Warum ich?
halber Strecke umkippt und ihm etwas passiert. Also, könntest du das bitte machen?“
Mutter schnaubt nur und erwidert mit schneidender Stimme: „Machs doch du, wenn du dir solche sorgen um den Kleinen machst. Ich habe immerhin einen Beruf, den ich nachgehen muss.“
„Ja, und ich muss in die Schule! Dann sollte er besser zu Hause bleiben!“ Meine Stimme klingt leicht gereizt. Das ist nicht gut, gar nicht gut…
„Ts, schon gut. Ich fahr ihn ja. Immerhin ist er mein Sohn und ich hab ihn lieb“, gibt sie mit gefährlich sanfter Stimme nach. Ich warte noch, bevor ich mich bedanke. Da kommt bestimmt noch ein „Aber“… Und wie als hätte sie meine Gedanken gelesen, fährt Mutter fort: „Aber dann wirst DU auch Lebensmittel einkaufen und Abendessen machen. ICH habe dann ja keine Zeit dafür. Haben wir uns verstanden?“
Keine Zeit dafür? Sie ist doch garantiert schon um 15 Uhr zu Hause. Jeremy hat bestimmt nicht länger Schule. Aber okay. Immerhin fährt sie ihn hin und holt ihn auch wieder ab.
Ich nicke nur, um damit zu signalisieren, dass ich sie verstanden habe, werfe einen kurzen Blick auf die Uhr, die kurz nach halb acht anzeigt, und schon bin ich ohne einen Gruß aus dem Haus verschwunden.
Zum wiederholten Male an diesem Morgen seufze ich in mich hinein. Irgendwann werde ich noch kirre in dieser „Familie“! Jeden Tag so eine Spannung… Ich glaube nicht, dass diese Atmosphäre für ein aufwachsendes Kind förderlich ist.
Ich bin keine 10 Schritte von unserem Haus entfernt, als ich auch schon Kirsten nach mir rufen höre.
„Hey, Ann! Warte doch auf mich! Willst du denn nicht gemeinsam mit mir zur Schule gehen?“, fragt sie mich, als die dann endlich zu mir aufgeschlossen hat.
Ein undeutbares Lächeln ziert mein Gesicht, als ich mich zu ihr drehe: „Doch, können wir machen. Doch wie du schon richtig gesagt hast: ich gehe zur Schule und fahre nicht mir dem Bus. Magst du mich immer noch begleiten?“
Ein nicht so ganz begeisterter Gesichtsausdruck stiehlt sich auf das Gesicht meiner Schwester. Sie ist die Art von Mädchen, die jeder sportlichen Aktivität aus dem Weg geht.
„Ähm, willst du wirklich das alles zu Fuß laufen? Schau, da vorne ist doch schon die Bushaltestelle! Komm, wir fahren zur Schule!“ Ohne auf meinen Protest zu achten, zieht sie mich am Arm hinter sich her. Ergeben lasse ich mit mitschleifen – sich zu wehern, wenn Kirsten sich was in den Kopf gesetzt hat, ist sowieso so gut wie unmöglich.
Bei besagter Haltestelle angekommen, sehe ich mich um. Bis auf einige Gleichaltrige, die auf ein paar Gruppen aufgeteilt sind, einer älteren Dame mit Hund und meiner Schwester und mir, ist sonst niemand zu sehen. Als wir noch auf unserer alten Schule waren, standen mindestens dreimal so viele Schüler auf unserer Bushaltestelle herum. Dass hier so wenige Jugendliche auf den Schulbus warten, erstaunt mich. Bedeutet das etwa, dass die Schule nicht ganz so gut ist, wie ich dachte? Oder aber sie war genau das Gegenteil – so gut, dass nicht viele Mädchen und Jungen die Aufnahmeprüfungen schafften. Hm, das wird wirklich sehr interessant…
Ich will mich gerade in die Richtung, aus der der Bus kommen müsste, drehen, als mein Blick auf blaue Augen fällt. Azurblau – um genau zu sein. Und sie sehen im meine eigenen Augen. Ein kleines Lächeln bildet sich auf den Lippen des Jungen und gerade, als ich zurücklächeln will – was ja eigentlich so gar nicht meinem Wesen entspricht – bohrt sich ein Ellenbogen unsanft in meine Seite. Besagter gehört natürlich Kirsten, die, sobald sie sich meiner Aufmerksamkeit sicher ist, sofort mit sich fast überschlagender Stimme anfängt loszuplappern.
„Siehst du den Jungen da drüben? Den mit den schwarzen Haaren! Der sieht doch einfach umwerfend aus, oder? Und er sieht auch schon die ganze Zeit zu mir rüber! Hach, aber wer kann ihm verdenken? Bei der einer kleinen Stadt hat er bestimmt noch nicht so ein wunderschönes Geschöpf gesehen!“
Ich folge ihrem Blick und erneut landen meine Augen auf Azurblau. Na toll, dann hat der Junge gar nicht mich, sondern meine Schwester angesehen? Ach, eigentlich auch egal. Ich mach mir nichts aus Jungs. Das Einzige, was mich wirklich interessiert, ist so schnell wie möglich die Schule abzuschließen, einen gut bezahlten Job zu bekommen und mit dem verdienten Geld meine Träume zu erfüllen.
Plötzlich werde ich an meiner Hand gepackt und in den vor mir stehenden Bus bugsiert. So sehr war ich also in Gedanken versunken, dass ich nicht einmal mitbekommen haben, wie der Bus vor uns gehalten hat. Als sich dieser wieder in Bewegung setzt, sehe ich zum ersten mal auf die Hand, die meine umschließt und bekomme einen Schock. Dass es nicht Kirstens Hand sein kann, ist mir klar gewesen, denn diese war viel kleiner als die, die meine umschließt.
Ein – zugegeben – gutaussehendes, lächelndes Gesicht wendet sich mir zu. Und zum dritten mal an diesem Morgen sehe ich in diese azurfarbenen Augen. Ein amüsiertes Funkeln in ihnen lässt mich aus meiner Erstarrung erwachen.
„Was machst du da? Was sollte das?“ Meine Stimme hört sich bissiger an, als ich eigentlich wollte. Erstaunt zieht der Junge eine Augenbraue hoch.
„Wie? Ich hab dich gerade noch rechtzeitig in den Bus gezerrt, damit du ihn nicht verpasst, du Tagträumerin! Du solltest mir dankbar sein, dass du nicht zu Fuß laufen musst, und mich nicht für meine Sozialität anschnauzen! Pf, dabei siehst du so süß aus. Dass du so ein großes, flinkes Mundwerk hast, überrascht mich!“, flötete der Schwarzhaarige mit einem immer breiter werdenden Grinsen vor sich hin.
Da ich nicht wirklich weiß, was ich darauf erwidern soll, entreiße ich ihm meine Hand und drehe mich um, auf der Suche nach meiner Schwester. Schnell habe ich sie entdeckt und bin schon auf dem Weg zu ihr. Seufzend lasse ich mich neben Kirsten fallen.
„Was hast du mit dem Typen da gerade geredet? Wollte er etwas über mich wissen? Hat er dich nach meiner Nummer gefragt? Oh, Gott! Er sieht einfach umwerfend aus! Na, los, sag schon!“, quasselt sie mich voll. Wieso dreht sich bei ihr eigentlich immer nur alles um sich selbst? Ist ja echt das letzte. Und was bitteschön findet sie an diesem Typ? Der ist doch total durchgeknallt! Rennt mit einem Dauergrinser durch die Gegend und spielt Samariter. Ich hab ihn nicht darum gebeten, mich in den Schulbus zu verfrachten. Der soll sich nur nichts darauf einbilden, dieser… dieser… dieser… ach, egal!
Heftiger als beabsichtigt sage ich: „Nichts! Nichts hab ich mit diesem Irren geredet! Und, nein, er wollte nicht deine Telefonnummer. Vergiss den Kerl einfach, der ist doch –“
„NEIN!! Ich kann ihn nicht vergessen! Sieh ihn dir doch an, der ist ja so was von…“, werde ich von Kirsten unterbrochen und höre den Rest des Satzes gar nicht mehr. Ich weiß sowieso schon, was jetzt kommt. Sie ist ja nicht das erste Mal an einem Jungen interessiert.
Die restliche Fahrt habe ich auf Durchzug geschaltet und komme erst wieder in die Realität zurück, als mich meine Schwester fast vom Sitz schubst. Mit den Worten „Wir sind da“ verlässt sie den Bus, ich dicht hinter ihr.
Plötzlich überkommt mich ein merkwürdiges Gefühl. Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter. Was zur Hölle ist das? Abrupt drehe ich meinen Kopf nach rechts – und da steht er, wie üblich mit einem Lächeln auf den Lippen. Was hat der Kerl für ein Problem? Wieso starrt der mich die ganze Zeit an? Wenn der wirklich Interesse an mir hat, dann killt mich Kirsten! Nie und nimmer würde sie erlauben, dass ich sie aussteche! Aber… vielleicht ist es ja auch so, dass sich dieser Typ nur an mich ranmachen will, um dann meine Schwester näher zu kommen. … Ja, so muss es sein! Immerhin hat Kirsten es doch selbst gesagt – neben ihr sieh ich aus wie ein Mauerblümchen!
Ich schicke einen mörderischen Blick zu dem Gaffer hinüber und wende dann demonstrativ meinen Kopf ab. Kirsten ist schon etwas voraus gegangen, also beeile ich mich, um sie einzuholen. Zusammen betreten wir das Schulgebäude. Unwillkürlich halte ich den Atem an. Oh, Mann… Von Außen sieht dieses Institut ja schon mehr als beeindruckend aus, aber von Innen… da bin ich echt sprachlos! Und das soll was heißen! Diese riesige Aula ist ausgestattet mit Marmorfliesen, enorm teuer aussehende Teppiche führen in verschiede Richtungen. An den Wänden hängen bekannte Gemälde (ob das wirklich Originale sind?) und bis zum Boden reichende Fenster lassen diesen Raum in hellem Licht erstrahlen.
Wenn es nicht so untypisch für mich wäre, meinen Emotionen freien Lauf zu lassen, dann würde ich jetzt wohl mit offenem Mund da stehen.
„Mund zu, es zieht“, raunt eine Stimme dicht an meinem Ohr. Mit einem leisen Aufschrei wende ich mich um – und erblicke azurfarbene Augen. Wie? Warum gebe ich mir bitte die Mühe und nenne diese Farbe – wenn auch nur in Gedanken – azurblau? Blau! Ist doch egal, welche Art von Blau. Blau ist Blau! Aus, Schluss, basta!
Ohne auf seine Bemerkung einzugehen, wende ich mich von dem Jungen mit den blauen Augen ab und steige die Treppe nach oben. Kirsten wartet dort schon auf mich und als sie sieht, wer da hinter mir steht, fängt sie gleich an laut zu rufen: „Hey, Schwesterchen! Ann, hier bin ich! Komm schon, du willst doch nicht zu spät kommen!“ Na toll, jetzt kennt dieser Typ auch noch meinen Namen! Und das alles nur, damit er bemerkt, dass ich ihre Schwester bin. Seufz, na ja, was soll’s. Ich sehe ihn sowieso nicht wieder. Denn schon nach dem ersten Wortwechsel mit ihm, ist mir klar gewesen, dass ich von nun an zu Fuß zur Schule gehen werde. Und da er älter zu sein scheint als ich, werde ich ihn auch nicht in der Klasse sehen. Wenn ich mich jetzt noch geschickt in den Pausen verkrümeln kann, ist das eben unser erstes und letztes Zusammentreffen gewesen.
Im ersten Stock angekommen, drehe ich noch einmal leicht meinen Kopf zur Seite, um… um, um