Fanfic: Rita Rotfuchs
nachmittags. Und da nun die Frage der Zeit beantwortet ist, will ich anfangen, das zu beschreiben, was ich sah, als ich Rita zum ersten Mal begegnete.
Wie die Mädchen unseres Ortes gekleidet waren, habe ich beschrieben. Nun stelle man sich einmal vor, wie es für einen Jungen sein muss, der zehn Jahre lang dieses Bild von einem Mädchen gehabt hat, wenn er einem Mädchen gegenübersteht wie Rita. Es ist ein vergleich, wie wenn jemand, der unter Schafen aufgewachsen ist, auf einmal einem Fuchs begegnet.
Und tatsächlich ist der Fuchs kein so schlechter Vergleich, denn die Haare dieses Mädchens (denn ihren Namen kannte ich damals natürlich noch nicht) waren von der selben Farbe, wie das Fell eines Fuchses. Und ich meine nicht den rotbraunen Pelz des echten Fuchses, wie man ihn im Tierpark (denn in freier Natur begegnet man ihm kaum noch) bewundern kann, sondern von dem feuerroten Fell, dass die Füchse in Bilderbüchern haben. Diese Haare, die in dichten, dicken Locken wie bei einem (Bilderbuch-)löwen um den Kopf loderten, waren rot. Und ich kann bis heute keinen besseren Vergleich finden, als den mit dem Bilderbuchfuchs. Kirschrot, Karmesinrot, Magentarot, Ziegelrot...alles Wörter, die bei mir eine bestimmte Farbe aufrufen, aber keine dieser Farben passt in meine Erinnerung an Rita, obwohl sie, bei genauerer Betrachtung, alle vorhanden waren. Aber in diesem Augenblick, also am neunundzwanzigsten Juli 1996 um etwa 15.00 Uhr nachmittags kam ich nicht zu einer genaueren Betrachtung. Denn unterhalb dieser Haare gab es noch eine Menge mehr zu sehen, was mich verwunderte. Ihre Haut war hell, leicht und gleichmäßig gebräunt wie ein Stück ganz helles Karamel und ebenso glatt Die Augen konnte ich nicht begutachten, da sie niedergescglagen waren um in dem Buch auf ihren Knien zu lesen. Was mir auffiel, war, dass sie sehr schmale Wangenknochen und eine zarte, kurze Stupsnase hatte. Unter dieser Nase kam ein kleiner Mund, oder zumindest die Hälfte davon, denn das Mädchen hatte die Oberlippe über die Unterlippe geschoben und letztere sacht zwischen ihre Zähne gesteckt, ein Ausdruk, den ich noch oft an ihr bemerken sollte. Der Mund, der ein bisschen nach vorne gewölbt war, wie zu einem angedeuteten Kuss ging über in ein rundes Kinn mit einem kleinen Grübchen in der Mitte, das deutlich hervortrat, während sie die Unterlippe zwischen den Zähnen hatte. Dieser Kopf, der an sich schon auffallend war - meine Güte, schon die Haare allein waren auffallend! - saß auf schlanken Hals, welcher aus zwei schmalen Schultern wuchs. Die Schlüsselbeine waren nur andeutungsweise zu sehen unter der (immer noch karamelfarbenen) Haut.
Ihre Kleider waren (für meine Augen) das Auffallendste an ihr. Die trug ein weißes T-shirt, dessen Ärmel bis zur Hälfte ihrer (natürlich karamelbraunen) Oberarme reichten und darüber eine Latzhose aus hellblauem, ausgebleichtem Jeansstoff. Die zwei Träger, von denen einer von ihrer Schulter heruntergerutscht war, endeten in bronzefarbenen Schnallen, die am Brustlatz befestigt waren. Auf selbigem Brustlatz aber prangte stolz das Abbild eines knallgelben Entenkükens, dass aus einem anderen, dünneren Stoff ausgeschnitten und angenäht worden war. Die Beine dieser Hose (ein Mädchen in Hosen war etwas, dass ich erst zwei oder drei Mal bei Touristen gesehen hatte...) waren ausgebäult und zu lang, sodass der Saum an der Rückseite ausgefranst war vom Drauftreten. Die Schuhe, die dies angerichtet hatten, waren alte, ausgegraute Trainingsschuhe mit zwei verschiedenen Schnürsenkeln - einem schwarzen und einem roten. Die ganze verwegene Gestallt mochte etwa in meinem Alter sein also etwa zehn Jahre alt und las (wie gesagt) in einem Buch. Es handelte sich hierbei um ein gebundenes Exemplar eines Jugendbuches, dessen Titel ich vergessen hatte. Es war abgegriffen und hatte auf dem Buchrücken einen kleinen Blauen Aufkleber, wie alle Bücher der Bibliothek.
Wahrscheinlich hatte das Mädchen schon lange bemerkt, dass ich sie ansah, aber obwohl ich sie sicher füfn Minuten lang betrachtet hatte, wendete sie immer noch nicht ihren Blick von dem Buch. Ich für meinen Teil war mir nicht einmal bewusst, dass ich sie anstarrte, denn sie erschien mir so fremd und eigenartig, als wäre sie eine Art Pflanze oder ein Ausstellungsobjekt, dass man nun mal mit Interesse betrachtet. Umso größer war mein Erstaunen, als sie auf einmal von ihrem Buch ausblickte und mir direkt in die Augen sah. Zwischen uns lagen wohl etwa fünf Schritte, aber dennoch erkannte ich sofort, dass sie grüne Augen hatte, grün wie frischer Waldmeister. Und diese grünen Augen sahen mich ohne Scham oder Schüchternheit direkt an. Dann öffnete dieses seltsame Mädchen auch noch den Mund und sagte mit einer ganz normalen Mädchenstimme: "Na, Tiger. Was besonderes zu sehen?".
Ich gab keine Antwort. Nein, ich stand da wie eine Salzsäule und starrte sie weiterhin an. Diese Mädchen verblüffte mich. Nicht nur, dass sie absolut fremd und seltsam aussah, nein, sie hatte obendrein auch noch die Dreistigkeit, eine ganz normale Stimme zu haben und mich mit dieser ganz normalen Stimme einfach anzusprechen. Wie hatte sich mich genannt? Tiger? Wieso Tiger? Und warum sprach sie mich an. Es war mir nicht bewusst, dass es ganz normal ist, dass man jemanden anspricht, der einen fünf Minuten lang ununterbrochen angesehen hat. Aber diese sechs Worte waren einfach zu viel für mich, noch dazu vorgetragen in einem ganz alltäglichen Ton, mit einem kleinen frechen Beigschmack, als ob sie mit einem potenziellen Gegner sprechen würde. War ich das? Was wollte sie denn von mir? Erwartete sie eine Antwort? Wollte ich denn eine geben? Und wenn ja, was für eine? Das denke ich im Nachhinein, dass ich mich hätte fragen können aber was ich wirklich dachte war: Nichts. Ich dachte nichts, oder höchstens daran, dass ich eigentlich nach Hause müsste, weil das Eis in der Plastiktasche sicher schon schmolz und aus seiner Dose laufen würde, sobald ich die zuhause aufmachen würde.
Ich stand einfach da und starrte dieses Mädchen an, dass mich Tiger genannt hatte und war einfach verwundert. Und gerade, als sie den Mund öffnete - vielleicht um mich noch etwas zu fragen - kam eine Gestallt aus der Türe der Bibliothek und rief etwas, das ich nicht verstand. Was ich mitbekam, war, dass das rotharige Mädchen antwortete: "Ich komme, Mami!" und aus ihrem Stuhl aufstand, den Zeigefinger zwischen zwei Buchseiten. Sie drehte mit den Rücken zu und lief mit raschen Schritten richtung Tür. Auf der Schwelle drehte sie sich noch einmal um, zwinkerte mir mit de, rechten waldmeistergrünem Auge zu und rief: "Vielleicht bis bald, Tiger." Dann ging sie hinein.
Ich blieb noch etwa eine Minute stehen und sah den leeren Klappsessel an, dann ging ich nach Hause und lies dort das flüssige Eis in eine Schale laufen, die ich ins Kühlfach stellte, um den Nachtisch für Sonntag wieder in eine feste Form zu bringen.