Offenbarung
Ohne Gedächtnis
Vollkommen erschöpft lehnte sie sich gegen das Tor der kleinen Kapelle. 'Wie bin ich hier hin gekommen?' Jeder einzelne ihrer Muskeln schmerzte und auch ihr Kopf fühlte sich an als hätte ihr jemand mit einem Hammer einen kräftigen Schlag verpasst. ‚Bin etwas hier eingeschlafen? Hat man mich vergessen?’ Sie schüttelte leicht den Kopf , um den Nebel der über ihren Gedanken lag zu vertreiben. Es nutzte nichts. ‚Wer bin ich überhaupt? Ich kann mich nicht erinnern.’ Verzweifelt sah sie sich um, suchend nach etwas das sie wieder erkannte. Doch nichts,... Die Landschaft um sie herum lag in vollkommener Dunkelheit, der Himmel war verdeckt von einer dichten Wolkendecke, die nichts durchdringen lies. Vorsichtig wagte sie einen Schritt auf die Steinstufen, ihre Beine wollten ihr noch nicht so recht gehorchen und sie ging gleich auf der ersten wieder in die Knie. Dann riss die Wolkendecke eine Spalt auf und lies das Licht des Mondes durch. Nun konnte sie auch wieder sehen, was sich um sie herum befand und wünschte sich sogleich, sie könnte es nicht.
Sie befand sich inmitten eines Friedhofes, der im fahlen Schein des Vollmondes noch unheimlicher wirkte, als er es ohnehin schon täte. Ein kalter Schauer lief ihr über den schon frierenden Körper und bibbernd rieb sie ihre Hände übe ihre Oberarme, um so etwas Wärme zu bekommen, was allerdings nichts half. Jetzt erst sah sie an sich herab, sie trug ein wunderschönes, kurzes Kleid, welches mit seinen Spaghettiträgern nicht wirklich wärmend war. Sachte fuhr sie mit den Fingern über den edlen Stoff und erschrak. Unter dem Kleidungsstück konnte sie die Fäden einer grausigen Naht fühlen, sie hob ihren Ausschnitt etwas an, um sie die Sache genauer begutachten zu können. Ihr stockte der Atem, als sie die groben Stiche sah mit denen ihr Bauch zusammengeheftet war, schell bedeckte sie das gesehne wieder und legte zitternde die Hand auf die Stelle. Langsam breite sie eine eigenartige Wärme auf ihrem Unterleib aus.
„Das kann doch nicht sein.“ Flüstere sie in die Stille der Nacht hinein. Noch einmal wagte sie einen Blick unter ihr Kleid und atmete auf – die Naht war verschwunden. „Hab ich mir das nur eingebildet?“
Wieder wanderte ihr Blick über den Friedhof, suchend nach einem Ausgang, denn hier wollte sie nicht wirklich verweilen. Trauer überkam sie. Die Gräber wirkten verwahrlost und vergessen. Statt Blumen waren auf der dunklen Erde nur noch erdorrte Stängel zu sehen und die Steine waren schief und teilweise abgeschlagen. ‚Wie kann man seine Toten nur so vergessen?’ Schon nach kurzen Augenblicken hatte sie das rostige Eisentor ausgemacht und sie stand, mit noch immer schwachen Knien, auf. Jeder einzelne Schritt die Stufen hinab entlockte ihr ein schmerzvolles Stöhnen und als sie endlich das knirschen des Kies unter ihren Füssen hörte, wollte sie schon erleichtert aufatmen, doch der Weg zum Ausgang war noch weit. Schwankend setze sie eine Fuß vor den anderen, jede Bewegung ihres Körpers brannte wie Feuer. Sie biss die Zähne zusammen, immer das Ziel vor Augen, den Blick starr nach vorne gerichtet. Sie wollte sich nicht umsehen, sich nicht fürchten. Sie konnte es auch gar nicht, ihre gesamte Konzentration galt dem Vorwärtskommen. Irgendwann aber verließen sie die Kräfte und sie musste sich an einem der toten Bäume abstützen. Sie fror erbärmlich und das Klappern ihrer Zähne hätte sogar die Krähen auffahren lassen , wenn welche da gewesen wären. Diese absolute Stille verängstigte sie mehr, als wenn der Ruf einer Eule erklungen wäre. ‚Dabei ist mir in den Gruselfilmen immer eine Gänsehaut gekommen. ... Ach ja? War das so?’ Grübelnd über diesen Hauch einer Erinnerung lehnte sie sich an dem Stamm und langsam stieg eine wohlige Wärme in ihr auf und auch ihre Kräfte kehrten soweit zurück, dass sie sich wieder weiter wagen konnte. Erst weniger als die Hälfte der Strecke war geschafft, doch fielen ihr die Schritte jetzt leichter und der Ausgang, ihr Ziel, kam näher.
Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, dennoch war sie enttäuscht als sie den letzten Ruheort der Menschen verlassen hatte. Vor ihr lag eine holprige Landstraße, weit und breit keine Menschenseele zu sehen, nirgendwo ein Licht zu erblicken.
Verzweifelt sank sie auf den kalten Erdboden nieder und kauerte sich an den Pfeiler des Eisentors, welches laut knarrte als sie dagegen stieß. Erschrocken drehte sie sich um, und schaute noch einmal in die Richtung aus der sie gekommen war. „Tod. Überall nur Tod.“ Sagte sie zu sich selbst, nur um überhaupt eine menschliche Stimme zu hören. Auf der Straße vor ihr, sah es nicht besser aus als auf dem Friedhof selbst. Das Gras war vertrocknet und braun, die Büsche am Straßenrand, waren nicht mehr als eine Ansammlung dürrer, kahler Zweige. Vorsichtig kroch sie unter die Zweige eines dieser, um etwas von dem kalten, scharfen Wind geschützt zu sein, der nun aufkam. Die Äste legten sich schützend und wärmend um sie und das erstemal heute fühlte sie sich geborgen und beschützt. Immer wieder fielen ihr die Augen zu, wollten einfach nicht offen bleiben. ‚Wann nur bin ich so müde geworden, oder war ich es nicht schon die ganze Zeit?’ Lange konnte sie nicht darüber grübeln, denn schon hatte sie der Schlaf übermannt.
„Dein Weg hat erst begonnen, doch du wirst nicht allein sein. Ich werde über dich wachen, nicht nur wenn du schläfst.“ Und ein Lächeln huschte über sein Gesicht, dass er in der Dunkelheit verbarg.
Ein Gewirr von aufgeregt klingenden Stimmen weckte sie. Ihrer Meinung nach war erst viel zu wenig Zeit vergangen, seit sie ihre Augen geschlossen hatte, um zu schlafen.. Vorsichtig, in Erwartung geblendet zu werden, öffnet sie ihre Augen. Es dauerte eine Weile, bis sie etwas erkennen konnte. Ihre Augen mussten sich erst and die Dunkelheit gewöhnen, die noch immer herrschte. Nein, eigentlich war es nicht mehr dunkel, eher düster, wie an einem verregneten Tag. Ihre Hände gruben sich durch das Blätterwerk, dass ihr die Sicht auf die Menschen nahm, die direkt vor ihr stehen mussten. Sie spähte durch die kleine Öffnung, und sah 2 Männer und 2 Frauen lebhaft miteinander diskutieren. Die Worte konnte sie nicht verstehen, vielleicht weil sie so wild durcheinander redeten, vielleicht auch weil es eine fremde Sprache war. Der Grund für die Aufregung schien ein kleines, grünes Blatt zu sein, welches der eine in der Hand hielt. Ihr war das nicht ganz geheuer, und die versucht sich leise davon zu schleichen. Leider ließ sich ein leises Rascheln der Blätter nicht vermeiden und schon waren sämtlich Blicke auf sie gerichtet. Alle starrten sie an und auf sie zeigend kamen sie Schritt für Schritt näher. Alle vier redeten wild auf sie ein und sie verstand noch immer kein einziges Wort. Verängstigt fing sie einfach an zu laufen, ohne auf den Weg zu achten, ohne sich umzublicken. ‚Nur weg’ war ihr einziger Gedanken. In ihren Sandaletten konnte sie nicht sonderlich schnell laufen, nur dem Zögern der kleinen Gruppe verdankte sie einen größeren Vorsprung.
„Na, na, na. Wohin so eilig.” 2 Arme, die zu einem jungen Mann gehörten hielten sie fest. Sie war einfach in ihn hineingelaufen. Gehetzt blickte sie nach hinten. „Bitte lass mich los!“ Eine kleine Träne glitzerte in ihrem Auge. „Hab keine Angst, ich tu dir nichts.“ Er hatte eine sehr sanfte Stimme und bei seinen beruhigenden Worten blickte sie erstmals auf. Sie sah in zwei wundervolle braune Augen, die liebenswürdig zu ihr hinunterschauten. Schlagartig vergaß sie alles um sich herum, vergaß ihre Angst. „Ich bin Sophus, und du?“ – keine Antwort, noch immer starrte sie ihn geistesabwesend an, gefangen von seinen Augen. Erst als er sie leicht schüttelte, kam sie wieder zu sich. „ Ich ... ähm ...“ Jetzt fiel ihr auch wieder ein, wieso in diesen Mann gerannt war und blickte ängstlich hinter sich. „Ich muss hier weg.“ Und wollte sich von ihm losmachen. Sophus lies dies aber nicht zu. „Komm mit!“ er nahm ihre Hand und zog sie einfach mit sich fort. Unsicher stolperte sie hinter ihm her.
Sie liefen entlang der Steinmauer, die den Friedhof umgab, das tote Gras raschelte unangenehm unter ihren Füßen. Bald hatten sie das Ende der Mauer erreicht und bogen ihr weiter folgend an deren Ecke ab. In cirka 100 Metern Entfernung , am Ende dieser Seite, waren einige Häuser zu erkennen. ‚Anscheinend ist das unser Ziel.’ Dachte sie noch, als sie hinter sich auch schon ihre Verfolger hören konnte und ihre Stimmen wurde unaufhörlich lauter, was annehmen lies, dass sie näher kamen. Unwillkürlich drückte sie seine Hand, hielt sich an ihr schutzsuchend fest. Sophus drehte sich nicht um, er bemerkte ihre Unruhe und erwiderte einfach ihren Händedruck. Sofort entspannte sie sich merklich. Inzwischen waren auch die Häuser näher gekommen, bis dahin hatte sie kaum auf ihre Umgebung geachtet, in Gedanken immer bei ihren Füßen, die ständig über Steine zu stolpern drohten. Doch jetzt besah sie sich das vor ihr liegende genauer.
Die Häuser waren grau und in einem erbärmlichen Zustand. Den Dächern fehlten Ziegeln, die Mauern hatten Risse und die Fenster waren eingeschlagen. Ihr Begleiter führte sie zwischen den Häusern hindurch, schmalen Gassen entlang und um viele Ecken herum, sie hatte schon längst aufgeben zu versuchen sich den Weg zu merken. Nun waren sie nun auch allein, hatten die Leute hinter ihnen abgehängt und ihre Schritten wurden langsamer, ruhiger. Die Wege hier waren ebener, enthielten keine Stolperfallen mehr und sie konnte ihn das Erste mal, seit sie ihn getroffen,