Fanfic: Die Reisende
Kapitel: 1. Zug ins Nirgendwo
Ich sitze auf einem mit wohl ehemals rotem Stoff bezogenen Sitzplatz, jetzt ist nur noch grau und durchgewetzt, nur wenige Stellen deuten seine ehemalige Farbe hin. Wie viele haben vor mir auf ihm gesessen? Wie viele namenlose Gesichter haben wie ich aus dem schmutzigen Fenster geschaut, nach dort draußen in diese unwirkliche sich drehende Welt, während sie ihrem Ziel entgegenfuhren? Vielleicht weiß er es und würde es mir auch verraten, wenn ich doch nur wüsste, wie genau ich ihn fragen müsste. Aber mir fehlen die Worte in diesem stickigen Raum, wo so viele Menschen die Luft verbrauchen. Und so bleibt sein Geheimnis, für immer nur ihm zugänglich.
Neben mir sitzt eine alte Dame, sie hat weißes Haar und von der Brille riesige blaue verwaschene Augen, die schon viel gesehen haben müssen – gutes wie auch schlechtes. Mit der rechten Hand umklammert sie einen Gehstock. Auf dem Sitz mir gegenüber sitz ein Mann in einem grauen Anzug, er müsste so in den späten Dreißigern sein, auf seinem Schoss ein Laptop, auf dem er lustlos herumtippt. Sein Anzug zeugt von gutem Geschmack und einem gewissen Reichtum, genau wie der Laptop, aber man muss für alles bezahlen, einige später andere früher. Er musste wohl früh bezahlen, seine Augen sind alt und müde, in dem rabenschwarzen Haar werden die ersten grauen Strähnen sichtbar. Wird ihn zu Hause jemand erwarten? - Vermutlich nichts mehr als eine leere Wohnung und noch mehr Arbeit, in der er zu versinken versucht. Neben ihm sitz eine junge Frau, wahrscheinlich eine Studentin, denn sie hat neugierige Augen und einen Flickenrucksack vor den Füßen, aus dem ein Campusplan lugt, in der Hand einen Liebesroman. Sie ist völlig vertieft ihn in und kichert manchmal leise, das Buch ist schon alt, oft gelesen und mit Eselsohren an den Seiten.
All das sehe ich im Spiegelbild des schmutzigen Fensters, und ich sehe mich selbst, aber mein Bild verrat mir nichts Weiteres. Es zeigt nur ein Mädchen mit leeren verträumten Augen. Was andere auch von mir denken mögen, mir selbst bleibt es verschlossen.
Er herrscht eine besondere Art von Stille im Zug, es ist keine wirkliche Stille, den man hört das rascheln von Blättern, husten, das Atmen … und doch ist es Still, als wäre die Zeit für die Reisenden stehen geblieben. Wir alle sind hier zusammen in diesen Zug eingesperrt, ohne sich zu kennen, auf dem Weg ins Nirgendwo ... Es ist ein gezwungenes Zusammensein völlig Fremder, das niemanden wirklich behagt. Es entstehen kaum Gespräche, jeder ist für sich allein.
Der Zug hält, in kurzes rucken und wir befinden uns wieder in der normalen Zeit. Die Schleusen öffnen sich - Leute steigen aus und ein. Niemand von meinen Leuten geht, sie bleiben sitzen ohne aufzuschauen.
Eine Gruppe Halbstarker steigt ein, sie sind laut und tragen Bierdosen bei sich. Der Geschäftsmann schaut kurz ärgerlich auf, senkt seinen Blick aber sofort wieder, als die Jungen sich in den Abschnitt neben uns setzen. Es sind insgesamt vier. Sie lachen lauthals über irgendwas, vermutlich ist egal über was. In ihren Blicken lese ich Hoffnungslosigkeit, sie haben sich selbst verloren und das schon vor langer zeit. Sie sind tot, wissen es aber noch nicht. Und ich werde es ihnen bestimm nicht sagen.
Niemand beachtet sie, alle versuchen weiterhin das Schweigen zu bewahren, auch wenn es ihnen schwerer fallen muss, denn die Luft ist erfüllt von Stimmen und es wird noch stickiger.
Sie schlitzen mit langen silbernen Messern die Sitze auf, weiße Füllig quillt aus ihnen hervor, wie Gedärme und unwillkürlich frage ich mich, ob sie wohl schmerz empfinden? Sie waren so lange von Menschen umgeben, müsste da nicht etwas auf sie abgefärbt haben, wenigstens ein kleines bisschen?
Immer noch Stille, einigen atmen schneller, der Stimmung verändert sich unmerklich.
Nachdem sie genug von davon haben ihre Initialen mit Stiften auf das Fenster zu schmieren, suchen sie nach einer neuen Beschäftigung. So schwenken ihre Blicke im Zug umher, auf der suche nach einem neuen Opfer. Ins ihr Visier gerät die Studentin mit dem Roman. Einer von ihnen beugt sich vor um ihn ihr aus der Hand zu reißen. Sie schreit kurz erschocken auf. Dann ist sie still und schaut auf ihren Schoß, wo sich ihre leeren Hände aneinanderklammern, als suchten sie Halt und Sicherheit. Lachend lesen die Jungs auf dem Buch vor, ihre Worte wirken schmutzig und undeutlich, sie verdrehen den Sinn, sie können kaum einen Satz richtig aneinander reihen. Ich muss ein lächeln zurückhalten, denn so was käme einem Selbstmordgedanken gleich.
Einer beugt sich vor und zischt, „Willst du es wiederhaben?“
Sie sagt nichts.
Sie lachen, irgendetwas an ihnen erinnert mich an die Trolle, von denen eine Geschichte in meiner Kindheit handelte. Am Anfang waren sie Menschen, doch in wuchs Wut und Zorn auf alles und jeden und so begannen sie sich zu verwandeln …
Einer meint: „Wenn sie es nicht haben will, sollten wir es vielleicht aus dem Zug werfen, oder?“
Unwillkürlich sagt sie: „Nein.“
„Hat sie was gesagt?“ Wieder kollektives Lachen.
Ein anderer: „He, vielleicht sollten wir aufhören. Das ist nicht gerade nett und christlich!“
Er schnappt sich das Buch und hält es der Studentin hin.
Am schlimmsten war der kleine Funken Hoffnung in ihren Augen, bis er begann, vor ihren ungläubigen Augen, Seiten herauszureißen und sie ihr vor die Füße zu werfen. Ihre stille Ohnmacht und das Schweigen der anderen. Die alte Dame starrte auf ihren Stock und der Geschäftsmann schient etwas unglaublich Interessantes auf seinen Bildschirm zu entdecken. Niemand half ihr – auch ich nicht. Aber wenigstens sah ich nicht weg.
Er wirft ihr den Einband vor die Füße, die goldenen Lettern leuchten höhnisch im künstlichen Licht. Sie bewegt sich nicht, ganz so wie ein gelähmtes Reh im Scheinwerferlicht eines Autos.
Der Zug hält, Leute steigen ein und aus. Niemand achtet auch die Buchblätter, sie treten einfach auf sie, den Blick starr nach innen gerichtet.
Ich stehe auf, gehe an der alten Dame vorbei und knie mich dann nieder, beginne die Blätter aufzusammeln, eins nach dem anderen. Ich spüre die Konzentration von Blicken in meinem Rücken. Aber ich mache weiter, dann schlüpfe ich zurück auf meinen Platz und lege sie der Studentin auf den Schoß.
Ein schnauben, dann eine Jungenhand, die nachdem verrissenen Seien greift und sie dann wieder durch die Gegend wirft. Ich erwidere kurz seinen stechenden Blick im Fensterglas und stehe dann wieder auf, Blatt für Blatt sammle ich ein. Blicke ich mich suchend um, um zu schauen ob ich eins vergessen habe. Vor den Füßen der alten Dame liegt noch eins, ich will danach greifen, aber sie kommt mir zuvor und streckt es mir dann mit gesenktem Blick entgegen. Ich nicke ihr zu und will aufstehen, als mich jemand von hinten am Arm packt. Wütend reißt er mir die Seiten aus der Hand und verteilt sie wieder auf dem Boden. Ich lächle nur, befreie meinen Arm aus seinem Griff und gleite ein weiteres Mal auf den Boden und suche die Blätter zusammen, versuche aber nicht in ihre Reichweite zu kommen. Mache Mitreisende kommen mir zur Hilfe, reichen mir Seiten. Ich nicke dankbar ihnen zu. Zurück auf meinem Platz sortiere ich die Blätter, keines fehlt, in Reihenfolge gebracht reiche ich sie der Studentin, und sie nimmt sie entgegen. Einer der Jungen steht auf, will wohl das gleiche Spiel wieder von vorn beginnen – wie einfallsreich sie doch sind.
Der Geschäftsmann steht ungerührt auf und sagt zu der Studentin: „Wären Sie vielleicht bereit mit mir den Platz zu tauchen?“
Sie nickt und rutscht rüber.
Der Zug hält wieder, ich steige aus, lächele kurz zum Abschied, lasse einen letzten Blick über die Zurückbleibenden schweifen und verschwinde dann im Gedränge der Aussteigenden.
Lasse mich von der Masse mittragen, schaffe es zu einem Fahrplan zu gelangen. Ich weiß nicht einmal in welcher Stadt ich gerade bin, denn ich hätte schon vor mehreren Stationen den Zug verlassen müssen. Aber es ist nicht wirklich schlimm, dass ich länger als geplant in diesem Zug mitgefahren bin. Die Wahl der jeweiligen Züge ist immer bloß Kalkül, ich schaue auf den Plan und wähle, entscheide zu welcher Zeit ich einsteige und wann ich wieder aussteigen werde. Ich bestimme, und wenn mir mein Zug nicht mehr gefällt, suche ich mir einen neuen. So einfach ist das, denn es gibt so viele verschiedene Züge. Und irgendwann wird der Richtige dabei sein …