähnt, bot die Grundschule für mich keinen Anlass zu größeren Erlebnissen. Nicht einmal die Schulreise im vierten Jahr war etwas besonderes, aus dem einfachen Grund, dass ich nicht mitging. Ich konnte mir nicht vorstellen, meine Mutter für eine ganze Woche alleine mit ihrem Kummer zu lassen. Nicht dass ich so sozial war, nein, dass nicht, aber ich konnte mir - und dass ist wohl die ehrlichere Version - nicht vorstellen eine Woche lang ohne sie zu sein, denn obwohl sie nur noch ein Schatten ihrer selbst war, waren in ihr doch noch die Erinnerungen an eine glücklichere Zeit.
Die Ferien, die zwischen der Grundschule und der höheren Schule lagen, waren eine neue Veränderung. Die Ferien davor waren in einer Art Dämmerlicht vergangen mit langen Stunden am Fenster und Gedanken, die für einen Kinderkopf zu schwermütig waren. Ich weiß nicht mehr, was ich damals gemacht habe, irgendwie werde ich wohl gespielt haben oder Radio gehört. Aber in diesen Ferien geschah etwas neues. Und es war für mich wie ein kleiner Lichtstrahl durch eine blinde Fensterscheibe. Denn in der zweiten Woche der Sommerferien öffnete in einem Flügel des alten Rathauses eine Bibliothek.
Eigentlich hatte ich nie besonders viel gelesen. Was ich an Geschichten kannte, hatte ich von meiner Mutter. Wir hatten auch nicht besonders viele Bücher im Haus und was wir hatten interessierte mich nicht, denn es waren zum größten Teil sehr ernste, sachliche Bücher, die meinem Vater gehört hatten. Auch in der Schule hatten wir nicht viel an unseren Literaturkenntnissen gearbeitet. Das einzige, was wir pflichtgemäß gewälzt hatten, war ein englischsprachiger Krimi in primitiever Sprache als Schulaufgabenvorbereitung.
Darum ist es auch eigentlich nicht verwunderlich, dass ich die Bücherei erst in der vierten Woche der Ferien, also mit 14 Tagen verspätung bemerkte, obwohl sonst jedes ausgeschlüpfte Ei innerhalb weniger Stunden im gesammten Ort besprochen wurde. Erst, als ich, auf dem Weg vom Supermarkt, wo ich für das Wochenende eingekauft hatte (ich muss dabei anmerken, dass ich inzwischen alle häuslichen Aufgaben mit Ausname des Einkaufens abgelegt hatte. Meine Mutter tat sie nun ebenso gleichgültig, wie sie alles andere ohne Gemütsregung tat) nach Hause, an einem großen Plakat, das neben dem Eingang zur Bücherei angebracht war vorbeikam. Eigentlich war es weniger das Plakat, das meine Aufmerksamkeit fesselte, als das Mädchen, dass in einem Klappsessel daneben saß und in einem Buch las.
Es ist nun wohl unumgänglich, um meine Einstellungen zu Mädchen und meine Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht zu beschreiben. Da ich wenig Kontakt hatte mit anderen Kinder, hatte ich natürlich auch wenig Kontakt zu Mädchen. Und da ich die Gespräche entbehrte, die zehnjärige Jungen im allgemeinen untereinander über diese exotischen Geschöpfe mit Röcken und Spitzen an den Ärmeln führten, war ich eigentlich ohne Vorurteil. Ich kannte den Unterschied zwischen Männchen und Weibchen, ohne dass er mich anekelte oder nennenswert interessierte und ansonsten hatte ich eigentlich die Mädchen im Dorf kaum bemerkt - etwas, das wahrscheinlich auf Gegenseitigkeit beruhte.
Nun war aber dieses bestimmte Mädchen, dass da mit über einander geschlagenen Beinen in ihrem Klappsessel saß und eifrig las, so auffallend, dass sogar ich, als Ausenseiter und Träumer, zu ihr hinsah.
Das Durchschnittsmädchen in unserem Dorf trug einen langen oder knielangen Rock (jeh nach Jahreszeit) eine weiße Bluse und darüber je nach Laune einen einfachen Schal, eine Joppe aus stoff oder eine kleine Wolljacke. Die Haare waren meist in einem langen Zopf nach hinten gebunden oder in einer Schneckenfrisur auf den Hinterkopf gewunden. So pflegten diese jungen Damen in kleinen Gruppen auf Bänken zu sitzen oder unter Bäumen auf Decken zu knieen. Mitunter sah man auch mal ein paar von ihnen miteinander spazieren gehen, wahlweise schnell gestikulierend oder verhalten kichernd.
Das Bild, dass ich hier zeichne, scheint fünfzig Jahre alt zu sein, aus der Vorkriegszeit, aber man muss bedenken, dass es in manchen Gegenden Frankens, besonders in so kleinen Dörfern eine Art Zeitwirbel gibt, wo sich das altmodische mit dem modernen vermischt. Um keine Unklarheit übrig zu lassen, in dem Moment, als ich mit meinen beiden (modernen) Plastikeinkaufstaschen vor diesem Plakat stand (die Farbe war irgendetwas gelbes, was darauf abgebildet war, weiß ich nicht einmal mehr) und dieses eigenartige Mädchen (den Grund ihrer Eigentümlichkeit werde ich gleich erklären) ansah, ja beinahe anstarrte, war es der neunundzwanzigste Juli des Jahres 1996 und etwa drei Uhr
Suche
Profil
Gast
Style