Wenn Schnee schmilzt
Ich bin einsam
Wenn Schnee schmilzt
Wenn Schnee schmilzt
Untertitel: Ich bin einsam
Der Himmel war grau, bald würde es anfangen zu schneien. Ich seufzte und kämpfte mich weiter durch das Gewühl der Menschen. Sie hetzten durch die Stadt mit einem seligen Lächeln auf den Lippen, bepackt mit Einkaufstüten.
„Was ist es nur, dass sie so glücklich machte?“, fragte ich mich, obwohl ich es bereits wusste. Ich verstand es einfach nicht, hatte es nie verstanden. Wie konnte man sich nur so auf einen einzigen Tag des Jahres freuen? Ich hatte diesen Tag nie gemocht. Ich schüttelte den Kopf. Ich würde es nie begreifen. Es war mit egal. Ich ging weiter und achtete nicht mehr auf die Menschen um mich herum. Was kümmerten sie mich? Ich war allein, wie immer, und es war mir auch ganz recht. Ich hatte mich daran gewöhnt.
Der Wind zerzauste mir meine Haare, als ich die Innenstadt verlies. Ich folgte der Straße und stand nun direkt am Meer. Seufzend lehnte ich mich an das Geländer. Das Meer war zerzaust und unruhig wie meine Haare mit denen der Wind spielte. Eine einzige kleine Schneeflocke segelte vom Himmel herab. Sie war so weiß und rein, ich musste meine Hand ausstrecken um sie zu fangen. Sofort schmolz sie und hinterließ nichts als einen nassen Fleck.
Ich seufzte. Schade. Aber was hatte ich denn auch anderes erwartet? Ich sah mir wieder das Meer an. Es war nicht blau sondern grau, grau wie der Himmel. Schnell blickte ich mich um, konnte aber niemanden sehen. Sehr gut. Leise fing ich an zu singen, es war so beruhigend. Wie lange ich so dortstand und sang, wusste ich nicht, ich hatte keine Uhr und es war eh egal. Plötzlich hörte ich ein Geräusch hinter mir. Erschrocken drehte ich mich um und entdeckte dort zu meinem Entsetzen ein Mädchen. Es lächelte warm.
„Du singst schön“, meinte sie immer noch lächelnd. Ich blickte das Mädchen mit großen Augen an. Niemand hatte mich bisher singen hören.
„D – du hast zugehört?“, fragte ich nervös. Das Mädchen nickte lächelnd.
„Du hast eine wunderbare Stimme!“
Ich schüttelte den Kopf und wich zurück bis ich mit dem Rücken am Geländer stand. Verwirrt schaute mich das Mädchen ab. Sie hatte wirklich schöne Augen, groß und strahlend blau, wie das Meer an sonnigen Tagen war.
Es fielen jetzt viele Schneeflocken vom Himmel und landeten in meinem Haar, doch das interessierte mich nicht. Ich musste hier weg. So schnell ich konnte rannte ich los. Ich hoffte, ich würde sie damit loswerden, doch meine Hoffnungen wurden wie immer nicht erfüllt. „Warte!“, reif das Mädchen keuchend. Sie rannte mir hinterher. Warum nur? Zum Glück war ich schon immer sehr sportlich gewesen und das Mädchen war, wie es mir schien, ziemlich unsportlich. Plötzlich hörte ich einen Schrei. Es war das Mädchen. Ich wollte weiterrennen, doch ich blieb stehen. Ich wusste nicht warum, aber ich drehte mich um. Sie lag auf dem Boden, sie musste hingefallen sein. „Sehr gut“, dachte ich, „endlich bin ich sie los.“ Ich wollte mich umdrehen und gehen, doch das Mädchen hob den Kopf und ich sah wieder ihre wunderschönen Augen. Sie hielten mich fest, ließen mich nicht gehen. Ich sah in diesen Augen all das, was ich mir immer gewünschte hatte.
Langsam lieg ich durch den Schnee und ging vor ihr in die Knie.
„Brauchst du Hilfe?“
Sie lächelte und setzte sich auf.
„Du bist komisch.“
Ich sagte nichts und sie lächelte. Und so saßen wir dort im Schnee bis ich bemerkte, dass sie zitterte.
„Ist dir kalt?“, fragte ich leise. Sie nickte.
„Ich bring dich nach Hause.“ Warum ich das sagte wusste ich nicht, doch es war richtig, das wusste ich. Das Mädchen lächelte und nickte wieder. Wir standen auf und ich klopfte mir den Schnee von der Hose. Schweigend gingen wir nebeneinander her. Es war schön nicht alleine zu sein.
„Wie heißt du eigentlich?“; fragte mich das Mädchen und lächelte mich an. „Ich heiße übrigens Mina.“
Ich sah sie an, sie strahlte immer noch.
„Sophie…“, nuschelte ich und Mina gab sich damit zufrieden.
Wieder schwiegen wir. Es schneite immer noch.
„Hier wohne ich“, sagte Mina plötzlich. Ich sah mich um. Waren wir tatsächlich schon da? Die Zeit war wie im Fluge vergangen. „Warum nur?“, fragte ich mich, dabei wusste ich es bereits.
Mina griff in ihre Jackentasche und zog einen Schlüssel heraus. Gleich würde ich wieder alleine sein, wie ich es schon immer gewesen war, doch nicht wie sonst war es mir egal, nein, ich war traurig.
Mina öffnete die Tür und ging rein. Ich wollte schon „tschüss“ sagen, als sie sich noch mal umdrehte. Ihre blauen Augen leuchteten.
„Willst du nicht noch mit reinkommen?“
Das hatte ich nicht erwartet und ich stand stumm da. Mina blinzelte mich leicht verwirrt an.
„Hast du keine Zeit?“
Ob ich Zeit hatte? Ich hatte alle Zeit der Welt. Meine Mutter war gestorben als ich 5 war und als ich 12 wurde verlor mein Vater seinen Job. Er fing an zu trinken und hörte auf sich um mich zu kümmern. Es war ihm egal geworden, ich war ihm egal geworden. Er bemerkte nicht mal, wenn ich ging oder wann ich wiederkam. Er saß nur vor der Glotze und trank. Ich hatte alle Zeit der Welt. Aber wollte ich bei Mina bleiben?
„Ich komme gerne noch mit rein“, antwortete ich. Ich wusste nicht warum ich bleiben wollte, aber das war mir egal. Mina strahlte und ich trat ein. Das Haus war groß, ihre Eltern mussten gut verdienen.
Wir setzten uns an einen großen Tisch und Mina holte uns etwas zu trinken. Warmen Tee. Er wärmte mich auf, ich hatte gar nicht bemerkt, wie kalt mir geworden war.
„Wo sind deine Eltern?“, fragte ich das Mädchen. Minas Blick wurde traurig und ich bereute, dass ich gefragte hatte.
„Meine Mutter arbeitet. Sie arbeitet fast immer, hat nie Zeit für mich. Sie ist Anwältin“, fügte sie hinzu und sah zu Boden. „Mein Vater ist tot.“
Ich schwieg. Mina sah mich verwundert an.
„Warum sagst du nicht, dass es dir Leid tut, wie alle Anderen auch?“, fragte sie und sah mich an.
„Weil du es nicht hören willst“, antworte ich. Mina schaute mich noch verwunderter an, doch dann begann sie zu lächeln.
„Du hast recht“, meinte sie. „Ich hasse es, wenn mir das jemand sagt. Woher wusstest du das?“
Ich wollte schon antworten, doch ich sagte nichts. Ich wollte nicht, dass sie traurig wurde. Ich wollte ihr Lächeln weiter betrachten. Mina fragte nicht weiter.
„Lass uns Weihnachten feiern“, rief sie fröhlich. Ich wurde blass. Ich hatte noch nie Weihnachten gefeiert, zumindest konnte ich mich nicht daran erinnern .Ich war an diesem Tag immer alleine gewesen, ein Tag wie jeder andere auch. Mina bemerkte mein Zögern, stand auf und zog mich hoch. Ihre blauen Augen flehten mich an, sie wollte nicht alleine sein und ich merkte, dass ich es auch nicht wollte. Es war komisch. Wie hatte sich alles nur so schnell ändern können?
Ich nickte Mina zu. Sie strahlte und hüpfte aufgeregt herum, wie ein kleines Kind, dabei konnte sie nicht viel jünger sein als ich.
Wir schmückten den Baum, erzählten uns Geschichten und aßen Gebäck. Es war so, wie ich mir Weihnachten immer vorgestellt hatte. Nicht allein, sondern zusammen. Ich war glücklich, zum ersten Mal. Es war ein merkwürdiges Gefühl, doch es gefiel mir.
Ich sah nach draußen. Es war dunkel geworden, aber es schneite weiter.
„Bleibst du heute Nacht?“, fragte Mina mich leise und lächelte. Und da fiel es mir auf: Ich wollte nicht nach Hause, zurück zu meinem trinkenden Vater, zurück zur Einsamkeit. Ich wollte hier bleiben.
Mina war glücklich, als sie das hörte. Sie brachte mich in ein schön eingerichtetes Zimmer, scheinbar das Gästezimmer. Ich sagte Mina gute Nacht, lies mich auf das große Bett fallen und schlief ein. Ein Schlaf ohne Albträume, ganz anders als sonst. So friedlich.
Am nächsten Morgen frühstückten wir. Ihre Mutter war nicht da und ich fragte nicht, ich wollte nicht, dass Mina traurig wurde.
„Es war sehr schön, danke“, sagte ich leise zu ihr als ich mich verabschiedete.
„Werden wir uns wieder sehen?“
Minas Stimme klang traurig, doch als ich nickte, begann sie wieder zu strahlen. „Wirst du dann für mich singen?“
Ich zögerte, doch dann nickte ich wieder. Warum auch nicht?
Ich verlies das Haus. Es schneite noch immer. Ich streckte meine Hand aus und zwei kleine, weiße Schneeflocken landeten auf ihr. Sofort begannen sie zu schmelzen. Ich lächelte und ging weiter. Nach Hause. Denn jetzt war ich nicht mehr alleine.