Fanfic: Nachtglut

Kapitel: Nachtglut

Nachtglut




1




Myron, hörst du mir überhaupt zu?« fuhr Carl Herbold seinen Mithäftling


gereizt an. Er schüttelte ungeduldig den Kopf und brummte: »Blödmann!«




Myron Hutts, offenbar taub für die Beleidigung, grinste weiter leer


vor sich hin.




Carl schob sein Gesicht näher an seines heran. »Hey, hör auf, so dämlich


zu grinsen, Myron! Die Sache ist ernst. Ist davon irgendwas bei dir


angekommen? Hast du auch nur ein gottverdammtes Wort kapiert?«




Myron biß in seinen Schokoriegel. »Klar, Carl. Du hast gesagt, ich


soll genau zuhören und gut aufpassen.«




»Okay.«




Carl beruhigte sich etwas, auch wenn er ziemlich sicher war, daß Myron


nicht einmal einen Bruchteil dessen, was er ihm zu sagen hatte, verstehen


würde. Myron war nicht gerade der Hellsten einer; genau gesagt, war


er total unterbelichtet.




Trotz seiner Kraft und ständigen Beflissenheit stellte er mit seinem


Spatzenhirn ein Risiko für Carls wohldurchdachte Pläne dar. So ein


Komplize hatte seine Nachteile.




Andererseits benötigte Carl Myron Hutts` Hilfe. Er brauchte einen,


der nicht fähig war, selbständig zu denken, und tat, was man ihm sagte


- ohne lange zu überlegen, ohne Fragen, Widerreden oder Skrupel. Eben


deswegen war Myron zuletzt doch der perfekte Partner. Selbst wenn


er ein gottverdammter Einstein gewesen wäre - aber er hatte kein Gewissen.




Gewissen, das war ›innerer Dialog‹. Klasse, der Ausdruck, was? Carl


hatte ihn aus einem Artikel in einer Zeitschrift. Er hatte ihn sich


eingeprägt und schwups aus dem Hut gezogen, als er das letztemal vor


dem Ausschuß für bedingte Haftentlassung antanzen mußte. Fünf Minuten


lang hatte er sich des langen und breiten über seine inneren Dialoge


bezüglich seiner vergangenen Missetaten und des Unheils ausgelassen,


das er in seinem eigenen Leben und dem anderer angerichtet hatte.


Aus diesen Dialogen habe er erkannt, auf dem falschen Weg gewesen


zu sein; sie hätten ihn ins Licht der Selbsterkenntnis und des Verantwortungsbewußtseins


geführt. Er bereue, was er getan habe, und wünsche, dafür zu büßen.




Die Ausschußmitglieder hatten sich von den großen Worten nicht beeindrucken


lassen. Sie hatten gemerkt, daß er ihnen nur einen Haufen Mist auftischte,


und seinen Antrag auf bedingte Haftentlassung abgelehnt.




Aber mal angenommen, das Gewissen war tatsächlich ein innerer Dialog.


Das verlangte abstrakte Vorstellungen, die Myron in seiner Beschränktheit


nicht einmal in Erwägung zog. Doch Carl war es sowieso egal, ob Myron


ein Gewissen hatte oder nicht. Der Typ tat, was ihm gerade in den


Kopf kam, und basta. Genau deshalb hatte Carl ihn ausgewählt. Myron


würde keine Muffen kriegen, wenn es unappetitlich wurde.




Der Kerl war selbst ein ziemlich unappetitlicher Typ, um nicht zu


sagen grottenhäßlich mit seiner beinahe haarlosen, weißen Haut. Nur


die wulstigen Lippen leuchteten unnatürlich rot; die Iris seiner Augen


hingegen waren praktisch ohne Farbe. Spärliche helle Augenbrauen und


Wimpern ließen seinen ohnehin einfältigen Blick noch einfältiger wirken.


Sein Haar war dünn, aber von grober Beschaffenheit, und stand, fast


weiß, drahtartig von seinem Kopf ab.




Einen besonders unappetitlichen Anblick bot er gerade jetzt, wo ihm


der zähe Saft der Nougatfüllung des Schokoladenriegels aus den Mundwinkeln


troff. Carl mußte wegschauen, als Myron mit langer Zunge nach dem


Zeug leckte.




Manch einer fragte sich wahrscheinlich, wieso ausgerechnet er und Myron


Kumpel waren - bei dem auffallenden Kontrast, der zwischen ihnen bestand


-, Myron und der große, dunkle, gutaussehende Carl. Wenn es ihn packte,


arbeitete er mit Gewichten, aber mit strenger Regelmäßigkeit absolvierte


er täglich in seiner Zelle Liegestützen und andere Leibesübungen,


um seinen kräftigen Torso fit zu halten. Er besaß ein absolut umwerfendes


Lächeln, das an den jungen Warren Beatty erinnerte. Hatte man ihm


jedenfalls gesagt. Er persönlich fand, er sähe besser aus als der


Schauspieler, den er als Schwuchtel betrachtete. Aber eine tolle Frau


hatte er, ja, Mrs. Beatty, eine total scharfe Nummer!




An Grips war Carl seinem Kumpel Myron eindeutig weit überlegen. Was


Myron zu wenig hatte, das hatte er im Überschuß. Im Planen war er


unschlagbar. Die genialsten Einfälle kamen ihm ganz von selbst. Außerdem


besaß er ein echtes Talent dafür, eine Idee, die zunächst noch ganz


nebelhaft war, anzureichern und zum großen Entwurf zu verdichten.




Wäre er beim Militär gewesen, so wäre er General geworden. Aber selbst


die hochrangigsten Offiziere brauchten die gemeinen Soldaten, um ihre


Strategien umzusetzen. Daher Myron.




Er hätte jeden Kerl in dem Schuppen hier haben können. Myron war den


meisten Leuten unheimlich, sogar abgebrühten Kriminellen. Sie blieben


ihm aus dem Weg. Aber Carl, der geborene Führer, zog die Leute an


wie ein Magnet. Er gehörte mit zu den Alteingesessenen, und das hatte


ihm unter der Zuchthausbevölkerung eine Menge Einfluß verschafft.


Hinzu kam sein angeborenes Charisma. Er hätte jeden beliebigen unter


den Insassen zum Partner wählen können, allesamt cleverer und bösartiger


als Myron - der war nämlich trotz seinen gewalttätigen Tendenzen ein


gutmütiger Mensch. Aber jeder mit ein bißchen mehr Grips würde Carl


Probleme verschaffen.




Er wollte keinen Partner, der seinen eigenen Kopf hatte und meinte,


ihm dreinreden zu müssen. Meinungsverschiedenheiten lenkten einen


ab und führten direkt in die Katastrophe, nämlich dazu, wieder geschnappt


zu werden. Alles, was er für seinen Fluchtplan brauchte, war ein zusätzliches


Paar Augen und Ohren sowie jemanden, der schießen konnte und keine


Angst hatte, es im Notfall auch zu tun. Myron Hutts erfüllte diese


Voraussetzungen, brauchte also nicht schlau zu sein. Carl war schlau


genug für beide.




Außerdem würde er mit Cecil schon Scherereien genug kriegen. Cecil


dachte zuviel. Der analysierte jeden Furz bis zum Gehtnichtmehr. Und


während er die Möglichkeiten hin und her drehte, verpaßte er die Gelegenheiten.


Er war so wie der Typ auf der Witzpostkarte, die Carl einmal gesehen


hatte: Der hatte dagestanden und den Fotoapparat vor die Augen gehalten,


um den Eiffelturm zu fotografieren, während direkt vor seiner Nase


eine nackte Französin vorbeimarschierte. Das war Cecil.




Aber Carl wollte jetzt nicht über seinen älteren Bruder nachdenken.


Später, wenn er allein war, würde er dafür Zeit haben.




Er lehnte sich an den Maschendrahtzaun und ließ seinen Blick über den


Hof schweifen. Ständige Wachsamkeit war ihm in Fleisch und Blut übergegangen.


Zwanzig Jahre im Zuchthaus hatten ihn gelehrt, immer auf der Hut zu


sein, um gleich beim ersten Anzeichen von Ärger reagieren zu können.


Er hatte eine Menge Einfluß und einen großen Kreis von Freunden, aber


war nicht bei allen beliebt.




Drüben auf der anderen Seite des Hofs tummelte sich ein Trupp schwarzer


Gewichtheber, die ihre gutgeölten Muskeln spielen ließen und ihn mit


blankem Haß anstarrten, bloß weil er nicht einer von ihnen war. Da


regten sich die Leute draußen über Bandenkriege, Straßenkämpfe und


Vendettas auf. Lachhaft! Keiner, der nicht im Knast gewesen war, hatte


von Banden auch nur einen blassen Schimmer. In keiner Gesellschaft


auf der ganzen beschissenen Welt gab es Ausgrenzung, Polarisierung


und Diskriminierung wie in der Zuchthausgesellschaft.




Er hatte Meinungsverschiedenheiten mit den schwarzen Häftlingen gehabt,


die zum Austausch von Beschimpfungen und Handgreiflichkeiten geführt


und zwangsläufig disziplinarische Maßnahmen nach sich gezogen hatten.




Aber weder heute noch an irgendeinem anderen Tag in absehbarer Zukunft


würde er sich mit irgend jemandem hier anlegen. Bis zu dem Tag, an


dem er und Myron zum Straßenbautrupp abkommandiert würden, wollte


Carl Herbold sich vorbildlich benehmen. Das Arbeitsprogramm war eine


Neueinführung im Rahmen der Gefängnisreform, die es sich zum Ziel


erklärt hatte, den Häftlingen das Gefühl zu vermitteln, wieder nützliche


Mitglieder der Gesellschaft zu werden. Die sozialen Aspekte interessierten


ihn natürlich einen Dreck. Ihn interessierte einzig, was es für ihn


persönlich bedeutete. Wenn die ihn aufriefen, den Bau hier zu verlassen,


um draußen zu arbeiten, würde er als erster im Bus sitzen.




Und deshalb verhielt er sich ruhig und tat nichts, wodurch er sich


bei den Wärtern auffällig gemacht hätte. Keine Regelverstöße, keine


Prügeleien, nicht einmal Widerspenstigkeit. Wenn er ein Schimpfwort


aufschnappte, das gegen ihn gerichtet war, überhörte er es. Was ihm


nicht paßte, übersah er. Neulich nachts hatte er untätig zuschauen


müssen, wie Myron einem Kerl einen blies. Der andere, ein dreckiger


Weißer, der seine Frau umgebracht und zwei Jahre seiner lebenslänglichen


Strafe abgesessen hatte, hatte Myron mit einer Belohnung gelockt,


woraufhin der sich sofort breitschlagen ließ.
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