Fanfic: Rain
Kapitel: Rain
Rainy Day
Regen. Endlich. Wie lange hatte sie schon darauf gewartet! Kleine, leichte Tropfen suchten ihren Weg in die Tiefe. Weit unter ihr spannten die Menschen in der Fußgängerzone ihre Regenschirme auf. Sie schienen einen bunten Fluss zu bilden, immer in Bewegung, keiner Ordnung unterliegend. Zeitweise ertönte Lachen zu ihr nach oben. Manchmal erinnerte es sie an früher. Damals. Als sie selber noch gelacht hatte. Als sie selber noch glücklich gewesen war. Glück? Was bedeutete das schon? Glück war vergänglich. Und es brachte nur Unglück, wenn es erst einmal wieder fort war.
Die Tropfen wurden größer, härter. Sie schienen alles, was sich keinen Schutz gesucht hatte, auf den Boden drücken zu wollen. Doch sie beugte sich ihnen nicht. Starrte weiterhin in die Tiefe. Der Fluss der Schirme wurde dünner. Immer dünner. Dann versiegte er. Die Menschen waren geflüchtet. In die Geschäfte und Häuser. Sie suchten Zuflucht, Geborgenheit. Nur sie war noch draußen. Hoch oben. Auf dem Dach. Es gab keinen Ort, an dem sie sich geborgener gefühlt hätte als dort. Kein Zuhause.
Aus dem Regen wurde Platzregen. Die wenigen Bäume und Sträucher, die in der Stadt überlebt hatten, senkten unterwürfig ihre Häupter. Menschenleere Straßen. Menschenleere Plätze. Die Welt unter ihr lag verlassen da. Friedlich. Ruhig. Früher hätte sie in dieser Situation gelächelt. Freude empfunden. Freude? Wie lange schon hatte sie nicht mehr gefühlt, dass sie vergessen hatte, wie es war, sich zu freuen?
Zu dem Platzregen mischten sich Hagelkörner. Sie peitschten auf sie ein. Hinterließen für Sekunden einen Schmerz auf der Haut, bevor das nächste Korn sie traf. Erinnerungen prasselten mit jedem Schmerz auf sie ein. Glück – Enttäuschung – Freude – Schmerz – Liebe – Hass. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte sie etwas. Eine Art... Bedauern. Für das, was bald passieren würde.
Hätten sie das gleiche an ihrer Stelle gemacht? Hätten sie sie aufgehalten? Wieder überfielen sie Erinnerungen. Eine junge, glückliche Familie. Ein strahlendes, übermütiges Kind. Eltern, die ihre Tochter mit gütigen, amüsierten Augen betrachten.
Ein Geburtstag. Geschenke. Lachen. Kuchen. Kerzen. Wünsche. Glück. Seeligkeit. Freude. Große, strahlende Augen.
Dann ein Auto, Schnee, glatte Straßen. Blut. Viel Blut. Und Angst. Gefolgt von einer großen Leere. Dunkelheit. Eine freundliche Stimme. Ein weißer Raum. Krankenschwestern. Ein Tropf.
Ein Friedhof. Menschen in Schwarz. Särge. Zwei ausgehobene Gräber. Tränen. Angst. Eine tiefe Trauer. Einsamkeit. Regen. Hilflosigkeit.
Sie wachte auf aus ihren Tagträumen. Durch den einsetzenden Wind schlugen die Hagelkörner mit einer gewaltigen Wucht auf ihren Körper ein. Lähmten sie. Es war zu spät. Sie hatte sich entschieden. Konnte nicht mehr zurück. Entgültig.
Der Himmel verdunkelte sich. Der Tag wurde zur Nacht. Blitze zuckten über den Himmel, gefolgt von Erinnerungen. Bruchstücken.
Fremdheit. Ein anderes Haus, ein anderes Zimmer. Andere Möbel. Andere Bewohner. Andere Freunde. Andere... Erziehungsberechtigte. Kein Ersatz.
Wieder der Friedhof, diesmal menschenleer. Wieder Tränen. Wieder Trauer. Neue Ängste. Zweifel. Leere. Gepflegte Gräber, Blumen, Kerzen. Grabsteine, nicht mehr ganz neu. Zeugen von Vergänglichkeit.
Ein kurzes Glück. Freundschaft. Lachen. Spaß. Ein Unfall. Wieder Blut. Wieder Leere, Dunkelheit. Wieder eine freundliche Stimme, ein weißer Raum, Krankenschwestern.
Ein anderer Friedhof. Viele Menschen in Schwarz. Ein weißer Sarg. Ein ausgehobenes Grab. Ein Stein, ein eingemeißelter Name. Das Bild eines Jungen Mädchens. Tränen. Trauer. Einsamkeit. Regen.
Geburtstag. Keine Glückwünsche. Keine Geschenke. Keine strahlenden Augen. Kein Kuchen. Keine Kerzen. Keine Überraschungen. Keine Wünsche. Leere.
Eine Liebe. Geborgenheit. Glück. Wünsche. Hoffnungen. Mut. Zufriedenheit. Nähe. Küsse. Geschenke. Freude.
Ein Krankenhaus. Menschen, die nicht aufstehen können. Langes Leid. Weiße Zimmer. Ein langsamer Tod. Tränen. Verzweiflung. Einsamkeit. Regen.
Blinde Wut. Hass. Abgeschiedenheit. Schwärze. Leere. Ein Entschluss....
Jetzt saß sie auf diesem Dach. Führte das aus, was sie schon seit Jahren geplant hatte. Endlich. Die Erinnerungen rissen ab. Sie wurde schwächer. Konnte sich nicht mehr bewegen. Fast nicht mehr klar denken. Noch schwächer. Ein letzter Blick... Der Briefumschlag.... Abschied. Fühlte sich so das Ende an? Für immer?
Ein letzter Regentropfen.
Nichts.
Eine Beerdigung.
Regen.
Tränen.
Sie ist ins Leere entschwunden,
aber im Blau des Himmels
hat sie eine unfassbare Spur zurück gelassen,
im Wehen des Windes unter Schatten
ein unsichtbares Bild.