Narben

des Baumes. Der Junge stellte sich gerade hin, behutsam darauf achtend, dass er nicht schmerzhaft gegen etwas stieß und noch herunterfiel. Ein wenig erschöpft lehnte er sich gegen den Stamm und wischte sich über seine verschwitzte Stirn.
Ein wenig schwül war es doch noch draußen.
Und nun fiel sein Blick wieder nach vorne. Vor ihm war ein Fenster, nur wenige Meter entfernt.. Über den Ast konnte man problemlos auf das Fensterbrett gelangen.
Das Problem: Das Ganze war ein ziemlicher Balanceakt, denn man konnte sich nirgendwo wirklich festhalten.
Und dann tat Raidou das, was er nicht hätte tun dürfen: Er sah nach unten.
Das war sie: die harte, schwarze Erde. Das Gras war weich, das was drunter lag leider nicht.
Wenn er aufschlug würde das weitreichende Konsequenzen haben: Er brach sich sämtliche Knochen.
Wenn er Glück hatte, die Arme und Beine.
Wenn er Pech hatte, das Genick.
Er schluckte. Warum wurden seine Knie plötzlich so weich?
Seine Beine zitterten ein wenig. Das hier war so ein miserabler Job!
Nur wenige Schritte trennten ihn vom sicheren Fenstersims. Nur deshalb war er so umsichtig durch Konoha geschlichen.
Nur deshalb hatte er sich auf den langen, beschwerlichen Weg gemacht.
Nun war er fast am Ziel. Wollte er da tatsächlich aufgeben?
Niemals!
Der Siebenjährige atmete tief und hörbar ein und schloss die Augen. Entschlossen ballte er die Hände zu Fäusten. Seine Augen nahmen ihren ernsten und konzentrierten Ausdruck wieder an und visierten ihr Ziel an.
Ruhig setzte er einen Fuß vor den anderen. Dann, als es keine Möglichkeit mehr gab, sich mit den Händen abzusichern, kniete er sich hin und krabbelte den Ast entlang. Immer wackeliger wurde die Angelegenheit, sodass er sich schließlich eng an die Rinde des Baumes schmiegte und sich vorsichtig nach vorn zog.
Das Fenster schien einfach nicht näherkommen zu wollen. Erst nach einer gefühlten halben Ewigkeit berührten seine Fingerspitzen das Fensterbrett. Erleichtert atmete er auf.
Behutsam schwang er seinen Fuß nach vorne und setzte ihn auf den Fenstersims. Besonders elegant sah das zwar nicht aus, doch er trat ja schließlich auch nicht bei einem Turnwettbewerb an und hoffte auf gute Haltungsnoten.
Nun fühlte er sich sicherer. Etwas mutiger zog seinen Körper nach.
Und wieder legte ihm die Natur ein Hinderniss in den Weg. Natürlich war auf das Fensterbrett mit Kondenswasser benetzt. Mit einem leisen, kaum hörbaren Aufschrei rutschte sein Fuß vom Brett und sein Körper fiel nach vorne.
Gerade noch rechtzeitig konnte er sich mit beiden Händen oben festklammern. Doch da hing er nun: seine kalten Arme waren vom Klettern müde und sein Gesicht wieder verschwitzt und glühend. Er wimmerte. Wie sollte das noch gut ausgehen?
Er baumelte hier ein paar Meter über dem Erdboden und seine Hände drohten immer weiter abzurutschen. Verzweifelt versuchte er, sich hochzuziehen, doch es mochte ihm einfach nicht gelingen. Er konnte nicht nach Hilfe rufen. Das hier würde er alleine schaffen, egal was kam!
Mit diesem Gedanken sammelte er noch einmal seine gesamte Kraft in den Armen und endlich konnte er sich nach oben hiefen.
Keuchend lehnte er sich nach vorne und sein Körper zitterte vor Erleichterung.
Mann, das war echt knapp gewesen!
Er atmete schnell vor Aufregung, wobei die Fensterscheibe vor ihm beschlug. Bis hierher war er gekommen. Das Schwerste war geschafft.
Nun musste er nur noch ins Zimmer hinter dem Fenster kommen. Und er hatte einen ganz speziellen und unfehlbaren Plan ausgearbeitet. Selbstsicher zog er eine Plastikkarte aus seiner Hosentasche. Kurz war ihm schlecht vor Panik geworden, weil er die Karte zuerst nicht gefunden hatte. Wäre ja auch ein ziemlicher Reinfall gewesen, wenn er die verloren hätte, während er todesmutig am Fensterbrett gebaumelt hatte. Doch die Visitenkarte, auf deren Rückseite sich ein Kalender von vor zwei Jahren befand, war da gewesen. Sie war nicht unauffällig aus seiner Tasche geglitten.
Es gab doch noch Dinge, die heute nicht schief gingen!
Und nun konzentrierte er sich wieder auf das Fenster. Vorsichtig setzte er die Karte an den Spalt zwischen Fenster und Rahmen und grinste innerlich.
Er liebte Taschenspielertricks! Er kannte eine Menge und darauf war er sehr, sehr stolz!
Sacht schob er die Karte in die Lücke und ruckelte ein wenig damit. Er hoffte auf ein Geräusch und wartete und wartete und wartete...
Und da...
Klick!
Ja, es war endlich gelungen. Das Fenster war offen. Ein stummer Jubelschrei und der Junge gratulierte sich von Neuem zu seiner Genialität.
Das Fenster schwang auf und er sprang in den Raum, zu dem er sich soeben Zugang verschafft hatte.
Ohne sich groß umzuschauen schloss er sofort das Fenster. Dann sank er auf den Boden und betrachtete erst jetzt den Raum näher. Groß war dieses Zimmer nicht. Über dem Fenster hing zwar eine Gardinenstange, es gab hier sogar Gardinen, doch zugezogen waren diese nicht.
So konnte das Mondlicht ungehindert ins Zimmer fallen. Rechts neben Raidou stand ein Schreibtisch, der sehr unordentlich aussah. Überall lagen diverse Blätter und aufgeschlagene Bücher. An der Pinnwand über dem Schreibtisch hingen mehrere bunte Zettel, von denen keiner genauer zu erkennen war.
Vieles davon schienen bloße Erinnerungsstücke zu sein.
Fotos, Eintrittskarten, Prospekte.
Zwischen diesen Dingen waren vereinzelt Notizen angebracht. Das konnte Raidou nicht sehen, doch er wusste, dass es so war.
In der Ecke stand ein Papierkorb, dem, nach Raidous Empfinden, eine Entleerung gut getan hätte. Glücklicherweise befand sich dort vorrangig Papier. Essensabfälle, wie zum Beispiel Bananenschalen, hätten bei dieser täglichen Hitze einen eher unschönen Geruch im Zimmer verbreitet. An der anderen Wand stand ein Kleiderschrank, der einen bedrohlichen Schatten ins Zimmer warf. Oben auf dem Schrank waren verschiedene Dinge gelagert. Unter Anderem eine Kiste, dessen Inhalt Raidou nicht kannte; ein Rucksack und eine Isomatte.
Daneben befand sich die Tür und in der Ecke ein Stuhl, auf dem zusammen geknautschte Kleidungsstücke lagen. Der Besitzer des Zimmers schien sich nicht viel aus gebügelten, ordentlichen Anziehsachen zu machen.
Raidous Blick wanderte weiter und schließlich viel sein Blick auf ein Bett. Eine Person lag zusammengerollt darin und die Brust dieser Person hob und senkte sich. Raidou grinste breit. Er wusste, dass es sein bester Freund Genma war, der da im Bett lag und seelenruhig schlief.
Viel erkennen konnte man von ihm nicht. Man sah nur ein paar seiner braunen Haare, die kreuz und quer vom Kopf abstanden und auf dem Kissen lagen. Ansonsten war Genma komplett in seine Bettdecke eingewickelt und Raidou bezweifelte, dass es ihm möglich war, sich im Schlaf zu bewegen.
Wie auf Samtpfoten schlich Raidou auf das Bett zu. Eigentlich hatte Genma gesagt, er würde um diese Zeit noch wach sein. Doch wie sich ja nun herausgestellt hatte, war er dafür wohl nicht ausdauernd genug.

Raidou hingegen war hellwach. Dafür hatte er allerdings auch ziemlich gelitten. Um länger wach zu bleiben, hatte er eine Tasse Kaffee in sein Zimmer geschmuggelt und ekelte sich so durch den Abend. Still schwor er sich, niemals in seinem Leben mehr Kaffee zu trinken und er verstand nicht, was Erwachsene an diesem Gesöff fanden. Diese braune Brühe schmeckte bitter und fraß sich so in die Schleimhäute ein, dass man unverwechselbaren, widerlichen Mundgeruch bekam. Einfach abscheulich!

Eine Sekunde lang überlegte er, wie er Genma wecken sollte. Er hätte ihm das Wasserglas auf seinem Nachttisch überkippen können, aber so grausam war er nun auch wieder nicht. Er startete seinen ersten Versuch, indem er versuchte, Genma wachzurütteln. Besonders gut funktionieren tat das nicht, also nahm er kurzerhand einen Zipfel der Bettdecke und zog kräftig daran. Die Decke rollte sich auf und mit einem lauten Poltern stürzte Genma über die Kante seines Bettes zu Boden.
So laut hatte Raidou die Aktion eigentlich nicht geplant und deshalb hoffte er inständig, dass Genmas Eltern einen sehr festen Schlaf hatten.
Achtlos ließ er die Decke, die er nun in der Hand hielt, zu Boden gleiten und stützte sich auf seine Knie, um zu beobachten, wie Genma anfing sich zu regen.
Grummelnd setzte dieser sich auf und blinzelte ein paar Mal. Raidou musste sich ein lautes Auflachen verkneifen. Das sonst so ordentliche Haar seines Freundes stand in alle möglichen Richtungen ab. Wieder einer dieser Momente, in denen man sich einfach nur einen Fotoapparat wünscht.
Genmas braune Augen visierten Raidou an und sein Blick verfinsterte sich.
“Danke, so wollte ich schon immer mal geweckt werden!”, meinte er sarkastisch. Seine Stimme krächzte merkwürdig.
Raidou grinste. “Wolltest du nicht wach sein, wenn ich komme?”
Man konnte Genma ansehen, dass er verzweifelt nach einer möglichst schlagfertigen Antwort suchte. Raidou meinte, die kleinen Rädchen hinter Genmas Stirn rattern zu hören. Doch diesem schien keine wirklich gute Reaktion einzufallen, also versuchte es mit einer ziemlich dummen Ausrede für seinen ungewollten Ausflug ins Land der Träume. “Ja, wollte ich ja auch. Wir waren um Mitternacht verabredet, aber du bist nicht gekommen! Also bin ich eben...” Er brach ab.
Raidou verdreht die Augen. “Sicher. Das erklärt alles!”, sagte er nur und half seinem Freund auf.
“Ja, das tut es!”, bestätigte Genma völlig überflüssigerweise. Er stolperte durch sein Zimmer, riss den Pullover, der zerknittert auf dem Stuhl in der Ecke lag, an sich und zog ihn sich über. Neidvoll betrachtete Raidou den Pullover, der so aussah, als würde er ganz sicher warm halten. Doch er sagte nichts. Er setzte sich nur auf das Fensterbrett und beobachtete Genma dabei, wie er sich anzog.
Abschließend nahm Genma den Rucksack von seinem Schrank. Am Tag vorher hatten sie alles eingepackt, was sie brauchten. So ersparten sie sich viel Stress.
Sie warfen sich
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