Harry Potter und der Stein der Weisen

tagsüber kaum gesichtet werden, wurden diese Vögel
seit Sonnenaufgang hunderte Male beobachtet, wie sie kreuz und
quer über das Land hinwegflogen. Die Fachleute können sich
nicht erklären, warum die Eulen plötzlich ihre Gewohnheiten
geändert haben.« Der Nachrichtensprecher erlaubte sich ein
Grinsen. »Sehr mysteriös. Und nun zu Jim McGuffin mit dem Wetter. Sind heute
Abend noch weitere Eulenschauer zu erwarten, Jim?«
»Nun, Ted«, meinte der Wetteransager, »das kann ich nicht
sagen, aber es sind nicht nur die Eulen, die sich heute seltsam
verhalten haben. Zuschauer aus so entfernten Gegenden wie
Kent, Yorkshire und Dundee haben mich heute angerufen und
berichtet, dass anstelle des Regens, den ich gestern versprochen
hatte, ganze Schauer von Sternschnuppen niedergegangen sind!
Vielleicht haben die Leute zu früh Silvester gefeiert - das ist noch
eine Weile hin, meine Damen und Herren! Aber ich kann Ihnen
für heute eine regnerische Nacht versprechen.«
Mr. Dursley saß starr wie ein Eiszapfen in seinem Sessel.
Sternschnuppen über ganz Großbritannien? Eulen, die bei Tage
flogen? Allerorten geheimnisvolle Leute in sonderbarer
Kleidung? Und ein Tuscheln, ein Tuscheln über die Potters ...
Mrs. Dursley kam mit zwei Tassen Tee ins Wohnzimmer. Es
hatte keinen Zweck. Er musste ihr etwas sagen. Nervös räusperte
er sich. »Ahm - Petunia, Liebes - du hast in letzter Zeit nichts
von deiner Schwester gehört, oder?«
Wie er befürchtet hatte, blickte ihn Mrs. Dursley entsetzt und
wütend an. Schließlich taten sie für gewöhnlich so, als hätte sie
keine Schwester.
»Nein«, sagte sie scharf. »Warum?«
»Komisches Zeug in den Nachrichten«, murmelte Mr.
Dursley. »Eulen ... Sternschnuppen ... und heute waren eine
Menge komisch aussehender Leute in der Stadt ...«
»Und?«, fuhr ihn Mrs. Dursley an.
»Nun, ich dachte nur . .. vielleicht ... hat es etwas zu tun mit
... du weißt ... ihrem Klüngel.«
Mrs. Dursley nippte mit geschützten Lippen an ihrem Tee.
Konnte er es wagen, ihr zu sagen, dass er den Namen »Potter« gehört hatte? Nein, das konnte er nicht. Stattdessen
bemerkte er so beiläufig, wie er nur konnte: »Ihr Sohn - er wäre
ungefähr in Dudleys Alter, oder?«
»Ich nehme an«, sagte Mrs. Dursley steif
»Wie war noch mal sein Name? Howard, nicht wahr?«
»Harry. Ein hässlicher, gewöhnlicher Name, wenn du mich
fragst.«
»O Ja, sagte Mr. Dursley, und das Herz rutschte ihm in die
Hose. »Ja, da bin ich ganz deiner Meinung.«
Bis es Zeit zum Schlafen war und sie nach oben gingen,
verlor er kein Wort mehr darüber. Während Mrs. Dursley im Bad
war, schlich sich Mr. Dursley zum Schlafzimmerfenster und
spähte hinunter in den Vorgarten. Die Katze war immer noch da.
Sie starrte auf den Ligusterweg, als ob sie auf etwas wartete.
Bildete er sich das alles nur ein? Konnte all dies etwas mit
den Potters zu tun haben? Wenn es so war ... und wenn
herauskäme, dass sie verwandt waren mit einem Paar von - nein,
das würde er einfach nicht ertragen können.
Die Dursleys gingen zu Bett. Mrs. Dursley schlief rasch ein,
doch Mr. Dursley lag wach und wälzte alles noch einmal im Kopf
hin und her. Bevor er einschlief, kam ihm ein letzter, tröstender
Gedanke. Selbst wenn die Potters wirklich mit dieser Geschichte
zu tun hatten, gab es keinen Grund, warum sie bei ihm und Mrs.
Dursley auftauchen sollten. Die Potters wussten sehr wohl, was
Petunia von ihnen und ihresgleichen hielt ... Er konnte sich nicht
denken, wie er und Petunia in irgendetwas hineingeraten sollten,
was dort draußen vor sich ging - er gähnte und drehte sich auf
die Seite -. damit würden er und seine Frau Jedenfalls nichts zu
tun haben ...
Wie sehr er sich täuschte.
Mr. Dursley mochte in einen unruhigen Schlaf hinü-
bergeglitten sein, doch die Katze draußen auf der Mauer zeigte
keine Spur von Müdigkeit. Sie saß noch immer da wie eine
Statue, die Augen ohne zu blinzeln auf die weiter entfernte Ecke
des Ligusterwegs gerichtet. Kein Härchen regte sich, als eine
Straße weiter eine Autotür zugeknallt wurde oder als zwei Eulen
über ihren Kopf hinwegschwirrten. In der Tat war es fast
Mitternacht, als die Katze sich zum ersten Mal rührte.
An der Ecke, die sie beobachtet hatte, erschien ein Mann, so
Jäh und lautlos, als wäre er geradewegs aus dem Boden
gewachsen. Der Schwanz der Katze zuckte und ihre Augen
verengten sich zu Schlitzen.
Einen Mann wie diesen hatte man im Ligusterweg noch nie
gesehen. Er war groß, dünn und sehr alt, Jedenfalls der silbernen
Farbe seines Haares und Bartes nach zu schließen, die beide so
lang waren, dass sie in seinem Gürtel steckten. Er trug eine lange
Robe, einen purpurroten Umhang, der den Boden streifte, und
Schnallenstiefel mit hohen Hacken. Seine blauen Augen
leuchteten funkelnd hinter den halbmondförmigen Brillengläsern
hervor, und seine Nase war sehr lang und krumm, als ob sie
mindestens zweimal gebrochen wäre. Der Name dieses Mannes
war Albus Dumbledore.
Albus Dumbledore schien nicht zu bemerken, dass er soeben
in einer Straße aufgetaucht war, in der alles an ihm, von seinem
Namen bis zu seinen Stiefeln, keineswegs willkommen war.
Gedankenverloren durchstöberte er die Taschen seines Umhangs.
Doch offenbar bemerkte er, dass er beobachtet wurde, denn
plötzlich sah er zu der Katze hinüber, die ihn vom andern Ende
der Straße her immer noch anstarrte. Aus irgendeinem Grunde
schien ihn der Anblick der Katze zu belustigen. Er gluckste
vergnügt und murmelte: »Ich hätte es wissen müssen.«
In seiner Innentasche hatte er gefunden, wonach er suchte.
Es sah aus wie ein silbernes Feuerzeug. Er ließ den Deckel
aufschnappen, hielt es hoch in die Luft und ließ es knipsen. Mit
einem leisen »Plop« ging eine Straßenlaterne in der Nähe aus. Er
knipste noch mal - und die nächste Laterne flackerte und erlosch.
Zwölfmal knipste er mit dem Ausmacher, bis die einzigen
Lichter, die in der ganzen Straße noch zu sehen waren, zwei
kleine Stecknadelköpfe in der Ferne waren, und das waren die
Augen der Katze, die ihn beobachtete. Niemand, der Jetzt aus
dem Fenster geschaut hätte, auch nicht die scharfäugige Mrs.
Dursley, hätte nun irgendetwas von dem mitbekommen, was
unten auf dem Bürgersteig geschah. Dumbledore ließ den Ausmacher
in die Umhangtasche gleiten und machte sich auf den
Weg die Straße entlang zu Nummer 4, wo er sich auf die Mauer
neben die Katze setzte. Er sah sie nicht an, doch nach einer Weile
sprach er mit ihr.
»Was für eine Überraschung, Sie hier zu sehen, Professor
McGonagall.«
Mit einem Lächeln wandte er sich zur Seite, doch die
Tigerkatze war verschwunden. Statt ihrer lächelte er einer
ziemlich ernst dreinblickenden Frau mit Brille zu, deren Gläser
quadratisch waren wie das Muster um die Augen der Katze.
Auch sie trug einen Umhang, einen smaragdgrünen. Ihr
schwarzes Haar war zu einem festen Knoten zusammengebunden.
Sie sah recht verwirrt aus.
»Woher wussten Sie, dass ich es war?«, fragte sie.
»Mein lieber Professor, ich habe noch nie eine Katze so steif
dasitzen sehen.«
»Sie wären auch steif, wenn Sie den ganzen Tag auf einer
Backsteinmauer gesessen hätten«, sagte Professor McGonagall.
»Den ganzen Tag? Wo Sie doch hätten feiern können? »Ich muss auf dem Weg an mindestens einem Dutzend Feste
und Partys vorbeigekommen sein.«
Verärgert schnaubte Professor McGonagall durch die Nase.
»O Ja, alle Welt feiert, sehr schön«, sagte sie ungeduldig.
»Man sollte meinen, sie könnten ein bisschen vorsichtiger sein,
aber nein - selbst die Muggel haben bemerkt, dass etwas los ist.
Sie haben es in ihren Nachrichten gebracht.« Mit einem
Kopfrucken deutete sie auf das dunkle Wohnzimmerfenster der
Dursleys. »Ich habe es gehört. Ganze Schwärme von Eulen ...
Sternschnuppen ... Nun, ganz dumm sind sie auch wieder nicht.
Sie mussten einfach irgendetwas bemerken. Sternschnuppen
unten in Kent - ich wette, das war Dädalus Diggel. Der war noch
nie besonders vernünftig.«
»Sie können ihnen keinen Vorwurf machen«, sagte
Dumbledore sanft. »Elf Jahre lang haben wir herzlich wenig zu
feiern gehabt.«
»Das weiß ich«, sagte Professor McGonagall gereizt. »Aber
das ist kein Grund, den Kopf zu verlieren. Die Leute sind einfach
unvorsichtig, wenn sie sich am helllichten Tage draußen auf den
Straßen herumtreiben und Gerüchte zum Besten geben.
Wenigstens könnten sie Muggelsachen anziehen.«
Dabei wandte sie sich mit scharfem Blick Dumbledore zu, als
hoffte sie, er würde ihr etwas mitteilen. Doch er schwieg, und sie
fuhr fort: »Das wäre eine schöne Bescherung, wenn
ausgerechnet an dem Tag, da Du-weißt-schon-wer endlich
verschwindet, die Muggel alles über uns herausfinden würden.
Ich nehme an, er ist wirklich verschwunden, Dumbledore?«
»Es sieht ganz danach aus«, sagte Dumbledore. »Wir müssen
für vieles dankbar sein. Möchten Sie ein Brausebonbon?« »Ein was?«
»Ein Zitronenbrausebonbon. Eine Nascherei der Muggel, auf
die ich ganz scharf bin.«
»Nein, danke«, sagte Professor McGonagall kühl, als sei
Jetzt nicht der richtige Moment für Zitronenbrausebonbons.
»Wie ich schon sagte, selbst wenn Du-weißt-schon-wer wirklich
fort ist -«
»Mein lieber Professor, eine vernünftige Person wie Sie kann
ihn doch sicher beim Namen nennen? Der ganze Unsinn mit
>Du-weißt-schon-wer< - seit elf Jahren versuche ich die Leute
dazu zu bringen, ihn bei seinem richtigen Namen zu nennen:
Voldemort.« Professor McGonagall zuckte zurück, doch
Dumbledore, der zwei weitere Bonbons aus der Tüte fischte,
schien davon keine Notiz zu nehmen. »Es verwirrt doch nur,
wenn wir dauernd >Du-weißt-schon-wen< sagen. ich habe nie
eingesehen, warum ich Angst davor haben sollte, Voldemorts
Namen auszusprechen.«
»Das weiß ich wohl«, sagte Professor McGonagall halb
aufgebracht, halb bewundernd. »Doch Sie sind anders.
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