Aber das Leben geht weiter

erstes kapitel

Kagomes Hände zitterten, während sie ihren Finger in das Fläschchen taucht und sanft die Rune für Vergessen auf Sangos Stirn malte. Silberglänzend leuchtete das magische Zeichen, bevor es verblasste und sich in die Haut der Schlafenden zurückzuziehen schien. Fast geräuschlos glitt sie zu Miroku hinüber, um auch in seinem Gehirn jegliche Erinnerungen, die Kagome betrafen, restlos auszulöschen…

Am schwersten fiel es ihr bei Inu Yasha. Wie in Trance stand sie auf, sie konnte noch nicht glauben, was sie soeben zerstört hatte. Immer noch mit leicht vernebeltem Kopf sammelte sie alles, was ihr gehörte, ein, schulterte ihr Bündel und kletterte allein den leichten Abhang zum Knochenfressenden Brunnen hinauf. Aus Trauer über all das, was sie nun für immer hinter sich ließ, konnte sie nur schwer an die Freuden des modernen Tokio denken. Das alles wirkte so grau und farblos im Vergleich zu ihrem bisherigen Leben im Mittelalter...

Kagome warf ihr Gepäck in den Brunnen, während sie hinauf zum Mond schaute und sich unwillkürlich fragte, wann Inu Yasha wieder zum Menschen werden würde... und dann traf sie der Schock: Der Brunnen war zerstört. Überall lagen Holzsplitter herum und vom Brunnen war nichts übrig geblieben außer dem Loch, das nach wie vor tief in die Erde bis zum Grundwasserspiegel reichte.

Wie versteinert stand sie da und starrte auf das schreckliche Bild, das sich ihr bot. Dann kam leichte Hoffnung in ihr auf: Vielleicht würde der Brunnen sie trotzdem nach Hause bringen? Sie musste ohnehin hinunter, ihr Gepäck hatte sie ja schon- unüberlegterweise- hineingeworfen.

Bitte, es muss einfach funktionieren...

Sie holte tief Luft und- sprang in die Finternis.

Was sie als Nächstes fühlte war ein brennender Schmerz am linken Ellenbogen, gefolgt von einem unbeschreiblichen Gefühl der Leere und Verzweiflung. Sie war gestrandet.

Kagome klaubte ihre Sachen zusammen und kletterte aus dem zerstörten Brunnen. Sie hörte keines der nächtlichen Geräusche, hatte kein Ohr für das Rauschen der Bäume, die ihr zuzuflüstern schienen. Sie bemerkte noch nicht einmal ihr eigenes Blut, das ihren aufgeschürften Arm hinablief und als funkelnde Tropfen im Gras liegenblieb. Zu betäubt waren ihre Gedanken von der Tatsache, dass sie niemals in ihre Zeit würde zurückkehren können.
Lange saß sie regungslos im Gras und starrte den Mond an, als ob diese kühle, ferne Scheibe ihr Trost bieten könnte. Schließlich kroch sie zu ihrem Rucksack, zog eine Decke hervor und breitete sie aus. Sie ließ sich darauf fallen, barg den Kopf in den Armen ... und dann versank die Welt in Tränen der Verzweiflung.

Hinter einem Baum am Rand der Lichtung, auf der der Brunnen gestanden hatte, saß mit ausdrucksloser Miene derjenige, der Tränen am wenigsten von allen tolerierte oder verstand: Inu Yashas großer Bruder Sesshomaru. Jaken an seiner Seite hatte bisher nicht gewagt etwas zu sagen, aber jetzt, nach zwei Stunden, musste er einfach wissen was seinen Meister so lange hier ausharren ließ. Er flüsterte: „Mein Herr, warum vergeudet ihr eure Zeit damit die Ruine eines Brunnens zu beobachten?“ Eigentlich hatte er keine Antwort erwartet, dennoch flüsterte sein Meister: „Die Neugier ist es. Bloße Neugier. Ich dachte mein mickriger Halbdämon von einem Bruder habe eine besondere Beziehung zu diesem Menschenweib. Was für einen Sinn ergibt es da, dass er sich heimlich auf den Weg macht und den einzigen Weg in ihre Zeit für immer verschwinden lässt? Dieses Tor wird auf ewig verschlossen sein, denn der Brunnen selbst kann repariert werden, nur führt er niemals mehr in den Strom der Zeit. Sie ist hier gefangen, und das war offenbar sein Ziel.“

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