Fanfic: Die Vergessenen Welten
Kapitel: Die Vergessenen Welten
Die Vergessenen Welten
Im Netz gefangen
Ich lebe in einer Welt, in der die Verkörperung des Bösen wirklich
existiert. Ich spreche nicht von schlechten Menschen oder von Goblins
- häufig genug von böser Gesinnung - und nicht einmal von meinem eigenen
Volk, den Dunkelelfen, die noch bei weitem bösartiger sind als Goblins.
All diese Kreaturen sind großer Grausamkeiten fähig, aber selbst in
den schlimmsten Einzelfällen stellen sie nicht die wahre Verkörperung
des Bösen dar. Nein, dieser Titel gebührt anderen, den Dämonen und
Teufeln, die oft von Priestern und Magiern beschworen werden. Diese
Kreaturen der niederen Sphären sind pures Übel, unverfälschte, ungezügelte
Boshaftigkeit. Reue bleibt ihnen verschlossen, und während ihrer gesamten,
unglücklicherweise fast ewig währenden Existenz können sie nicht hoffen,
irgendetwas tun zu können, das auch nur entfernt an das Gute grenzt.
Ich habe mich oft gefragt, ob diese Wesen ohne die Dunkelheit existieren
könnten, die sich in den Herzen der vernunftbegabten Völker verbirgt.
Sind sie eine Quelle des Bösen wie viele schlechte Menschen und Dunkelelfen
oder sind sie das Ergebnis, die körperlich gewordene Manifestation
der Fäulnis, die die Herzen zersetzt?
Ich glaube, dass Letzteres zutrifft. Es ist kein Zufall, dass Dämonen
und Teufel nicht auf den materiellen Existenzebenen wandeln können,
ohne durch die Handlungen eines vernunftbegabten Wesens dorthin gebracht
worden zu sein. Ich weiß, dass sie nicht mehr sind als ein Werkzeug,
ein Instrument, um die üblen Taten der eigentlichen Quelle jenes Bösen
auszuführen.
Was ist dann aber mit Crenshinibon? Er ist ein Gegenstand, ein Artefakt
- wenn auch eines mit Bewusstsein - aber er besitzt nicht die gleiche
Stufe von Intelligenz wie ein vernunftbegabtes Lebewesen. Denn der
Gesprungene Kristall kann nicht wachsen, er kann sich nicht verändern
oder seine Taten bereuen. Einzig bei seinen beständigen Versuchen,
die Herzen jener zu manipulieren, die sich in seiner Nähe befinden,
ist er in der Lage, aus seinen Fehlern zu lernen. Er kann nicht einmal
das Ende abwägen oder darüber nachdenken, obwohl er es so verzweifelt
zu erreichen sucht - nein, sein Bestreben ist auf ewig eingleisig
und unveränderlich.
Ist der Kristall dann also wahrhaft böse?
Nein.
Vor noch nicht allzu langer Zeit und selbst, als ich das gefährliche
Artefakt bei mir trug und dabei lernte, es besser denn je zu verstehen,
habe ich das anders gesehen. Doch dann las ich vor kurzem eine lange
und ausführliche Nachricht des Hohepriesters Cadderly Bonnaduce aus
der Schwebenden Seele, wie die Kathedrale des Geistes auch genannt
wird. Diese Lektüre hat mich die Wahrheit über den Gesprungenen Kristall
erkennen lassen, dass er nämlich nur eine Anomalie ist, ein Fehler,
und sein nie versiegender Hunger nach Macht und Ruhm ist lediglich
eine Perversion der Absicht seines zweiten Schöpfers, des achten Geistes,
der seinen Weg in das Innerste des Artefakts gefunden hat.
Cadderly fand heraus, dass der Gesprungene Kristall ursprünglich von
sieben Totengeistern erschaffen wurde, die danach strebten, ein Objekt
allerhöchster Macht zu entwerfen. Um jene Völker, die diese toten
Könige zu erobern suchten, noch weiter zu demütigen, machten sie das
Artefakt zu einem Gegenspieler der Sonne selbst, der Spenderin allen
Lebens. Die Vollendung ihrer Vereinigungsbeschwörung verzehrte jedoch
die Totengeister. Entgegen der Meinung einiger Gelehrter beharrt Cadderly
darauf, dass die Persönlichkeiten jener bösartigen Wesen nicht in
das Objekt aufgenommen wurden, sondern von dessen sonnengleichen Kräften
ausgelöscht wurden. Auf diese Weise kehrte sich die geplante Demütigung
gegen sie selbst und ließ nur Asche und absorbierte Fragmente ihrer
zersprengten Seelen zurück.
Dieser Teil der frühen Geschichte des Gesprungenen Kristalls ist vielen
bekannt, einschließlich der Dämonen, die es so verzweifelt nach dem
Artefakt verlangt. Die zweite Historie jedoch, die Cadderly entdeckt
hat, erzählt eine viel komplexere Geschichte und enthüllt die Wahrheit
über Crenshinibon, das ultimative Versagen des Artefakts als Perversion
von guten Bestrebungen.
Crenshinibon erschien ursprünglich vor Jahrhunderten in dem fernen
Land Zakhara in der materiellen Welt. Zu jener Zeit war er nichts
als das Werkzeug eines Zauberers, wenn auch ein großes und mächtiges.
Dieses magische Objekt vermochte Feuerbälle zu schleudern und konnte
mächtige Flammenwände erschaffen, die so heiß waren, dass sie das
Fleisch von den Knochen brennen konnten. Es war nur wenig über die
dunkle Vergangenheit Crenshinibons bekannt, bis der Kristall in die
Hände eines Sultans fiel. Dieser große Fürst, dessen Name nicht überliefert
ist, enträtselte die Wahrheit über den Gesprungenen Kristall und kam
mit Hilfe seiner vielen Hofzauberer zu dem Schluss, dass das Werk
der Leichname unvollendet geblieben war. Und so kam es zur »zweiten
Erschaffung« Crenshinibons, der Erhöhung seiner Macht und dem Erwerb
seines begrenzten Bewusstseins.
Der Sultan träumte nicht von Eroberungen, sondern nur von einer friedlichen
Beziehung zu seinen kriegerischen Nachbarn. Daher ersann er eine Reihe
von kristallenen Türmen, die er mit Hilfe der neuen Kräfte des Artefakts
erschuf. Jeweils eine Tagesreise voneinander entfernt, zogen sich
die Türme quer durch die menschenleere Wüste bis zur zweitgrößten
Stadt seines Königreichs, einer häufig geplünderten Grenzstadt. Insgesamt
errichtete er hundert dieser kristallenen Festungen, und beinahe wäre
es ihm gelungen, die mächtige Verteidigungslinie zu vollenden.
Doch leider überforderte der Sultan die Kräfte Crenshinibons. Während
er glaubte, dass die Erschaffung jedes einzelnen Turms das Artefakt
stärken würde, nutzte sich die Macht des Gesprungenen Kristalls und
seiner Schöpfungen jedoch dadurch ab. Kurze Zeit später peitschte
ein gewaltiger Sandsturm über die Wüste hinweg. Es war eine Naturkatastrophe,
die das Vorspiel einer Invasion durch ein benachbartes Scheichtum
darstellte. Die Wände der Kristalltürme waren so dünn geworden, dass
ihr Glas unter dem eigenen Gewicht zerbarst - und damit auch die Träume
von Sicherheit, die der Sultan gehegt hatte.
Die Horden überrannten das Königreich und ermordeten die Familie des
Sultans, während dieser hilflos zusehen musste. Der gnadenlose Eroberer
wollte den Sultan am Leben lassen, auf dass er von seinen Erinnerungen
gepeinigt werde, doch Crenshinibon verzehrte den Mann oder zumindest
einen Teil seiner Seele.
Es ist nur wenig mehr über diese frühen Zeiten bekannt. Selbst Cadderly,
der Halbgötter zu seinen Quellen zählt, weiß nicht mehr, doch der
junge Hohepriester des Deneir ist davon überzeugt, dass diese zweite
Erschaffung Crenshinibons den Schlüssel für den gegenwärtigen Hunger
des Artefakts darstellt. Wenn der Gesprungene Kristall nur auf dem
Höhepunkt seiner Macht hätte bleiben, wenn die Kristalltürme nur ihre
Stärke hätten bewahren können, dann wären die Horden zurückgeschlagen
worden und hätten die Familie des Sultans, seine geliebte Frau und
seine wunderschönen Kinder, nicht ermordet.
Doch so setzt das Artefakt, in dem die verdorbenen Seelenfragmente
der sieben Totengeister und der gepeinigte, tödlich verletzte Geist
des Sultans eingebettet sind, sein verzweifeltes Streben fort, seine
höchste Machtfülle zurückzuerlangen und zu behaupten - zu welchem
Preis auch immer.
Diese Geschichte lässt diverse Vermutungen zu. Ohne eine endgültige
Folgerung daraus zu ziehen, deutete Cadderly in seinem Brief an mich
an, dass die Erschaffung der Kristalltürme als Auslöser für die Invasion
gedient haben könnte, da die Nachbarn befürchten mussten, dass ihre
Grenzgebiete bald überrannt werden würden. Ist der Gesprungene Kristall
dann also eine große Mahnung an uns alle? Zeigt er uns eindringlich
die Torheit übermäßigen Ehrgeizes, auch wenn in diesem Fall gute Absichten
zu Grunde lagen? Den Sultan verlangte es nach Stärke, um sein friedliches
Reich zu beschützen, und doch griff er nach zu großer Macht.
Das war es, was ihn vernichtete, seine Familie und sein Reich.
Was ist dann mit Jarlaxle, in dessen Besitz sich der Gesprungene Kristall
derzeit befindet? Sollte ich versuchen, ihm das Artefakt wieder abzunehmen,
um es anschließend Cadderly zu übergeben, auf dass er es vernichtet?
Die Welt wäre ohne den mächtigen und gefährlichen Kristall zweifellos
ein sichererer Ort.
Andererseits wird es immer wieder ein neues Werkzeug für jene geben,
die Böses im Herzen tragen, eine andere Verkörperung ihrer Verderbtheit,
sei es ein Dämon, ein Teufel oder ein monströses Artefakt wie Crenshinibon.
Nein, die Verkörperungen sind nicht das Problem, denn sie können ohne
das Böse, das in den Herzen vernunftbegabter Wesen ruht, weder existieren
noch gedeihen.
Hüte dich,