Kirschbaum
...
Es war wieder einer dieser Tage, an denen man nicht wusste, was man mit sich anstellen konnte. Die Hitze legte sich schwer auf das Land und trieb den Lebensgeist aus, den man sonst dieser Gegend zuschrieb. Ächzend lag Cedric im Schatten eines Kirschbaumes, der sich sanft im Wind wog und scheinbar das einzige Lebewesen war, dass sich an der Sonne erfreute.
Wahrscheinlich war dies der einzige Ort in ganz Awey Ville, an dem es sich ein wenig aushalten ließ, dachte Cedric und öffnete seine Augen ein Stück weit, um die prallen, roten Kirschen in der Sonne glänzen zu sehen. Die Blätter rauschten in der seichten Brise, während Vogeleltern ihren Jungen die spärlichen Futtermassen reichten, die sie aus dem trockenen Boden hatten picken können. Es hatte seit Wochen nicht geregnet, also wunderte man sich nicht darüber, dass die kleinen scheinbar noch lauter kreischten, als zuvor, bevor sie hoffnungsvoll den Mund aufgesperrt hatten um die karge Ausbeute ihrer Ernährer in Empfang zu nehmen.
Cedric war ein Träumer und so war es nichts Besonderes, dass er gedankenverloren in die Baumkronen schaute und wohl erwartete, dass ihm etwas außerordentlich kluges und nützliches ins Gesicht fiel, mit dem er der Hitze entkommen konnte. Im Haus war es zu heiß gewesen, besonders weil seine Katze es irgendwie geschafft hatte, den Ventilator zu demolieren. Seinen heißgeliebten Ventilator, den er mit List einem anderen Kunden des örtlichen Elektrogeschäfts entwendet hatte. Drei Tage hatte er gehalten und schon hatte Cherry, Cendric's Katze, den Ventilator mit einem Sprung vom Essenstisch geschubst, worauf er keinen Ton mehr von sich gab. Zuerst hatte Cedric aus Wut Cherry mit Essensentzug gedroht, wusste aber wie lächerlich das Ganze war und verzog sich im Garten,
wo er nun lag und den Kirschbaum beobachtete. Cherry streifte umher und hoffte die Gutmütigkeit ihres Herrchens zu erweichen, um vielleicht doch eine Streicheleinheit von ihm zu bekommen. "Du weißt genau, dass es mir viel zu heiß für Kuscheleinheiten ist.", sagte Cedric und kippte auf die Seite um seine Katze zu beobachten, die sich auf den alten Stuhl gesetzt hatte, der neben dem Baumstamm stand. Beide schauten sich lange an. Schnurrend legte sich Cherry flach auf den Bauch und ließ die vier Beine nach unten Baumeln.
"Ach Cherry.", seufzte Cedric und legte sich ebenfalls auf den Bauch um seine Katze besser betrachten zu können. Cedric war ein Einzelgänger, genau wie Katzen es waren.
Und obwohl er sich manchmal wünschte, jemanden bei sich zu haben, der ihn verstand und ihn in den Arm nahm, so wie er es bei Cherry tat, machte er sich nicht genügend Mühen um seiner Einsamkeit ein Ende zu setzen. Er blieb lieber zu Hause, als mit seinen Kollegen vom College trinken zu gehen. Wie hatte er es nur so weit gebracht, dachte er manchmal. Wieso bewohnte er ein eigenes Haus, welches zwar in der Pampa lag, aber trotzdem sein Eigen war, und wieso hatte man nie an ihm gezweifelt? Gezweifelt daran, dass er allein klar käme. Manchmal dachte Cedric, wenn er in seinen tiefen Phasen war, dass seine Familie ihn wohl los werden wollte und ihm deswegen das Geld für das Haus stiftete.
Sein Vater war ein wohlhabender Firmenchef, dessen Arbeit Cedric relativ verworren vorkam, weil er einfach nicht verstand, wieso man an der Produktion von Lampenöl heutzutage noch so reich werden konnte. Wahrscheinlich exportierte sein Vater fleißig nach Südamerika oder in die Klöster von Tibet. Er hatte keine Ahnung davon und es war ihm auch relativ egal. Cedric war jetzt 23 und war genug damit beschäftigt, wie seine eigene Zukunft aussehen sollte. Auf keinen Fall wollte er den Betrieb seines Vaters übernehmen. Zum Glück war sein großer Bruder Frank, der Stolz der ganzen Familie, ihm zuvor gekommen und hatte bei Daddy seine Übernahme angekündigt. Herzlich hatte sein Vater Frank in den Arm genommen und ihn für seinen Ehrgeiz gelobt. Kurze Zeit später, hatte man nach einem Haus für Cedric gesucht und ihn innerhalb von vier Monaten nach Awey Ville abschieben können, so kam es Cedric zumindest vor.
Die einzige Person, die noch regelmäßig mit ihm in Kontakt stand, war seine Mutter
Alice. Sie hatte sich extra einen Internetzugang angeschafft um regelmäßig mit ihrem "Kleinen", wie sie ihn liebevoll nannte, schreiben zu können. Sie war es auch, die veranlasste, dass er zu den Familienfeiern kam und nicht die Weihnachts- oder Osterfeiertage allein mit Cherry vorm Fernseher verbrachte.
Doch selbst Besuch bekam Cedric nur selten. Ab und zu der Pizzalieferant oder der Postbote, aber sonst niemand. Es hatte eine Zeit gegeben, in der ein Mädchen, namens Carolin, ihn besucht hatte. Sie war vielleicht sieben gewesen und klingelte oft bei Cedric um ihm einen guten Tag zu wünschen und ihm Blumen in die Hand zu drücken. Sie war ein hübsches blondes Mädchen, das sich gerne auf die Schaukel setzte, die schon an dem Kirschbaum hing, als Cedric einzog. Manchmal setzte sich Cedric zu ihr auf den Stuhl und betrachtete Carolin, wie sie lachend hin und her schaukelte. So viel Lebensfreude hatte er noch nie gesehen und darum bewunderte er sie.
Vielleicht beneidete er sie sogar ein wenig, wie gelassen und befreit von jeglichen Gedanken sie dort auf der Schaukel sitzen konnte und ihre Füße dem Himmel entgegen schwang. Doch diese Zeit endete abrupt, als Carolin mit ihren Eltern in einem Autounfall verunglückte. Tage lang war Cedric nicht vor die Tür getreten. Er hatte zu starke Angst, die Erinnerungen würden ihn einholen. Nicht nur Erinnerungen an das kleine fröhliche Mädchen, sondern auch
an seine eigene Kindheit, die merkwürdigerweise mit dem Tod von Carolin wieder in sein Leben traten, obwohl sie nur wenig mit dem Schicksal der Kleinen im Zusammenhang standen. Er fühlte sich ein weiteres Mal einsam in dieser Welt, die scheinbar nicht für ihn bestimmt war. Irgendwer entriss ihm ständig die Lebensfreude, die er jedes Mal nur langsam wieder aufbauen konnte. Nur diesmal war es ein wenig anders gewesen. Einige Tage, nachdem er sich von dem ersten Schock erholt hatte, klingelte es an der Tür.
Sein erster Gedanke war "Carolin!". Die Hoffnung das kleine Wesen stünde vor seiner Tür und würde ihm einen Gänseblümchenstrauß entgegenstrecken, war so stark, dass er beflügelt von Freude beinahe die Treppe hinunterfiel, nachdem er auf einem Hausschuh ausgerutscht war. Keuchend öffnete er die Tür, richtete seinen Blick automatisch etwas weiter nach unten, auf die Höhe eines Kinderkopfes und erblickte eine schwarze Katze, die schurrend auf dem Arm einer etwas älteren Dame lag. Das Herz sank Cedric in seine Bauchgegend. "Guten Morgen, Mister Floren.", sagte die Frau und schaute Cedric mit traurigem Blick
an. "Ich bin die Tante der kleinen Carolin. Sie hat mir viel von ihnen erzählt. Sie wollte immer, dass ich einmal mitkomme und sie kennenlerne, aber ich dachte nicht, dass es unter diesen Umständen passieren würde.", sie musste schlucken um ein Schluchzen zu unterdrücken und fing dann erneut an zu reden.
"Die Kleine hier heißt Cherry und war Carolin's Ein und Alles. Carolin hat mir einmal erzählt, dass Cherry sie sicherlich mögen würde, weil sie so eine Ruhe ausstrahlen würden, die Cherry gut gebrauchen könnte.
Ich dachte mir, sie würden Cherry gerne behalten. Nicht nur weil ich nicht weiß, wie ich mit ihr umgehen soll sondern auch, weil es Carolin sicherlich freuen würde, wenn sie jetzt auf Cherry aufpassen würden." Cedric bemerkte wie verzweifelt die Frau war, die vor ihm stand und nickte kurz, weil er nicht wusste, was er sonst hätte sagen sollen. Zu sehr hatte er Angst, dass er durch ein falsches Wort Tränen auslösen würde. Zwar hatte Cedric ebenfalls keine Ahnung, wie er mit dieser Katze umgehen sollte, war sich aber bewusst, dass er es irgendwie schaffen konnte, wenn er nur wollte. "Danke", sagte die Frau
und drehte sich um, um zu gehen. "Warten sie kurz", hatte Cedric gerufen und sich dann erkundigt wo Carolin und ihre Familie begraben waren. Später besuchte er oft ihr Grab und legte Gänseblümchensträuße nieder und wünschte er hätte ihr mehr sagen können, bevor sie aus seinem Leben getreten war, als nur ein einfaches "Guten Tag" oder "Möchtest du etwas trinken?" Es gab viel was Cedric im Nachhinein hätte besser machen wollen. Aber jedes Mal war es zu spät, oder er traute sich nicht. Nun lag er faul unter dem Baum, seine Katze schlief längst und er wusste nicht, was er machen sollte um seinem Tag noch einen Sinn zu
verleihen. Langsam richtete er sich auf und blickte sich um. Das Gras war schon lange nicht mehr grün.
Beinahe ächzend lag es da und vergilbte von Tag zu Tag mehr. Der Rasensprenger, den sich Cedric besorgt hatte, erfüllte seinen Job wohl nicht ausreichend und war schon längst in dem kleinen Gartenhäuschen verschwunden, was am Ende der Wiese stand. Cedric hatte schon lange der Wille verlassen, etwas im Garten zu tun und so ähnelte das ganze einem Urwald. Aber einem schönen Urwald, an dem ein kleiner Junge sicherlich viel Spaß gehabt hätte. Nur fand sich Cedric zu alt für Abenteuerspiele, in denen er durch die Büsche zog und Ureinwohner ausfindig machte, die die Form von Käfern und Regenwürmern annahmen.
Den einzigen Teil seines Wohngeländes, den er zu pflegen wusste, war der große Vorgarten, der eigentlich nur aus einer großen Rasenfläche und dem Kirschbaum bestand. Seine Mutter hatte ihm gesagt, dass er wenigstens diesen Ort gemütlich halten sollte. Und das tat er auch gerne, es machte ihm sogar Spaß den Rasen zu mähen, denn viel Arbeit machte das schließlich nicht. Und der Kirschbaum brachte ihm noch mehr Freude, denn im
Sommer hing er voll mit süßen dunkelroten Kirschen, die nur darauf warteten in Cedric's Mund zu verschwinden. Und da er allein dort wohnte, und Katzen keine Kirschen mochten, hatte er allesamt für sich allein. Zwar hatte das oftmals zu Bauchweh geführt,