Fanfic: Die vergessenen Welten 3
vernünftigen Abflüsse
für die Gossen. Als er jetzt zu der Stadt hinunterblickte, wusste
der zurückkehrende Meuchelmörder nicht, wie er sich fühlen sollte.
Einst hatte er seinen Platz in der Welt gekannt. Er hatte den Gipfel
seines ruchlosen Berufes erreicht, und jeder, der seinen Namen ausgesprochen
hatte, tat dies mit Respekt und Furcht. Wenn ein Pascha Artemis Entreri
angeheuert hatte, einen Mann zu beseitigen, so war dieser bereits
so gut wie tot gewesen. Ohne Ausnahme. Und trotz der vielen Feinde,
die er sich natürlich gemacht hatte, konnte der Meuchelmörder offen
durch die Straßen von Calimhafen gehen, ohne sich in den Schatten
verbergen zu müssen, denn er hatte gewusst, dass niemand es wagen
würde, sich ihm entgegenzustellen.
Niemand hätte es gewagt, einen Pfeil auf Artemis Entreri abzuschießen,
denn jedermann wusste, dass dieser eine Schuss absolut perfekt treffen,
dass er den Mann auf der Stelle töten musste, oder der Meuchelmörder
würde nach ihm suchen. Und er würde ihn finden und töten.
Eine Bewegung seitlich von ihm, die leichte Verlagerung eines Schattens,
erregte Entreris Aufmerksamkeit. Er schüttelte den Kopf und seufzte.
Er war nicht sonderlich überrascht, als eine in einen Umhang gehüllte
Gestalt etwa zwanzig Fuß vor ihm hinter den Felsen hervorsprang und
ihm mit über der massigen Brust verschränkten Armen den Weg versperrte.
»Du willst nach Calimhafen?«, fragte der Mann mit starkem, südlichen
Akzent.
Entreri antwortete nicht, sondern schaute einfach weiter geradeaus,
obgleich seine Augen rasch die Felsbrocken absuchten, die beide Seiten
des Pfades säumten.
»Du musst für den Weg bezahlen«, fuhr der bullige Mann fort. »Ich bin
dein Führer.« Damit verbeugte er sich und kam mit einem zahnlosen
Grinsen näher.
Entreri hatte viele Geschichten über dieses allgemein übliche Spiel
von Wegezollerpressung gehört, obwohl niemand es bisher gewagt hatte,
ihm den Weg zu versperren. Ja wirklich, erkannte er, er war lange
fort gewesen. Noch immer antwortete er nicht, und der massige Mann
verlagerte sein Gewicht, so dass sein Umhang aufklaffte und ein Schwert
enthüllte, das in seinem Gürtel steckte.
»Wie viel Münzen bietest du an?«, fragte er.
Entreri setzte an, ihm zu sagen, er solle beiseite treten, überlegte
es sich dann aber anders und seufzte nur.
»Taub?«, fragte der Mann, zog sein Schwert und kam noch einen Schritt
näher. »Du bezahlst mich, oder ich und meine Freunde werden uns das
Geld von deiner Leiche holen.«
Entreri antwortete nicht, bewegte sich nicht und zog auch nicht den
edelsteinbesetzten Dolch, der seine einzige Waffe war. Er stand einfach
nur da, und seine Gleichgültigkeit schien den bulligen Mann nur noch
mehr zu verärgern.
Der Mann schaute zur Seite - links von Entreri -, nur ganz kurz, aber
Entreri bemerkte es sehr deutlich. Er folgte dem Blick zu einem der
Kumpane des Räubers, der im Schatten zwischen zwei Felsen stand und
einen Bogen gespannt hatte.
»Also«, sagte der massige Mann. »Das ist deine letzte Chance.«
Entreri schob einen Zeh unter einen Felsbrocken, bewegte sich ansonsten
jedoch nicht. Er stand da und schaute den massigen Mann wartend an,
behielt den Bogenschützen aber aus dem Augenwinkel im Blick. Der Meuchelmörder
konnte die Bewegungen eines Mannes so genau abschätzen, so genau jedes
Muskelzucken erkennen, jedes Blinzeln, dass er es war, der sich zuerst
bewegte. Entreri trat mit dem rechten Fuß zu und hechtete diagonal
nach links vorne. Sein Tritt schleuderte den Stein in Richtung des
Bogenschützen. Nicht um den Mann zu treffen - das wäre sogar über
Artemis Entreris Fähigkeiten gegangen -, sondern in der Hoffnung,
ihn abzulenken. Als er sich abrollte und wieder hoch kam, ließ der
Meuchelmörder zugleich seinen Umhang durch die Luft flattern und hoffte,
dass das Kleidungsstück den Pfeil auffangen und verlangsamen würde.
Er hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen, denn der Bogenschütze
schoss weit vorbei und hätte dies auch getan, wenn Entreri sich nicht
bewegt hätte.
Der Meuchelmörder kam wieder auf die Beine und wappnete sich gegen
den heranstürmenden Schwertkämpfer, während er gleichzeitig wahrnahm,
dass zwei weitere Männer hinter den Felsen hervorsprangen.
Obwohl er noch immer keine Waffe gezückt hatte, griff Entreri unerwartet
an, duckte sich im letzten möglichen Moment unter dem Schwung des
Schwertes weg und kam hinter der vorbeizischenden Klinge wieder hoch.
Eine Hand erwischte den Angreifer am Kinn, während die andere hinter
seinen Kopf zuckte und sein Haar packte. Ein Ruck und eine Wendung
schleuderten den Kämpfer zu Boden. Entreri ließ los und glitt mit
der Hand an der Waffenhand des Mannes entlang, um jeden versuchten
Angriff abzufangen. Der Mann schlug hart mit dem Rücken auf. Im selben
Augenblick trat Entreri ihm gegen die Kehle. Der Griff des Mannes
um seine Waffe lockerte sich, so dass es fast so schien, als würde
er dem Meuchelmörder sein Schwert überlassen.
Entreri sprang beiseite, um nicht ins Stolpern zu kommen, als die anderen
beiden herangestürmt kamen, der eine von vorne, der andere hinter
seinem Rücken. Entreris Schwert zuckte in seiner linken Hand mit einem
geraden Stoß vor, dem ein blitzschneller, rotierender Hieb folgte.
Der Mann machte ohne Mühe einen Satz aus Entreris Reichweite, aber
sein Angriff war sowieso nicht darauf abgezielt gewesen, einen Treffer
zu landen. Der Meuchelmörder packte sein Schwert mit der rechten Hand
in einem Überhandgriff und trat dann urplötzlich zurück, wobei er
Hand und Waffe nach hinten drehte. Er stieß es an seiner Seite vorbei
nach hinten. Entreri spürte, wie die Spitze in die Brust des Mannes
eindrang, und hörte das Keuchen entweichender Luft, als es sich in
die Lunge bohrte.
Nur sein Instinkt ließ Entreri herumwirbeln, sich nach rechts drehen,
so dass der Angreifer sich auf sein Schwert spießte. Er zog den Mann
als Schild gegen den Bogenschützen herum, der tatsächlich erneut feuerte.
Doch wieder ging der Schuss weit daneben, und diesmal bohrte sich
der Pfeil mehrere Fuß vor Entreri in den Boden.
»Idiot«, murmelte der Meuchelmörder, ließ mit einem plötzlichen Ruck
sein Opfer in den Staub fallen und brachte das Schwert in derselben,
fließenden Bewegung hoch. Er hatte sein Manöver so brillant ausgeführt,
dass der verbliebene Schwertkämpfer endlich seine Dummheit einsah
und davonrannte.
Entreri wirbelte erneut herum, warf das Schwert in die ungefähre Richtung
des Bogenschützen und hechtete in Deckung.
Ein langer Augenblick verstrich.
»Wo ist er?«, schrie der Bogenschütze, in dessen Stimme eindeutig Angst
und Frustration mitschwang. »Merk, siehst du ihn?«
Ein weiterer langer Moment verging.
»Wo ist er?«, rief der Bogenschütze erneut und wurde langsam hektisch.
»Merk, wo ist er?«
»Direkt hinter dir«, erklang ein Flüstern. Ein juwelenbesetzter Dolch
blitzte auf, durchtrennte die Bogensehne und legte sich dann, bevor
der erschrockene Mann reagieren konnte, an seine Kehle.
»Bitte«, stammelte der Mann und zitterte so stark, dass es seine Bewegungen
und nicht die von Entreri waren, die dafür sorgten, dass die Klinge
seine Haut ritzte. »Ich habe Kinder. Ja, viele, viele Kinder. Siebzehn
...«
Er brach mit einem Gurgeln ab, als Entreri ihm den Hals von Ohr zu
Ohr aufschlitzte, gleichzeitig einen Fuß zu seinem Rücken hob und
ihn dann damit zu Boden schleuderte.
»Dann hättest du einen ungefährlicheren Beruf wählen sollen«, antwortete
der Meuchelmörder, obwohl ihn sein Opfer nicht mehr hören konnte.
Als er zwischen den Felsen herausspähte, machte Entreri schnell den
vierten Mann der Gruppe aus, der auf der anderen Seite des Pfades
von Schatten zu Schatten huschte. Der Mann war offenkundig auf dem
Weg nach Calimhafen, aber zu verängstigt, um hervorzuspringen und
über das freie Gelände zu rennen. Entreri wusste, dass er den Mann
einholen oder vielleicht auch den Bogen neu bespannen und ihn von
hier aus erschießen konnte. Aber er tat es nicht, denn es kümmerte
ihn nicht. Ohne auch nur die Leichen zu plündern, wischte er seinen
magischen Dolch sauber, schob ihn wieder in die Scheide und trat dann
auf die Straße hinaus. Ja, er war lange, lange fort gewesen.
Bevor er die Stadt verlassen hatte, hatte Artemis Entreri seinen Platz
in der Welt und in Calimhafen gekannt. Daran dachte er jetzt, während
er nach einer Abwesenheit von mehreren Jahren auf die Stadt hinabblickte.
Er verstand die schattenhafte Welt, die er bewohnt hatte, und wusste,
dass in diesen Gassen wahrscheinlich viele Veränderungen stattgefunden
hatten. Alte Verbündete würden verschwunden sein, und sein Ruf würde
ihm wahrscheinlich kaum bei den ersten Treffen mit den neuen, oft
selbst ernannten Anführern der verschiedenen Gilden und Sekten