Gewissen

Schon lange hatten sie es verloren. Aber sie suchten nicht danach. Es war für sie nicht wichtig. Nicht mehr. Sie lebten in den Tag hinein. Wie Geister schwebten sie von einem Tag zum Nächsten. Rastlos. Und doch hatten sie ihren Frieden. Aber hatten sie auch ihre Freiheit?
Unsichtbare Fesseln. Lange Ketten, an denen sie schon Jahre arbeiteten. Sie trugen es. Ein Zeichen. Wie ein Brandmal, das sie begleitete. Aber keiner sah es. Keiner wollte es sehen. Sie waren blind.
Gleiten durch die Gassen, mit verschlossenen Augen. Jeder mit seiner Bürde. Schwer. Schwerer. Einer übertraf den anderen.
Doch einer sah die langen Ketten. Erschreckten ihn. Seine Augenbinde brandmarkte ihn. Seine Blindheit nahm ihm die Schönheit der Welt. Nicht aber die Fähigkeit zu sehen. Zu sehen, was andere nicht sahen. Was andere nicht sehen wollten.
Er nahm ihnen nicht die Schuld. Sie folgten. Sie folgten den Worten, die ihnen Wahrheit waren. Marionettenhaft. Leblos. Sie folgten den Worten, die ihnen Gebote waren. Gebote, die sie führten. In eine dunkle Zeit.
Sie befreiten sie von ihrem Gewissen. Glaubten sie.
Und sie flochten weiter an ihrer Kette, die länger wurde. Der Blinde sah es. Angstvoll. Er sah, wie sie die Macht des Wortes erkannten. Eine Macht über Leben und Tod. Die Worte, die sie sprachen, konnten den Tod bringen. Aber sie wollten die Schuld nicht, die sie wie einen schweren Kranz mit sich trugen. Sie wollten kein Gewissen. Aber sie wollten die Worte. Liebevoll berührten sie sie. Atmeten sie. Umklammerten sie krampfhaft. Sagten es immer und immer wieder. Gebetsmühlenartig. Sie durften es nicht vergessen. Denn sie gab ihnen Freiheit. Denn sie erhielt ihnen den Schein von Freiheit. Lächelnd gingen sie über die Gassen, ohne Gewissen, aber mit den Worten. Den Worten, die so viel Macht hatten.

"Sie ist eine Hexe!"