Fanfic: Nachtglut

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Die aggressiveren Häftlinge versuchten häufig, Myrons Schwachsinn auszunutzen.


Im allgemeinen pflegte Carl dann einzugreifen. Aber so kurz vor dem


geplanten Ausbruch hatte er das Risiko eines Zusammenstoßes nicht


eingehen wollen. Außerdem litt Myron wohl nicht allzuviel dabei.


Für seine Dienste hatte er eine lebendige Maus bekommen, der er später


mit dem langen spitzen Nagel seines kleinen Fingers den Bauch aufschlitzte.




»Also, merk dir, was ich dir gesagt hab, Myron«, mahnte Carl jetzt.


Die Hofpause würde gleich vorüber sein, und danach würden sie kaum


noch Gelegenheit finden, allein miteinander zu sprechen. »Wenn wir


zum Straßenbautrupp eingeteilt werden, darfst du dir keine Aufregung


anmerken lassen.«




»Okay«, sagte Myron, schon wieder abgelenkt von der blutenden Nagelhaut


an seinem Daumen.




»Es wäre vielleicht sogar gut, wenn wir so täten, als wären wir sauer,


daß wir da raus müssen. Meinst du, du schaffst das? So zu tun, als


wärst du sauer?«




»Klar, Carl.« Er lutschte mit dem gleichen Genuß, wie vorher an dem


Schokoriegel, an seiner Nagelhaut.




»Wenn die nämlich glauben, wir wären scharf darauf…«




Der Schlag traf ihn aus heiterem Himmel. Er riß ihn von der Holzbank,


auf der er gesessen hatte. Eben noch blickte er Myron ins grinsende,


schokoladenverschmierte Gesicht, und im nächsten Moment lag er mit


dröhnenden Ohren im Dreck, während alles rundherum vor seinen Augen


verschwamm und seine Nieren mit Tritten bearbeitet wurden, daß sich


ihm der Magen umdrehte.




Er vergaß seinen Vorsatz, allen Ärger zu vermeiden. Der Überlebensinstinkt


gewann die Oberhand. Sich auf den Rücken rollend, schwang er sein


Bein in die Höhe und trat seinen Angreifer mit aller Kraft in die


Hoden. Der schwarze Gewichtheber, der sich offensichtlich nur auf


seine Muskeln verließ, ohne an Taktik zu denken, hatte den Gegenangriff


nicht erwartet. Laut aufheulend fiel er auf die Knie, die Hände an


seiner zartesten Körperstelle. Natürlich konnten da die anderen Schwarzen


nicht untätig bleiben. Die ganze Meute fiel über Carl her und hieb


mit Fäusten auf ihn ein.




Die Wärter kamen mit schwingenden Schlagstöcken angerannt. Andere Häftlinge


versuchten entweder den Kampf zu beenden oder anzuheizen. Sehr schnell


war das Handgemenge beigelegt. Nach Wiederherstellung der Ordnung


wurde der Schaden begutachtet, und er erwies sich als minimal. Nur


zwei Häftlinge wurden mit Verletzungen ins Krankenhaus gebracht.




Einer war Carl Herbold.




2




Ich fand den Abend sehr nett.«




Die Bemerkung seiner Frau veranlaßte Ezra Hardge zu einem geringschätzigen


Prusten. »Das war das zäheste Stück Fleisch, das ich je auf dem Teller


hatte, und die Klimaanlage hat aus dem letzten Loch gepfiffen. Ich


dachte schon, ich zerfließe in diesem schwarzen Anzug.«




»Dir hätte man heute abend sowieso nichts recht machen können. Du wolltest


unbedingt der Miesmacher sein!«




Ezra Hardge war seit fünfzig Jahren Sheriff von Blewer County und seit


zweiundfünfzig Jahren mit Cora verheiratet. Zum erstenmal hatte er


sie bei einer Wiedererweckungsversammlung gesehen, an der er und seine


Freunde nur zum Jux teilnahmen. Beinahe wie den Worten des Wandergeistlichen


zum Trotz, der unter dem Zeltdach Hölle und Verdammnis predigte, hatte


Cora eine freche rote Schleife im Haar und knalliges Rot auf den Lippen


getragen. Während die Gemeinde sang, wanderte ihr Blick vom Gesangbuch


über den Gang und traf Ezzy, der sie mit unverhohlenem Interesse und


Wohlgefallen anstarrte. Was in ihren Augen blitzte, war nicht religiöser


Eifer, sondern reiner Übermut. Sie hatte ihm zugezwinkert.




Die Aufmüpfigkeit war ihr geblieben, und ihm gefiel sie nach diesen


langen Jahren immer noch.




»Die Leute hier haben es sich eine Menge Mühe und Geld kosten lassen,


dir dieses Essen zu geben. Du hättest wenigstens ein bißchen Dankbarkeit


zeigen können.« Sie schlüpfte aus ihrem Morgenrock und kam zu ihm


ins Bett. »Man kann immerhin höflich sein!«




»Ich hab nicht um ein großartiges Essen mir zu Ehren gebeten… kam mir


vor wie ein Affe…«




»Ach, es geht gar nicht um das Essen. Du bist wütend, weil du aufhören


mußt.«




Cora nahm meistens kein Blatt vor den Mund. Mürrisch zog Ezzy die Bettdecke


hoch.




»Glaub ja nicht, daß ich mich auf deinen Ruhestand freue«, fuhr sie


fort, während sie völlig unnötig ihr Kopfkissen zurechtklopfte. »Oder


meinst du vielleicht, ich find`s lustig, dich in Zukunft den ganzen


Tag zu Hause haben und ständig dein brummiges Gesicht sehen zu müssen?


Ich seh`s schon, du wirst mir dauernd in die Quere kommen.«




»Dir wär`s wohl lieber gewesen, wenn mich irgendein besoffener Randalierer


abgeknallt hätte, was? Dann müßtest du dir jetzt keine Gedanken darüber


machen, wie du mich in Zukunft ertragen sollst.«




Cora kochte. »Du versuchst schon den ganzen Abend, mich zu reizen,


und jetzt hast du`s endlich geschafft! Du weißt genau, daß solches


Gerede mich wütend macht, Ezra Hardge.«




Sie riß am Messingkettchen der Nachttischlampe und tauchte das Schlafzimmer


in Dunkelheit, rollte sich auf die Seite und drehte ihm den Rücken


zu. Normalerweise schliefen sie einander zugewandt ein.




Zweifellos hatte er die Bemerkung absichtlich gemacht, weil er wußte,


daß sie sie in Rage bringen würde. Offen gestanden hatte er während


seiner Amtszeit als Sheriff jeden Tag darum gebetet, daß er nicht


im Dienst draufgehen und als blutige Leiche zu Cora heimkehren würde.




Aber wenn man es einmal vom praktischen Standpunkt aus betrachtete,


wäre es tatsächlich besser gewesen, er hätte in Ausübung seines Amtes


das Zeitliche gesegnet. Es wäre sauberer und einfacher für alle Beteiligten


gewesen. Den Gemeindevätern wäre die Peinlichkeit erspart geblieben,


ihm nahezulegen, sich nicht noch einmal um das Sheriffsamt zu bewerben.


Sie hätten sich die Ausgaben für die Fete heute abend sparen oder


das Geld zumindest für lohnendere Dinge verwenden können. Wenn er


früher abgetreten wäre, brauchte er jetzt nicht einer Zukunft entgegenzublicken,


in der er sich ungefähr so nützlich fühlen würde wie ein Paar Skier


in der Sahara.




Zweiundsiebzig Jahre alt, auf die Dreiundsiebzig zugehend. Arthritis


in allen Gliedern. So fühlte es sich jedenfalls an. Und sein Verstand


war wahrscheinlich auch nicht mehr das, was er einmal gewesen war.


Nein, er selbst hatte kein Nachlassen bemerkt; aber andere lachten


wahrscheinlich bereits hinter seinem Rücken über die Anzeichen vorrückender


Senilität.




Am schlimmsten war es, sich eingestehen zu müssen, daß sie möglicherweise


recht hatten. Er war alt und abgewirtschaftet und hatte in diesem


Amt nichts mehr zu suchen. Okay, das sah er ein. Auch wenn es ihm


nicht gefiel - diese Sache mit dem Ruhestand -, er konnte ihn akzeptieren,


weil den Leuten der Gemeinde mit einem Jüngeren besser gedient sein


würde.




Er wünschte nur, er hätte die Arbeit nicht niederlegen müssen, bevor


sie abgeschlossen war. Und sie würde so lange nicht abgeschlossen


sein, bis er wußte, was Patsy McCorkle zugestoßen war.




Seit zweiundzwanzig Jahren teilte das Mädchen das Bett mit ihm und


Cora. Natürlich nur im übertragenen Sinn. Vom schlechten Gewissen


getrieben, gerade auch im Licht ihres Streits, drehte er sich herum


und legte Cora die Hand auf die Hüfte. Er tätschelte sie liebevoll.




»Cora?«




»Ach, laß mich in Frieden«, fauchte sie. »Ich bin zu wütend.«




Als Ezra ein paar Stunden später sein altes Amt betrat, hob der diensthabende


Deputy verschlafen den Kopf und sprang auf. »Hey, Ezzy, was, zum Teufel,


machen Sie denn hier?«




»Tut mir leid, daß ich Sie aus Ihrer Nachtruhe gerissen hab, Frank.


Lassen Sie sich von mir nicht stören. Ich hab noch ein paar Akten


da, die raus müssen.«




Der Deputy sah zur großen Wanduhr auf. »Um diese Zeit?«




»Ich konnte nicht schlafen. Und deshalb hol ich noch meine restlichen


Sachen, wo ich jetzt offiziell weg bin. Sheriff Foster wird sicher


gleich morgen einziehen wollen.«




»Ja, wahrscheinlich. Was halten Sie von ihm?«




»Guter Mann. Er wird ein tüchtiger Sheriff werden«, antwortete Ezzy


aufrichtig.




»Kann sein, aber Ezzy Hardge ist er nicht.«




»Danke, Frank.«




»Tut mir leid, daß ich gestern abend nicht zu dem Essen kommen konnte.


Wie war`s denn?«
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