Narben
noch einen letzten Blick zu, dann öffnete Raidou wieder das Fenster. Die kühle Nachtluft strich ihnen sanft entgegen. Es tat wirklich gut. Keiner der beiden hatte bemerkt, wie stickig und warm es in Genmas Zimmer war. Raidou war der Erste, der die Sicherheit des Raumes verließ und sich wieder todesmutig zum Ast hangelte. Dabei stellte er sich besonders clever an. Zuerst wischte er mit dem Saum seinem T-shirts das Fensterbrett trocken und brachte sich schließlich in die selbe Position, in die er vorhin eher unfreiwillig geraten war. Nur diesmal nicht mit dem Gesicht sondern mit dem Rücken zur Wand. Dann streckte er die Beine aus und es gelang ihm tatsächlich, sie um einen der Äste zu schlingen. Vorsichtig ließ er das Fensterbrett los und nun baumelte er kopfüber am Ast.
“Kotz nicht!”, sagte Genma, der keinerlei Bewunderung für Raidous akrobatische Einlage zu haben schien, vom Fenster aus.
Sicher fassten Raidous Hände den dicken Ast und nun schob er sich langsam in Richtung Stamm. Schließlich erklomm Raidou die andere Seite des Astes und ließ sich darauf nieder um zuzusehen, wie Genma das Problem löste.
Dieser stellte sich lässig aufs Fensterbrett und ließ das Fenster zufallen. Mit einem einzigen, geschickten Sprung schaffte es Genma auf den sicheren, unwackeligen Teil des Astes zu kommen, ohne auch nur kurz zu schwanken.
Raidou starrte ihn erstaunt an und Genma zuckte eine Spur arrogant die Schultern. “Ich hab eben geübt!”
Der Weg nach unten gestaltete sich als sehr einfach. Beiden bereitete das Klettern kaum Probleme und so standen die zwei Jungen mehr oder weniger erschöpft wenige Minuten später am Fuße des Baumes.
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, stürzten Raidou und Genma wie auf Kommando los. So schnell sie ihre kleinen Füße trugen, sprinteten sie mit erstaunlicher Geschwindigkeit die Wiesen entlang. Der Inhalt von Genmas Rucksack gab ein merkwürdiges, gedämpftes Poltern von sich. Erst nach einiger Zeit kamen sie rutschend zum Stehen und versuchten sich zu orientieren.
Konoha war groß und bei Nacht konnte es schon einmal vorkommen, dass man einfach die Orientierung verlor. Doch beide wussten ganz genau, dass sie in die richtige Richtung gepest waren.
Doch vorerst begaben sie sich in den Schutz von Hausschatten. Die vier Füße kamen nur langsam voran, aber von ihrem Ziel waren sie ohnehin nicht mehr weit entfernt. Sie sprachen nicht mit einander. Das was sie nun vorhatten, war einer ihrer geheimsten Sachen.
Absolut top-secret. Männersache eben!
Bald mussten sie wieder für alle sichtbar ans Licht treten. Das machte aber nichts. Denn diese Gegend war nahezu unbewohnt. Das machte das hier zu einem perfekten Ort für ihr Vorhaben.
Obwohl hier wohl keine wache Menschenseele genau in diesem Moment aus dem Fenster sehen würde, waren die Jungen besonders umsichtig, was Geräusche und Bewegungen anging.
Wenn sie jemand hier erwischte, hatten beide ein Problem. Wie sollte man Erwachsenen erklären, dass man sich nachts unabgemeldet aus dem Haus stahl noch dazu mit einer so gefährlichen und wertvollen Fracht?
Das würde niemand von den Eltern verstehen. Niemand würde verstehen, wie unendlich wichtig der Abend sowohl für Genma als auch für Raidou war. Heute Abend würden sie etwas absolut Cooles tun und da würde ihnen niemand dazwischen funken!
Ihr Ziel war erreicht. Vor den Jungs lag ein großer Bretterstall. Die Türen existierten nicht mehr, das Holz sah merkwürdig unrobust, wenn nicht sogar labil aus und generell machte sie Scheune den Eindruck, als könne sie jeden Moment zusammenstürzen.
Natürlich waren beide Jungen viel zu naiv, um dies zu erkennen. Und selbstverständlich konnten sie sich nicht der mystischen Aura des zweistöckigen Stalls entziehen.
Drinnen war es dunkel und ein Geruch nach Stroh hing in der Luft. Die vier Kinderfüße tapsten über das stachelige Stroh, welches ein leichtes Rascheln von sich gab.
Sie bewegten sich ganz nahe beieinander, um sich nicht zu verlieren.
“Hier irgendwo muss es sein!”, durchbrach Genma als erstes die Stille.
“Hmh.”, machte Raidou nur und an seinem Tonfall hörte Genma, dass sich der Junge stark konzentrierte. Wahrscheinlich schien er sich erinnern zu wollen, wo ihr Platz war.
“Bist du sicher, dass es diese Seite - AU!”, schrie Genma plötzlich auf, als er mit dem großen Zeh gegen etwas Hartes stieß. Raidou kniete sich neben ihm hin. Das Stroh knisterte, als er sich setzte.
Dann konnte man ein dumpfes Klatschen hören. Raidous Hand schlug auf Holz.
“Jap. Hier ist es.” Eine Spur Vorfreude aber auch Ehrfurcht lag in seiner Stimme. Er konnte hören, wie Genma den Rucksack von seinem Rücken gleiten ließ. Seinen Freund selbst konnte allerdings nur silhouettenhaft erkennen. Dann ertönte ein Klicken, als die Schnallen der Tasche geöffnet wurden und anschließend ein rauschendes Geräusch. Ein schmaler Karton wurde herausgezogen.
Sorgfältig öffnete Genma das Päckchen, während Raidou etwas von dem Stroh beiseite wischte, damit sie eine ebene Fläche hatten.
“Hast du sie?” Raidous Stimme klang zum Zerreißen gespannt.
“Ja. Einen Moment!”, flüsterte Genma.
Raidou wurde etwas Kaltes in die Hand gedrückt. Der Körper dieses Gegenstandes fühlte sich glatt an und glänzte im spärlichen Licht.
Der Junge rammte dieses Etwas in den Boden. Es ertönte ein Klackern und dann ein Zischen.
Beide stöhnten leise, als ein Licht aufflackerte. Genma hatte ein Streichholz entzündet und der Gegenstand, den Raidou in den Boden gestoßen hatte, stellte sich als Kerze heraus.
Während Genma den Docht entzündete, murmelte Raidou voller Vorfreude und auch mit ein wenig Stolz in der Stimme: “Mit Messer, Gabel, Schere, Licht; spielen kleine Kinder nicht! Wir sind so böse.”
Der andere Junge schnaubte zur Antwort. Seine Augen schimmerten im Kerzenlicht. Die Augenbrauen waren in seiner Konzentration nach unten gebogen, so als wäre das Anzünden einer simplen Kerze ein aufwendiger Gedankenakt. Dann brannte der Docht und Genma pustete sorgfältig das Streichholz aus.
“Wo ist das Taschentuch?”
“Ääähm...” Genma drehte sich wieder zu der Kiste und nahm die anderen beiden Gegenstände heraus, die noch darin lagen. Ein Taschentuch und ein Messer.
Sein Atem beschleunigte sich.
“OK. Lass es uns jetzt tun! Gib mir das Messer!”, forderte Raidou seinen jüngeren Freund auf. Genma reichte ihm den Gegenstand. Es war ein Taschenmesser und es gehörte ihm. Ihm allein. Sein Großvater hatte es ihm geschenkt und es war sehr wertvoll und kunstvoll bearbeitet worden. Es hatte für ihn persönlich so viel Wert, dass er sich bis jetzt noch nicht getraut hatte, es zu gebrauchen. Aber für diesen Anlass war es gerade kostbar genug. Das lackierte, dunkle Holz schimmerte im Kerzenschein. Raidou klappte die Messerklinge aus. Sie war so blank poliert, dass sie die Kerzenflamme spiegelte.
“Fertig?”, fragte Genma und sah seinen Freund entschlossen an.
“Fertig”, bestätigte Raidou leise und setze konzentriert die Klinge an den Handteller an. Als er etwas zudrückte, durchbohrte ein stechender Schmerz seine Hand. Mit ruhigen Fingern führte er den Schnitt gewissenhaft fort. Blut floss aus der selbstzugefügten Wunde und rann seinen Arm herunter. Tränen bildeten sich in Raidous Augen. Es tat doch etwas mehr weh, als er gedacht hatte. Aber er wehklagte nicht. Kein Wort des Schmerzes würde über seine Lippen kommen. Nicht jetzt, so kurz vorm Ziel.
Er reichte Genma das Messer. Dieser jedoch zögerte, als er den beträchtliche Menge an Blut sah, die das auf Raidous Hose tropfte.
“Mach schon!”, drängte Raidou, der nun versuchte, das Blut aufzuhalten, welches seinen Unterarm herunterlief und von seinem Ellbogen rann.
Benommen nahm Genma das Messer und hielt es über seine Hand. Er fuhr damit über seine Haut, aber er traute sich einfach nicht zuzudrücken. Er war so nervös und Angst hatte er jetzt auch. Raidou war älter als er. Wahrscheinlich war er in solchen Sachen härter. Aber Genma schaffte es einfach nicht.
Raidou saß auf glühenden Kohlen. Er wartete geduldig, aber verbluten wollte er auch nicht. Genervt schnalzte er mit der Zunge. Genma zuckte zusammen und schließlich schloss er die Augen. Dann drückte er das Messer in sein Fleisch und zog es mit einer ruckartigen Bewegung durch. Er wimmerte leise vor Schmerz. Es kam ihm vor, als hätte man ihm soeben die Haut abgezogen. Zumindest glaubte er, dass es sich genauso anfühlen würde.
Er ließ das Messer fallen und zitternd reichte er Raidou die Hand. Er mochte nicht hinsehen, wie sein eigenes Blut auf den Boden tropfte.
Dieser umschloss sie mit der seinen. Keiner der beiden mochte etwas sagen. Es war ein stummes Ritual. Als sich ihre Hände berührten und die Wunden aneinander gedrückt wurden, verdoppelte sich der Schmerz noch.
Beide bissen sich auf die Lippen. So schmerzhaft hatten sie die ganze Sache gar nicht eingeschätzt!
Das Blut der beiden Jungen mischte sich. Jeder Pulsschlag förderte neues Blut zutage. Nach einer sehr schmerzvollen Ewigkeit ließen sie sich los.
“Auf ewige Freundschaft.”, sagte Raidou. Ein abgedroschener Spruch, das war ihm klar. Doch etwas anderes war ihm auf die Schnelle nicht eingefallen.
Raidou zitterte, so sehr musste er den Schmerzensschrei unterdrücken.
“Ja”, bestätigte Genma leise und reichte seinem Freund das Taschentuch, welches dieser dankbar annahm.
Die Blutsbruderschaft war vollzogen.
Dann geschah eine Weile nichts. Und ganz plötzlich ertönte in der Scheune ein ganz anderes Geräusch. Wie von der Tarantel gestochen sprangen beide auf. Panik machte sich breit.
Aus der Dunkelheit kam ein knurrendes Geräusch. Ein Paar leuchtend gelbe Augen funkelte sie böse an. Beide Jungen winselten. So mutig es von ihnen auch war, mitten in der Nacht von Zuhause fortzuschleichen, jetzt hatten sie wirklich Angst.
Darauf waren sie nicht gefasst gewesen. Sie wichen an