Narben

die Wand hinter ihnen zurück. Beide zitterten. Diesmal allerdings vor Furcht. Das Wesen tauchte aus der Dunkelheit auf.
Es war ein Puma.
Die Augen bösartig zu Schlitzen verengt, schlich er auf sie zu. Seine Pfoten drückten auf das Stroh, welches kaum Laute von sich gab.
Doch dann, wie aus dem Nichts, lief der Puma auf sie zu. Stroh flog durch die Luft.
Und nun geschah die Katastrophe: Das Stroh segelte geradewegs in die Kerzenflamme. Es entzündete sich sofort und glitt über die Flamme hinweg.
Die glühenden Strohhalme berührten den Boden und auch das Stroh, was dort lag, fing an zu brennen. Der Super-GAU war eingetreten. Mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit breiteten sich die Flammen aus. Mit nur einem Lidschlag hatte sich die Brandfläche verdoppelt.
Genma und Raidou waren wie erstarrt. Auch der Puma schien zu begreifen. Er bremste vor ihnen ab und machte kehrt. Geschickt sprang er über die Flammen hinweg. Die Hitze strahlte den beiden Jungen entgegen.
Der Puma war weg, doch die Ausgänge waren nun beide versperrt. Ängstlich zogen sie sich in eine Ecke zurück. Sie wimmerten und zitterten. In dieser Ecke lag zum Glück kein Stroh, doch es war nur eine Frage der Zeit, bis die Balken anfangen würden zu brennen.
Die Scheune war sehr gebrechlich und einem Feuer hielt sie ganz sicher nicht stand. Nun erwies sich die dünnbesiedelte Umgebung als eindeutiger Nachteil. Niemand würde sie hören, niemand würde kommen um ihnen zu helfen.
Ganz allmählich arbeitete sich das Feuer vor. Und schließlich begann es, sich die morschen, von Wind und Witterung grau verfärbten Balken hoch zu fressen. Ab und zu nur ertönte ein Knacken des Feuers und Funken stoben durch die Luft, als das Feuer die verbrannten Strohteile ausspuckte, wodurch das Feuer nur noch schneller verbreitet wurde. Seitdem die Kerze umgefallen war, war vielleicht eine Minuten vergangen, doch die gesamte, mit Stroh bedeckte Fläche brannte bereits lichterloh. Genma und Raidou wichen immer weiter nach hinten zurück. Sie hatten keine Ahnung was sie jetzt tun sollten. Das Feuer verstrahlte eine so unglaubliche Hitze, dass der Schweiß unaufhörlich an ihren Körpern herunterlief. Nun waren sie gefangen. Es gab kein Entkommen. Zu hoch hatten sie die Flammen aufgebäumt, sodass sie undurchdringlich und unüberwindbar auf die Jungen zu züngelten, die in ihrer Ecke noch recht sicher waren. Beide zuckten sie zusammen, als sie mit den Rücken an die Bretterrückwand stießen. Weiter ging es hier nicht!
Die Beine der zwei Jungen zitterten. Ihre Körper waren durch die Flammen orange erleuchtet und pures, blankes Entsetzen stand auf ihren Gesichtern geschrieben. Die weit aufgerissenen Augen brannten unter der Hitze, die Flammen spiegelten sich darin. Hilflos und vor Angst bebend rutschte Genma an der Wand herunter und fiel auf die Knie. Der Sechsjährige fühlte sich überfordert. Er konnte nicht denken und wieder einmal wurde ihm bewusst, wie hilflos er als Kind doch war. Nichts konnte er tun. Gar nichts.
Er wünschte sich so sehr, jetzt noch in seinem Bett liegen zu können und von irgendetwas Gutem zu träumen. In diesem Moment wurde ihm klar, dass das hier nur ein Albtraum sein konnte. Genau, so war es! Sicher würde er gleich aufwachen und nur schweißüberströmt feststellen, dass es viel zu heiß in seinem Zimmer war.
Doch wieso war das Feuer so heiß? Für einen Traum war das alles so real, die Eindrücke so intensiv. Die Angst so... wirklich.
Er sah auf zu seinem besten Freund, der ähnlich zu denken schien wie er. Dann folgte sein Blick dem Balken wenige Meter neben ihnen. Das Feuer hatte den Dachstuhl der Scheune fast erreicht. Es war so heiß hier! Die brütendwarmen Augusttage waren gegen das hier nichts.
Außerdem nahm ihnen das Feuer den kostbaren Sauerstoff und die Luft wurde drückender und drückender.
Und dann, nach wenigen Sekunden ertönte ein ohrenbetäubendes Scheppern.
Die Jungen wimmerten und Genma zwang sich wieder auf die Füße. Von oben war einer der Dachbalken herausgebrochen und baumelte jetzt nur noch an wenigen Fasern an der Aufhängung. Sekunden später waren diese vernichtet und der Balken krachte zu Boden. Funken stöben empor. Langsam begann die Scheune einzustürzen.
Mit einem weiteren quietschenden Geräusch löste sich ein Stück der Decke und schlug nur wenige Zentimeter vor Raidou auf dem Boden auf. Dieser drückte sich nur noch stärker an die Wand.
Wo waren sie da nur reingeraten?
Es war so zum Verzweifeln. Er fühlte sich, als würde er am lebendigen Leib verbrennen.

Plötzlich knarrte etwas hinter ihm. Es war eines der morschen Schuppenbretter, stellte er fest, als er sich kurz umdrehte. Es sah morsch aus, so wie alles hier. Und da kam ihm die Idee. Er packte Genmas Arm um ihn so auf sich aufmerksam zu machen. Schließlich trat er gegen die Latte hinter ihm und an Genmas Gesichtsausdruck konnte er sehen, dass er verstanden hatte.
Nun versuchten beide gemeinsam das untere Teil des Brettes heraus zu stoßen. Es wackelte und bewegte sich, doch endgültig nachgeben wollte es nicht. Trotzdem brachten die beiden Kinder in ihrer Panik eine erstaunliche Kraft auf. Ihr Handeln hatten sie nun ganz ihren Instinkten überlassen.
Und tatsächlich splitterte das Brett schließlich und gab ein Loch frei, durch das die beiden mühelos hätten klettern können. Raidou hatte so heftig gegen das Brett getreten, dass er zurück stolperte. Doch sie hatten es geschafft. Sie würden hieraus kommen.
Triumphierend sahen sich die beiden Jungen an.
Ihr Weg in die Freiheit war erschienen.
In ihrer Hast, die Wandlatte zu zerstören, hatten sie eines jedoch nicht bemerkt: Das Feuer hatte das Dach in Brand gesetzt und so regnete es nun unaufhörlich verkohltes Reet vom Dach. Der Dachstuhl war bereits so labil, dass sich ein weiterer, brennender Balken aus seiner Halterung löste. Die Flammen auf dem Balken rauschten, als er auf den Boden zu raste. Keiner der beiden Jungen bewegte sich auch nur einen Zentimeter, als das Holz mit dem einen Ende auf der Erde aufschlug und dann gänzlich zu Boden stürzte. Raidou spürte in diesem Moment nicht viel. Es war nur ein kurzer Schlag, doch Schmerz spürte er nicht mehr. Augenblicklich wurde ihm schwarz vor Augen, das letzte, was er überhaupt wahrnahm, war der Geruch von verbranntem Haar.

Genma hatte genau neben seinem Freund gestanden, doch das einzige, was er abbekam, war die gesplitterte Kante des Balkens, der ihm eine lange, tiefe Wunde in das Schienbein riss. Japsend sprang er zurück. Entsetzt starrte er Raidou an, der anscheinend bewusstlos unter der Strebe lag. Dann drehte er den Kopf für einen Moment zum einzigen, erreichbaren Ausgang.
Er hatte die Möglichkeit zu fliehen.
Mit mehr oder weniger heiler Haut würde er davonkommen. Aber sollte er seinen allerbesten Freund für sein eigenes Leben zurücklassen?
Die Angst lähmte ihn. Er traute sich einfach nicht, sich einen Zentimeter auf das brennende Holz zuzubewegen. Die Hemmschwelle war so groß. Nochmals fiel sein Blick auf Raidou, dessen Gesicht das noch schwelende Holz berührte. Erst jetzt bemerkte Genma, dass sich ein schmales Blutrinnsal seinen Weg durch Raidous Gesicht bahnte.
Raidou konnte nicht fliehen. Er würde hier allein sicher sterben.
Vom Anblick seines hilflosen Freundes gestärkt, trat er schnell neben den Balken und packte Raidous Handgelenke. Ungeschickt zog er daran und es gelang ihm tatsächlich den Oberkörper seines Freundes freizubekommen, auch wenn er dabei mehrere Male abrutschte, da seine Hände schweißverklebt waren.
Als nächstes schloss er seine Arme um Raidous Rumpf und lehnte sich nach hinten um sein Bein zu befreien. Der Sand unter ihm knirschte und er rutschte leicht weg. Außerdem spürte er, wie ihm die Schweißperlen übers Gesicht liefen. Es schien so, als würde sich das Bein nur in Zeitlupe bewegen.
Und dann passierte das, womit er in all seiner Verzweiflung nicht gerechnet hatte.
Raidous Schienbein gab nach und man hörte - trotz des Knistern des Feuers - ein hohles Knacken. Genma zuckte von bei diesem Klang zusammen. Sicher war das Bein jetzt gebrochen. Und er war schuld daran.
Doch der Vorteil dieses unfreiwilligen Opfers zeigte sich sofort. Überrascht stolperte Genma nach hinten und schlug dabei mit dem Kopf gegen die Bretterrückwand.
Er hatte es geschafft. Das Bein lag nun auch frei.

Schnell rappelte Genma sich auf. Den Schmerz des Schnittwunde in seinem Bein spürte er gar nicht mehr. Es war einer dieser Situationen, indem sich ein Reflex einschaltete, den der Mensch sich aus Urzeiten erhalten hat. Wenn man Todesangst hat, kommen die tierischen Instinkte wieder zum Vorschein und übernehmen das Handeln. Ein nützlicher Effekt: Der Schmerz verschwindet und so wird die Flucht erleichtert. So lange er seine Wunden nicht betrachtete, würde er absolut kein Stechen in der Wade fühlen.
Panisch stolperte er nach hinten und packte Raidou am Kragen, welcher sich am einfachsten greifen ließ. Mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, zog er ihn nach hinten. Schließlich spürte er die Kanten der Wandlatten in seinen Rücken drücken. Erleichtert quetschte er sich seitlich hindurch. Zum ersten Mal an diesem Tag war er froh, ein Kind zu sein.
Er hätte nur zwei bis drei Jahre älter sein müssen, und es wäre ihm unmöglich gewesen, das Loch zu passieren.
Endlich befand er sich außerhalb der Scheune. Die kühle Nachtluft strich ihm über die verschwitzte Stirn. Entkommen! Er war sprichwörtlich einfach dem Tod von der Schippe gesprungen, indem er sich ein “Hintertürchen” geöffnet hatte.
Doch er war noch nicht fertig! Schnell hechtete er wieder zu dem Loch und griff nach Raidous Schultern, um ihn ebenfalls durch das Loch zu ziehen.
Seine Finger krallten sich im Stoff von Raidous dreckigen und teilweise verkohlten T-shirt fest. Es entpuppte sich als äußerst schwierig, seinen Freund durch die Lücke in der Wand zu ziehen.
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