Someone Else

Another you

Kapitel 2 - Another you

Jetzt erst traute sich die Person hinter dem Baum hervor. „Chiaki…“, sprach sie leise. Er konnte sie nicht mehr hören, er sollte sie auch nicht hören. Sie hatte ihn die ganze Zeit über beobachtet, niemals sollte er nur ein Wort davon hören.
Langsam schritt die unbekannte Person an den Grabstein heran und betrachtete ihn. Er sah beinahe so aus wie jeder andere hier auf dem Friedhof. Zwei kleine Engel zierten die Seiten des Steines, sie bliesen die Fanfaren. Es war sicherlich eine ruhige Reise in den Himmel für die junge Mutter gewesen. Unbewusst rollte eine weitere Träne zu Boden. Weswegen heul ich jetzt eigentlich?, fragte sich die Person selbst und ging den Weg langsam zurück. Vielleicht…weil ich weiß, wie es ist einsam zu sein… In diesen Gedanken gefangen, schritt sie langsam weiter über den kleinen Pfad. Immer mehr Blätter fielen, es raschelte. Sie hatte sogar ein kleines Eichhörnchen entdecken können als sie ihm vorhin gefolgt war.
Und doch ließ es sie nicht los, wie am Boden zerstört der junge Mann gewesen war. Sie wohnte mit ihm Tür an Tür, ging mit ihm in dieselbe Klasse. Er war ein Playboy, beliebt bei allen Mädchen und ließ keine Chance auf einen Flirt aus. Sein Lächeln war bezaubernd, dass ihm so viele verfielen, war kaum verwunderlich. Innerlich musste sie sich eingestehen, dass es bei ihr doch kaum anders war. Sie fand immer mehr Gefallen an dem Blauhaarigen, versuchte jedoch weiterhin Abstand zu ihm zu halten. Jetzt aber, wo sie sein anderes Ich kennen gelernt hatte, schien sie ihn besser einschätzen zu können. Er war nicht der Mann, den er zu mimte. Er war ebenfalls zerbrechlich und angreifbar. Er hatte sogar geweint, war verzweifelt. Mit einem Mal tat ihr Chiaki so unendlich leid. Sie konnte nichts für ihn tun. Er würde es mit Sicherheit eh nicht zulassen…, versicherte sie sich selbst. Leise seufzend betrat sie nun die Hauptstraße der kleinen Stadt. Es war zwar ein sonst verschlafener Ort, es war jedoch ein unglaublich reges Treiben auf der Straße. So viel hatte sie selten gesehen. Irgendwo unter ihnen musste doch auch Chiaki stecken, er würde auffallen. Doch nur wo?
Unbewusst hielt sie nach ihm Ausschau, trabte die Straße langsam ab. In jedes kleines Café warf sie einen Blick. Nichts, stellte sie immer öfter fest. Wo hatte er sich nur vergraben? Zu seinem Vater würde er jetzt noch nicht gehen, so gut kannte sie ihren Nachbar. Er verabscheute seinen Vater, bezeichnete ihn viel mehr nur als seinen Erzeuger, und würde mit Sicherheit keine Minute zu viel mit ihm verbringen wollen. Ob das heute anders sein würde? Heute, am augenscheinlichen Todestages seiner Mutter? Bisher hatte er niemals mit ihr darüber gesprochen. Gut, was geht mich auch bitte sein Leben an…?
Seufzend ließ sie sich auf einer Bank nieder und blickte zum Himmel. Weiterhin prallte die Sonne unaufhörlich auf die Leute hinunter. Jemand, der keinen Hut besaß, würde mit hoher Wahrscheinlichkeit wohl einen Sonnenstich bekommen, den Sonnenbrand hatten so viele sich schon eingefangen. Die Arme verschränkte sie im Nacken und lehnte sich zurück. Langsam gab sie es wirklich auf den jungen Mann heute noch zu finden. Er schien wahrlich wie vom Erdboden verschluckt. Wo könnte er denn nur stecken? Es war doch nicht zum Aushalten.
Im nächsten Augenblick schien ihr fast das Herz stehen zu bleiben. Da war er doch. Chiaki!, rief sie innerlich schon freudig und sprang von ihrem Sitzplatz auf. Mit einem Mal zerbrach jedoch ihre kleine Welt wieder als sie Yashiro sah. Sie lief dem Blauhaarigen direkt in die Arme. Anstatt Marron rief sie nun nach ihm, umarmte ihn stürmisch.
„Ich hab schon nach dir gesucht!“, und damit umschlang sie seinen Nacken mit ihren Armen. Ihr Lächeln war verliebt, der Blick sprach Bände.
Doch anstatt ein Wort zu erwidern oder sie eines Blickes zu würdigen, befreite er sich aus dieser Umklammerung. Er war eiskalt, Marron lief ein Schauer über den Rücken. Chiaki musste wirklich ein guter Schauspieler sein. Von einer Emotionalität zur nächsten ohne das man einen Bruch bemerkte. Was ging nur in ihm vor? Wieso tat er das mit der jungen Frau? Sie war seine Verlobte, das war bekannt, er habe sich von ihr getrennt, hieß es. Doch Yashiro schien sich nichts daraus zu machen, sie beharrte darauf, dass er sie heiraten möge.
„Lass mich in Frieden“, kam es gefühllos aus dem Mund des jungen Mannes, dann schritt er einfach davon. Die Hände verstaute er in den Hosentaschen, der Blick war auf den Boden gerichtet. Er war schwach und hilflos, auch wenn er es nicht zugeben wollte. „Und meinem Vater“, mit diesen Worten drehte er sich wieder zu ihr um, „Dem kannst du ausrichten, dass ich heute Abend schon auftauchen werde, er braucht dich nicht immer vorzuschicken!“ Und damit ging er unbeirrt weiter. Die Blicke der anderen Leute, die auf ihm ruhten, schienen ihn nicht zustören.
„Aber Chiaki…“ Die Tränen kullerten die Wangen der jungen Frau hinunter. Sie war am Boden zerstört. Sie wusste kaum mehr, wer dieser Mann war, den sie doch liebte. Geliebt hatte. Er entfernte sich immer weiter von ihr. Wenn er eine andere Freundin hatte, bräuchte er ihr das doch nur zu sagen. Wieso bist du so gemein zu mir? Gerade wollte sie unter Tränen zusammenbrechen, ihre Knie waren weich geworden, als sie zwei starke Arme spürte, die sie hielten. Da war er wieder, der Sekretär Chiakis Vater – Kagura. Er war immer zur Stelle, wenn mit ihr etwas nicht stimmte. Oder war er wieder nur auf der Suche nach Chiaki, um ihn nach Hause zu bringen?
Aber anstatt sich dieses Schauspiel weiter anzusehen, entschied sich Marron dafür dem jungen Mann zu folgen. Egal, wo er nun hinginge, sie wäre an seiner Seite. Er sollte wissen, dass er nicht alleine war. Und sie wusste am Besten, wovon sie dabei sprach. Immerhin war es doch auch Chiaki, der immer an ihrer Seite war, wenn sie sich einsam fühlte, wenn sie jemanden brauchte, der ihre Hand hielt. Wenigstens einmal sollte auch dieses warme Gefühl ihn erfüllen.
Auf dem großen Platz hatte sie ihn wieder verloren. „Chiaki…“, seufzte sie leise und ließ sich auf den Rand des Brunnens fallen. Nichts konnte sie richtig machen, nicht einmal jemanden verfolgen. Sie wollte sich von ihren Gefühlen leiten lassen, doch wusste sie kaum, was sie wirklich für den Jungen empfand. Sie liebte ihn, ja, aber seine ständigen Eigenarten machten es ihr schwer ihn zu lieben. Manchmal hasste sie ihn sogar dafür.
„Wo bist du nur…?“ Gerade wollte sie zum Himmel aufblicken als zwei haselnussbraune Augen vor ihrem Blickfeld auftauchen. Ein Lächeln zierte sofort ihre Lippen, wusste sie immerhin ganz genau, zu wem diese gehörten.
„Wen suchst du denn, Marron?“ Damit ließ sich Chiaki neben ihr nieder. Er hatte sich wieder gefangen. Er wusste, dass Trauern nichts brachte, dass es sinnlos war, wenn er sich irgendwo vergraben würde und den Frust dauernd in sich hineinzufressen. Er tat dies stundenweise, versuchte jedoch schnell alles wieder abzubauen. Er wollte keinen Schwachpunkt haben an dem man ihn einfach treffen konnte. Er war stark, er wollte unnahbar sein und alles sollte ihn kalt lassen.
„Ich habe dich gesucht“, gab sie leise zu und blickte zu ihm. Wenn man genau hinsah, konnte man sogar noch die dünnen Spuren seiner Tränen nachvollziehen. Alles andere war jedoch aus seinem Gesicht verschwunden, selbst seine Aura schien wieder eine ganz andere zu sein. Konnte er ihr nicht das Rezept verraten, wie man so sein konnte?
„Das ehrt mich jetzt aber“, grinste er sogar wieder ein wenig albern. „Brauchst du doch nicht. Ich bin doch immer in deiner Nähe“
„Wenn das mal stimmen würde…du warst heute Morgen einfach weg und dann auch nirgends mehr zu finden“
„Marron…es ist Wochenende und ich bin dir keine Rechenschaft schuldig…es gibt eben Dinge, die gehen selbst dich nichts an“ Mit diesen Worte tippte er sachte gegen ihre Nasenspitze und erhob sich wieder. Es rührte ihn dennoch, dass sie sich um ihn Sorgen gemacht hatte. „Aber…wieso weißt du eigentlich, dass ich seit heute Morgen verschwunden bin? Hast du etwa Frühstück gemacht?“
„Wenn du es genau wissen willst, ja!“, damit erhob auch sie sich. Es war wieder einer dieser Momente, in denen sie Chiaki eigentlich nur ohrfeigen konnte. Sie hatte sich wirklich Sorgen um ihn gemacht, besonders als sie gesehen hatte, wie sehr er litt. Und er zog das alles nur noch ins Lächerliche. Das war einfach nicht fair von ihm. „Aber vergiss es!“, und damit setzte sie zum Gehen an.
Weit kam sie nicht, kaum einen Schritt, denn da hatte er ihr Handgelenk schon umfasst. Zog sie wieder dichter an sich heran. Da war es wieder dieses wunderschöne Lächeln. Es würde sicherlich Eis zum Schmelzen bringen können. Wieso konnte sie ihm nicht mehr böse sein. Wieso…pocht mein Herz nur so?
„Entschuldige Marron…ich wollte nicht, dass du dich sorgst…ich werd dir nächstes Mal wieder einen Zettel in den Briefkasten legen, ja?“ Er grinste nicht, er lächelte weiterhin. Er schien es ernst zu meinen. Die Brünette wusste gar nicht, wie ihr geschah. Es war mit einem Mal alles so anders. Die Welt um sie herum schien stehen zu bleiben, es gab nur noch sie beide.
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