Die Stimme der Wahrheit

Immer einmal rechts, einmal links und dazu beschimpfte er sie bis aufs Letzte. Wäre Kate nicht so überrumpelt gewesen, hätte sie das getan, was sie sonst immer in so einer Situation tat: sie träumte. Sie würde sich weit, weit weg träumen, an einen anderen Ort, wo es keine Gewalt gab. Wo die Sonne scheint, die Vögel zwitschern und die Luft von Lachen erfüllt ist. Normalerweise spürte sie bei diesen Gedanken fast keine Schmerzen mehr – doch heute konnte sie sich nicht wegträumen.
Sie nahm alle Beschimpfungen, die ihr Kane an den Kopf warf, wahr, und auch fühlte sie jeden Schlag, den sie einstecken musste.
Warum ihr Onkel solchen Groll gegen sie hegte, war ihr nicht bekannt. Schon vom ersten Tag an, an dem sie zu ihm kam, verhielt er sich ihr gegenüber sehr abweisend. Eigentlich war ihr das egal. Er sollte mit ihr machen, was er wollte, solange er ihren Freunden und May nichts tat. Das … würde sie nicht überstehen.

„Hey, Nick, komm schon! Sag uns die Wahrheit!“ Erneut musste der Junge seufzen. Schon seit über einer halben Stunde löcherten ihn Dave und die anderen mit Fragen. Sie wollten wissen, was er und Kate so früh am Morgen alleine (Dave betonte dieses Wort jedes mal aufs neue) zu suchen hatten. Nick beteuerte ständig, dass er ihre Zeit im Laufen gestoppt hatte und er dann gleich zurückgekommen war. Doch sein Freund winkte ab – auch die anderen schienen im nicht zu glauben.
„Komm schon, Junge, wir wissen doch alle, dass du in die Kleine verknallt bist! Ich meine, ich kann das gut verstehen, bei dem Aussehen! Jeder Kerl steht doch auf schlanke Beine, hübsche Rundungen, schöne große Augen und schulterlange Haare, wobei ich sagen muss, dass ich ihre Haarfarbe ziemlich außergewöhnlich finde. Sieht aus wie Gold – und es ist so weich wie Samt!“, flötete Dave, wobei seine Worte auf zustimmendes Nicken von den zwei anderen Jungs trafen.
Plötzlich verengten sich Nicks Augen zu Schlitzen. „Woher willst du wissen, dass sich ihre Haare wie Samt anfühlen?“, wollte er von dem Langhaarigen wissen. Dieser fing auf einmal an zu grinsen und antwortete: „Na, eifersüchtig? Kannst du dir das nicht denken? Ich weiß das, weil ich es schon mal angefasst habe, stell dir vor! Ach, wenn ich nur daran denke…“ Dave redete zwar weiter, doch Nick bekam sein Gelaber gar nicht mehr mit, denn er hatte auf Durchzug geschaltet. Ihm war klar, dass ihn sein Kumpel nur vergraulen wollte, doch trotzdem meldete sich etwas in ihm – und dieses Etwas gefiel ihm gar nicht! Es war Eifersucht, was er da spürte. Nick konnte sich den Grund einfach nicht erklären. Er wusste ja, dass Dave ihn nur mit diesem Lügenmärchen aufziehen wollte, trotzdem verdunkelten sich seine sonst schon so dunkelblauen Augen noch mehr.
Abrupt stand er auf, steuerte auf die Tür zu und bekam die verdutzen Gesichter seiner Freunde gar nicht mehr mit.
„Es scheint, als hättest du da einen wunden Punkt getroffen, Dave! Willst du ihm nicht nach und ihm sagen, dass du nur Witze gemacht hast?“, wollte Alex, der Jüngste unter ihnen, wissen.
Der langhaarige Junge zuckte nur mit den Achseln und meinte: „Nö, der weiß doch, dass ich ihn nur verarscht habe! Wahrscheinlich will er mal wieder trainieren. Du kennst ihn ja, er lebt für seinen Kampfsport!“
„Und für Kate…“ meinte der Jüngste leise, …womit er recht behalten sollte.

Immer schneller wurden Nicks Schritte Richtung … ja, wohin wollte er überhaupt? Er blieb stehen. Sollte er mal nachsehen, wo sich Kate rumtrieb? Obwohl, dann hätten seine Freunde wieder neuen Gesprächsstoff. Aber warum interessierte er sich überhaupt dafür, was die anderen redeten? Er war doch sonst nicht so sensibel, wenn jemand über ihn redete. Lag es vielleicht daran, dass mit diesem Gerede Gerüchte entstehen konnten, die sich schlecht auf Kates Ruf ausüben könnten? Ja, das musste es sein. Nick wollte einfach nicht, dass jemand schlecht von seiner Kleinen redete. War sie doch überall, wo man sie kannte, beliebter als irgendjemand sonst! Woran das lag, wusste er, immerhin liebte er diesen Wirbelwind, wie sonst keinen anderen Menschen auf der Welt!
Nick musste schmunzeln. Ja, Wirbelwind war ein gutes Wort, um Kate zu beschreiben. Sie sieht dich an, lächelt, redet mit jemand und – zack – ist es um jenen geschehen! Wenn man sie erst mal gesehen hat, will man sie haben. Aber – sie ist eben wie der Wind – man kann sie nicht einfangen. Kate ist frei und ihren Willen kann man nicht brechen – jedenfalls dachte Nick dies, bis er eine wütende Stimme und so etwas wie.. ja es hörte sich fast wie Schläge an, aus der Richtung, wo Kanes Wohnwagen stand, vernahm.
Neugierig lief Nick eilig, aber lautlos, den Weg entlang, zu Kanes Behausung hin. Immer lauter wurde die Stimme, die er vernahm, aber auch immer deutlicher. So wusste er nun, dass es Kane war, der in der Gegend herumbrüllte. Ihm war nicht danach, so einem schlecht gelaunten Kane gegenüberzutreten, eigentlich wollte er ihn nie wirklich sehen. Es war nichts besonderes, dass sich dieser Typ so benahm und seiner Wut freien Lauf ließ. Der Junge wollte sich gerade wieder umdrehen und May einen Besuch abstatten, als er eine weitere Stimme hörte. Er musste nicht lange überlegen, wem dieser süße, warme Klang angehörte, war es doch die Person, die er liebte.
Sofort machte er auf dem Absatz kehrt und lief den beiden entgegen. Was bisher seinem Blick verborgen gewesen war, erschütterte ihn nun zutiefst: Kane „saß“ mehr oder weniger auf Kate, wobei er mit seinen Knien auf ihren Armen verharrte, holte immer wieder aus und schlug seiner Freundin mit einer Härte ins Gesicht, dass der Junge schon dachte, er würde ihr das Genick brechen!
Zu geschockt, um auch nur irgendeinen Muskel zu rühren, stand er da, war gezwungen, diese Brutalität mit anzusehen.
„Du verwöhntes, kleines Balg! Am liebsten …würde ich dich umbringen! Du bist…so ein Miststück!“, kam es keuchend von dem Angreifer.
Plötzlich verspürte Nick unbändige Wut im Bauch. Als wären diese Beschimpfungen das gewesen, das er brauchte, um sich aus seiner Erstarrung zu lösen, schritt er jetzt immer schneller den am Boden liegenden Gestalten zu.

Kate fühlte auf einmal rasende Wut und … Angst. Panische Angst, jemanden zu verlieren. Kane schlug sie gerade auf die linke Wange, sodass Kates Kopf Richtung Strand fiel. Vor Schreck weiteten sich ihre Augen. „Das darf doch … nein, das kann nicht… Komm nicht näher!“, schrie sie stumm in sich hinein. Nun wusste sie, woher ihre plötzliche Wut und auch die Angst kamen. Kane schien den 17-Jährigen noch nicht bemerkt zu haben, denn er schlug noch immer unermüdlich auf das Mädchen ein.
Plötzlich durchzuckte es Kate, als hätte sie einen Stromschlag abbekommen. Es war nicht wegen den Schmerzen, die ihr Onkel ihr zufügte, nein, es war etwas, dass sich rasend schnell in ihrem Inneren auszubreiten begann: sie hatte … Angst. Diesmal war es nicht jenes Gefühl, das Nick um sie hatte, sondern ihr eigenes Empfinden. Kate war so irritiert und auch überrascht, von ihren Emotionen, dass ihr nicht einmal bewusst wurde, dass dies das erste Mal war, dass sie Nicks Gefühle spüren konnte.
Kate war wie betäubt: sie hatte Angst. Panische Angst! Doch wie sich herausstellte, war es nicht die Angst vor Kane, nein, vor diesem Mann hatte sie sich noch nie gefürchtet. Dieses Gefühl galt ganz allein Nick! Nie und nimmer wollte sie, dass dem Jungen etwas zustieß!
„Ich muss ihn aufhalten! Ich muss ihn stoppen! Ich muss ihn beschützen!“, waren Kates letzten Gedanken, bevor sie laut herausschrie: „NICK!! VERSCHWINDE, LOS HAU AB!“
Sowohl der Junge als auch Kane waren so perplex über Kates Ausruf, dass sie in ihrer Bewegung inne hielten. Erst nachdem Kane die Bedeutung der Worte, die seine Nichte ausrief, klar wurde, wandte er den Kopf – doch, zu spät! Nick, der sich als Erster wieder gefangen hatte, packte den Mann beim Kragen und zerrte ihn unsanft von Kate hinunter.

„Du mieses Schwein! Wieso tust du das? Was hat sie dir getan? Ich bring dich um, ich schwöre es dir, ich bring dich um solltest du sie noch einmal anfassen! Ich hab lange genug zugesehen, wie du sie halb tot prügelst. Das reicht jetzt! Warum sie? An niemand anderen legst du Hand an, nur an deine Nichte! Wieso hasst du Kate so? Ich versteh es nicht! Kannst du mir den Grund nennen?“, brüllte Nick den überrumpelten Mann an. Er schüttelte Kane durch und wollte gerade zuschlagen, als das Gesicht seines Chefs ein Grinsen zeigte. Perplex hielt der Junge inne.
„Na, komm schon, Kleiner. Zeig mir, was du drauf hast! Schlag zu, worauf wartest du?“, provozierte er Nick. Dieser wunderte sich, warum Kane ihn ermutigte, seine Wut an ihm auszulassen, doch er verdrängte den Gedanken schnell wieder und holte erneut aus.
Plötzlich spürte er einen Widerstand. Er drehte seinen Kopf zur Seite und erblickte Kate, die seine Hand davon abhielt, ihren Onkel zu verletzen.
Aus zornigen Augen blickte ihn das Mädchen an und fragte in einem schneidenden Tonfall: „Was glaubst du eigentlich, was du da machst? Bist du noch ganz bei Trost? Hör sofort auf damit! Die Sache hier geht dich gar nichts an! Verschwinde und misch dich gefälligst nie wieder in meine Angelegenheiten ein!“
Überrascht und zugleich irritiert sah Nick seine kleine Kate an. Was sollte das? Er wollte doch nur helfen! Wieso war sie wütend auf ihn?
Noch immer hielt das Mädchen seinen Arm fest umklammert. Kate erschrak, als Nick sie ansah. Nie hätte sie gedacht, so etwas in seinen Augen zu lesen. Er war verletzt. Seine dunkelblauen Augen hatten einen verletzten Ausdruck angenommen.
Kates Blick drückte nun Bedauern aus. Sie wollte ihm doch nicht weh tun sondern beschützen! Machte sie eigentlich einmal etwas richtig?
Resigniert nickte der Junge mit dem Kopf, stand auf, wobei seine Hand sich aus dem festen Griff des Mädchens löste, drehte sich um und
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