Narben

Besonders weil sich Raidous Körper immer wieder drehte und hin- und herkippte, so dass es ihm erst gelang, ihn nach draußen zu ziehen, als einige am Boden liegende Splitter sich in Raidous Haut gegraben hatten.
Es ließ sich nicht vermeiden, schonender ging es nun mal nicht.

Immer noch nicht in der Lage zu denken, sprintete Genma, der seine Beinverletzung bis jetzt nicht spürte, über eine Rasenfläche, die den Schuppen umsäumte. Nach wenigen Metern brach er erschöpft zusammen.
Raidou lag neben ihm.
Bewusstlos.
Zum ersten Mal, seit dem sich der Balken von der Decke gelöst hatte, betrachtete Genma Raidou näher. Er sah furchtbar aus, anders konnte man es nicht sagen.
Der schwelende Stützbalken hatte die eine Hälfte seines Gesichts verbrannt. Von den oberen Hautschichten war nichts mehr zu sehen. Statt dessen war nun eine teilweise milchigweiße Hautschicht sichtbar. Die Ränder der Wunde waren schwarz wie Kohle und von ihnen ging ein widerlicher, beißender Geruch aus, der auch ein wenig an etwas Verwesendes erinnerte. Die Wunde zog sich über seinen Hals nach unten. Stellen des T-Shirts waren durchgeschwelt und die darunter liegende Haut war sichtbar. Auch hier konnte man Verbrennungen sehen, auch wenn diese nichts so gravierend waren wie die im Gesicht.
An einer Seite der Stirn befand sich eine Platzwunde, die dafür, dass sie nur recht klein war, wahnsinnig stark blutete. Der selbstzugefügte Schnitt an der Hand, der viel größer war, sonderte längst nicht so viel Blut ab.
Dadurch, dass Genma Raidou vorher über den Boden geschleift hatte, war die gesamte Kleidung bedeckt mir Sand und Grasflecken. Dort, wo sich Holzsplitter in Raidous Haut gebohrt hatten, waren Risse und Löcher zu sehen. Die Splitter schienen jedoch nicht tief in der Haut zu stecken.
Trotzdem war der Anblick seines Freundes so schockierend, dass Genma Tränen übers Gesicht liefen, die sich mit seinem Schweiß vermischten.
Verzweifelt sah er sich um. Die kühle Nachtluft strich im entgegen, als wolle sie ihn beruhigen. Hier war niemand. Keine Menschenseele!

Ein lauter Knall ließ ihn zusammenzucken. Ein weiterer Teil des Daches war eingestürzt. Und beim Blick auf die lichterloh brennende Scheune wurde es Genma zum ersten Mal wirklich bewusst.
Sie waren frei. Sie hatten es tatsächlich geschafft zu entkommen.
Und auf einmal, mit einem unkontrollierten Zittern, lösten sich Genmas Muskeln aus ihrer Anspannung. Jeder einzelne Muskel schien ihm weh zu tun. Hatte er sich so verkrampft?
Langsam kehrten die Lebensgeister in ihn zurück, der Fluchtreflex verschwand und er nahm den stechenden Schmerz in seinem Bein wahr. Sein Muskeln zitterten. Er konnte nicht aufstehen, so erschöpft war er. Dabei musste er doch Hilfe holen!
Wimmernd versuchte er immer und immer wieder sich aufzurichten, doch es gelang ihm einfach nicht. Wieso nicht? Wo war seine Kraft? So viel davon hätte er doch nicht in diesen paar Minuten verbrauchen können, oder?
Immer wieder begann er heftig zu wanken, als er es halbwegs geschafft hatte, sich aufzurichten. Und so musste er sich immer wieder fallen lassen.
Irgendwann gab er es auf. Flach lag er im feuchten Gras und wie verrückt bebend kroch er über den Boden. Ständig hörte man splitternde und knackende Geräusche aus Richtung Scheune. Flammen schlugen aus dem Dach und allmählich brannte auch der Rest der Außenwände.
Es war reine Ironie. Das Wäldchen stand hier so friedlich. Die Sterne funkelten am Himmel wie kleine Brillianten. Das grüne Gras war feucht und hätte sicher viele Pflanzenfresser zur Rast überredet.
Im Gegensatz dazu brannte die sonst so verlassene, baufällige Scheune bis auf das Fundament nieder. Hier hatte sich gerade ein kleines Drama ereignet.
Genma drehte plötzlich leicht den Kopf, als er das Knirschen von Sand vernahm. Jemand näherte sich, da war er sicher. Da er nicht mehr sprechen, geschweige denn aufstehen konnte, hatte er keine Möglichkeit, auf sich aufmerksam zu machen.
Doch er konnte die Person rufen hören. Irgendwoher kannte er die Stimme, aber das konnte er sich natürlich auch einbilden. Es war auf jeden Fall ein Mann, der da rief, aber mehr verstand er nicht. Zu müde waren seine überreizten Sinne.
Und langsam und unmerklich schwebte sein Bewusstsein langsam in einen tranceartigen Zustand über. Er bekam gerade noch mit, wie ihn jemand auf den Rücken drehte. Er sah das Gesicht des Mannes, doch es war ihm unmöglich die einzelnen Nuancen und Abschnitte des Kopfes zusammenhängend zu erfassen.
Allerdings war er sich einer Sache bewusst: Sie waren gerettet.

Genma war es schleierhaft, was in den nächsten Stunden passierte. Die Minuten verstrichen wie Sekunden und um sich herum nahm er nichts mehr war. Der Schock hatte erst langsam nach seiner Flucht aus der Scheune eingesetzt und er bekam die volle Wirkung zu spüren. Er konnte niemandem sagen, wie er hieß, was er in der Scheune getan hatte oder wo er her kam. Nicht denken, nicht sprechen, nichts tun.
Keine Ahnung, wer sie ins Krankenhaus gebracht hatte. Unfähig sich zu bedanken, sah der Junge zu, wie ihr Retter das Krankenhaus verließ, ohne ihn noch einmal anzusehen.
Erst nach und nach begannen seine Sinne wieder ordentlich zu funktionieren. Trotzdem konnte er nichts sagen, als seine Eltern eintrafen. Sie schimpften nicht, schrieen ihn nicht an, ermahnten ihn nicht. Und dafür war er im Nachhinein doch sehr dankbar. Anscheinend hatten sie eingesehen, dass es so kurz nach ihrer Aktion noch keinen Sinn machte, ihm seine Fehler vorzuführen. Das hatte Zeit.
Seine Wunden waren schnell geheilt. Der Schnitt am Bein war am Ende kaum noch zu sehen und so würde er nie auf ewig gebranntmarkt sein.
In seiner Zukunft würde er das noch oft bedauern, denn schließlich waren Narben ein Zeichen für Mut und Tapferkeit und wirkten außerdem sehr anziehend auf Mädchen, denn sie verliehen eine geheimnisvolle Aura.
Viele der Ärzte wollten wissen, woher der gradlinige Schnitt in Genmas Handfläche kam. Denn ganz gewiss stammte dieser nicht von irgendwelchen Holzsplittern.
Doch Genma schwieg. Er weigerte sich nur strikt, als man seine Handfläche heilen wollte.
“Das gibt aber sonst eine Narbe!”, sagte eine der Medic-Nins in einem Ton, als würde sie mit einem Zweijährigen sprechen. Erneut versuchte sie, sich seine Hand anzusehen, doch er drückte diese nur fester an seinen Körper.
Eine Narbe.
Genau das wollte er.
Minuten zuvor hatte er erfahren, dass die Brandwunden in Raidous Gesicht und am seinem Hals immer sichtbar sein würden. Nie würden sie ganz heilen.
So hatte er doch einen minimalen Ausgleich. Vielleicht war es aber auch nur ein Versuch seines Unterbewusstseins gegen das Vergessen.

Noch Jahre später betrachtete Genma still die Narbe auf seiner Hand. Es war nur ein feiner, kaum sichtbarer Strich. Wahrscheinlich hätte man sie übersehen, aber Genma wusste, dass sie existierte und das zählte.
Oft dachte er an jenen Abend zurück, an dem sie die Blutsbruderschaft geschlossen hatten. Wäre es vielleicht anders gelaufen, wenn er nicht auf die dumme und unendlich naive Idee gekommen wäre, eine Kerze an einem Ort anzuzünden, an dem fast nur leicht entzündliches und brennbares Material lag?
Doch zweifellos hatte dieses Ereignis ihre Freundschaft gestärkt. Und dafür nahmen Raidou und Genma gern ihre mehr oder weniger schlimmen Narben in Kauf.
Einmal meinte Raidou, es sei vielleicht ganz gut, dass er derjenige gewesen war, der unter dem Balken gelegen hatte.
“Wie meinst du das?”, hatte Genma misstrauisch gefragt und die Augenbrauen hochgezogen, wie er es immer zu tun pflegte, wenn er von dem pädagogischen Wert der folgenden Antwort nicht wirklich überzeugt war.
“Immerhin bin ich nicht eitel! Schau dich mal an! Stell dir vor, du müsstest mit den Narben im Gesicht rumrennen.”
Ja, diesen Wink mit dem Zaunpfahl hatte Genma verstanden. Doch das war Schwachsinn! Er war doch nicht eitel. Auf keinen Fall. Er legte mehr Wert auf seine Gesamterscheinung wie andere, aber eitel war er nicht.
Na gut, ein bisschen vielleicht, räumte er nachträglich ein.
Trotzdem: für das Grinsen würde er Raidou nochmal büßen lassen, das war sich Genma sicher, doch alles, was er erwiderte war ein Laut ähnlich wie: “Tzz!”


Noch nie habe ich etwas Längeres als das hier geschrieben. War der Anfang doll langweilig? So lang war das gar nicht geplant. Manchmal verrenne ich mich einfach in Beschreibungen von SO unwichtigen Dingen. Ich liebe Details nun mal. *Details knuddel*.
Am Ende wollte ich eigentlich zuerst eine herzzerreißende Freundschaftsszene einbauen, aber das war mir zu blöd.(War nicht in der Stimmung um Kitsch zu schreiben!) So ein nüchterner Schluss gefiel mir besser.
Mir fiel auf, dass die FF von Raidous Sicht in Genmas Sicht übergeht. Stört das? Mir fiel das auch erst ganz zum Schluss auf, aber jetzt änder ́ ich́s net mehr!
Also, über Kommis wäre ich wirklich megaglücklich!
Nuki-chama
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