Fanfic: Die Labyrinthe von Shannara

entgegenstellen.


Beim Anblick der schattenhaften Gestalten, die vor den Fenstern hin-


und herhuschten, zögerte Grianne nicht. Sie spürte die Gefahr, welche


sie überall umgab, ein Kreis eiserner Klingen, der sich unerbittlich


wie eine Schlinge enger zog. Jetzt rief sie nach ihrem Vater und rannte


zurück ins Kinderzimmer, wo ihr Bruder schlief. Wortlos nahm sie ihn


auf den Arm und drückte ihn fest an sich. Weich und warm fühlte er


sich an, kaum zwei Jahre alt. Sie trug ihn hinunter in den Erdkeller,


wo die Lebensmittel aufbewahrt wurden. Oben versuchten die Eltern,


ihre Flucht zu decken. Glas zerbrach, Holz splitterte, und Grianne


hörte die Schreie und Verwünschungen ihres Vaters. Er war ein tapferer


Mann, und er würde dem Kampf nicht ausweichen. Leider würde das nicht


genügen, das spürte sie bereits jetzt. Sie löste einen Riegel und


zog einen Teil des Regals zurück, der den Eingang zu einem Kriechkeller


verbarg, einer Zuflucht bei Sturm, die sie jedoch nie benutzt hatten.


Dort legte sie ihren Bruder auf eine Pritsche. Einen Augenblick lang


betrachtete sie ihn noch, sein winziges Gesicht und die geballten


Fäuste, seinen schlafenden Körper, dann hörte sie, wie die Rufe und


Flüche oben sich in Schmerzensschreie verwandelten, und Tränen rannen


ihr die Wangen hinab.


Schwarzer Rauch drang von oben durch die Bohlen des Fußbodens in den


Keller vor, als sie aus dem engen Schutzraum schlüpfte und den Eingang


hinter sich verschloss. Sie hörte das Knistern der Flammen. Da ihre


Eltern tot waren, würden die Eindringlinge bald kommen und sie holen,


aber Grianne würde schneller sein und klüger, als sie dachten. Sie


würde ihnen entwischen, und war sie erst draußen im fahlen Licht und


in Sicherheit, würde sie die fünf Meilen zum nächsten Haus laufen,


Hilfe finden und ihren Bruder retten.


Die schwarz verhüllten Gestalten suchten nach ihr, das hörte sie, während


sie durch einen kleinen Gang zur Kellertür lief, die ins Freie führte.


Draußen war die Tür hinter Büschen versteckt, und da sie selten benutzt


wurde, würde man sie wahrscheinlich nicht entdecken. Falls doch, würden


sie es bereuen. Sie hatte bereits herausgefunden, welchen Schaden


man mit dem Wunschlied anrichten konnte. Zwar war sie noch ein Kind,


trotzdem jedoch keineswegs hilflos. Sie kniff die Augen zusammen,


schluckte die Tränen hinunter und schob das Kinn vor. Das würden sie


eines Tages schon bereuen. Sie würden es bereuen, wenn sie ihnen das


heimzahlte, was sie ihr gerade antaten.


Dann war sie durch die Tür hindurch und hockte sich im Licht der Dämmerung


unter die Büsche. Rauch trieb in dunklen Wolken heran, und sie spürte


die Hitze des Feuers, das an den Mauern ihres Hauses hinaufkroch.


Alles nahm man ihr weg, dachte sie verzweifelt. Alles, das ihr etwas


bedeutete.


Eine plötzliche Bewegung seitlich von ihr lenkte ihre Aufmerksamkeit


auf sich. Als sie sich umwandte, legte sich eine Hand mit einem übel


riechenden Tuch über ihr Gesicht, und die Welt um sie her begann sich


zu drehen und versank allmählich in Dunkelheit.


Beim Erwachen war sie gefesselt, geknebelt, und man hatte ihr die Augen


verbunden; sie wusste weder, wo sie war, wer sie gefangen hielt, noch


ob es Tag oder Nacht war. Jemand trug sie über der Schulter wie einen


Sack Getreide, aber niemand sprach. Bei jenen, die sie gefangen genommen


hatten, handelte es sich um mehr als eine Person, das hörte sie an


den schweren, festen Schritten. Auch das Atmen hörte sie. Ihr erster


Gedanke galt ihrem Haus und ihren Eltern und ihrem Bruder. Die Tränen


traten ihr in die Augen, und sie begann zu schluchzen. Sie hatte ihrer


Familie gegenüber versagt.


Lange Zeit wurde sie so getragen, dann legte man sie auf den Boden


und ließ sie in Ruhe. Sie wand sich und versuchte sich zu befreien,


doch die Fesseln waren zu stramm verknotet. Hunger und Durst hatte


sie außerdem, und kalte Hoffnungslosigkeit breitete sich in ihr aus.


Es konnte nur einen Grund geben, weshalb sie verschleppt worden war


- der Grund, weshalb man sie brauchte, ihre Eltern und ihren Bruder


hingegen nicht. Ihr Wunschlied. Sie lebte, und die anderen hatten


wegen ihrer ererbten Gabe das Leben verloren. Sie war diejenige mit


der Magie. Sie war es, die etwas Besonderes darstellte. Etwas so Besonderes,


dass man ihre Familie dafür ermordete und sie selbst verschleppte.


Für das man ihr alles, was sie liebte, entriss.


Nicht lange danach kam es plötzlich und unerwartet zu einem Aufruhr,


lautem Kampflärm und wütenden Schreien. Es schien von überall her


zu kommen. Dann wurde sie vom Boden gehoben, fortgetragen, und die


Geräusche blieben hinter ihr zurück. Ihr jetziger Träger wiegte sie


im Arm, während er lief, drückte sie fest an sich, als wolle er sie


in ihrer Angst und Verzweiflung trösten. Sie schmiegte sich in die


Arme ihres Retters, denn tatsächlich suchte sie Trost.


An einem stillen Ort nahm man ihr Fesseln, Knebel und Augenbinde ab.


Sie setzte sich auf und sah sich einem großen Mann gegenüber, der


eine schwarze Robe trug, einem Mann, der nicht vollständig menschlich


war. Sein Gesicht wies Schuppen und eine Zeichnung wie bei einer Schlange


auf. Seine Finger endeten in Krallen, und seine Augen stellten lidlose


Schlitze dar. Ihr stockte der Atem, und sie wich vor ihm zurück, doch


er rührte sich nicht.


»Jetzt bist du in Sicherheit, Kleine«, flüsterte er. »Sicher vor denen,


die dir etwas antun wollen, vor dem Dunklen Onkel und seinesgleichen.«


Sie wusste nicht, von wem er sprach. Vorsichtig schaute sie sich um.


Ein Wald umgab sie, die Bäume hielten auf allen Seiten Wache, und


ihre Äste begrenzten ein Meer aus Sonnenlicht, das die Walderde wie


Goldstaub sprenkelte. Niemand war in der Nähe, und nichts, was sie


sah, erschien ihr bekannt.


»Du brauchst keine Angst vor mir zu haben«, sagte ihr Gegenüber. »Fürchtest


du dich vor meinem Aussehen?«


Misstrauisch nickte sie und schluckte, weil ihre Kehle ausgedörrt war.


Er reichte ihr einen Wasserschlauch, und dankbar trank sie. »Hab keine


Angst. Ich bin von gemischter Herkunft, sowohl Mensch als auch Mwellret,


Kleine. Vielleicht sehe ich fürchterlich aus, aber trotzdem bin ich


dein Freund. Schließlich habe ich dich vor den anderen gerettet. Vor


dem Dunklen Onkel und seinen Gestaltwandlern.«


Nun erwähnte er schon zum zweiten Mal den Dunklen Onkel. »Wer ist das?«,


fragte sie. »Hat er uns all das angetan?«


»Er ist ein Druide. Walker lautet sein Name. Er ist es, der euer Haus


angegriffen und deine Eltern und deinen Bruder getötet hat.« Mit seinen


Reptilienaugen starrte er sie an. »Denk zurück. Dann wirst du dich


erinnern, sein Gesicht gesehen zu haben.«


Zu ihrer Überraschung stimmte das. Sie sah es deutlich vor sich, wie


es im Morgengrauen vor dem Fenster vorbeihuschte, dunkle Haut und


schwarzer Bart, Augen, die sie mit ihren Blicken bis auf die nackte


Haut auszogen, eine dunkle Stirn, die tief gerunzelt war. Sie sah


ihn, erkannte ihren Feind in ihm und verspürte eine Wut von solcher


Heftigkeit, dass sie glaubte, tief im Innersten zu brennen.


Dann weinte sie, dachte an ihre Eltern und ihren Bruder, an ihr Zuhause


und ihre verlorene Welt. Der Mann, der ihr gegenübersaß, zog sie sanft


in seine Arme und drückte sie fest.


»Du kannst nicht zurück«, erklärte er ihr. »Sie werden nach dir suchen.


Solange sie dich für lebendig halten, werden sie nicht aufgeben.«


Sie nickte an seiner Schulter. »Ich hasse sie«, zischte sie klagend.


»Ja, ich weiß«, flüsterte er. »Und damit hast du vollkommen Recht.«


Seine kehlige Stimme wurde fester. »Aber hör mich an, Kleine. Ich


bin der Morgawr. Von nun an will ich Vater und Mutter für dich sein.


Ich bin deine Familie. Natürlich werde ich dir helfen, Rache zu nehmen


für das, was man dir geraubt hat. Ich lehre dich, wie du dich gegen


alles wappnen kannst, was dir wehtun könnte. Ich lehre dich, stark


zu sein.«
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