Verloren und gefunden

"Sehr verzagt und jammervoll muss ich mich benommen haben, als ich in den letzten Tagen hier unter dem Einfluss dieser Schwarzen Träume lag, und wie schwach habt Ihr mich finden müssen, mein Herr. Ich bin sehr beschämt darüber." Und erneut schlug sie die Augen nieder.
Aragorn schüttelte leise den Kopf und rief :"Éowyn, tapfere Éowyn, ich bitte Euch, seht mich an ! Schaut nicht beschämt nach unten ! Wisst Ihr denn nicht, wie stark Ihr seid ? Wahrlich, selten bin ich bisher irgend einem begegnet, gleich ob Mann oder Frau, der so willensstark und tapfer war wie Ihr, und in dem ich solch eine innere Kraft erkannt habe. Jemand, bei dem diese Gaben geringer ausgebildet gewesen wären als bei Euch, wäre diesem furchtbaren Schwarzen Atem längst erlegen. Denn viele Krieger, große, starke Männer, denen dasselbe widerfahren ist wie Euch, sind in hier diesen Häusern bereits unter meinen Händen gestorben, weil sie nicht Eure Kraft in sich hatten. Ich kenne diese Schwarzen Reiter und sie sind entsetzlich ! Doch sind sie mir niemals auf jenen fürchterlichen geflügelten Wesen begegnet und ich bezweifle, dass ich den Mut gefunden hätte, gegen diese anzutreten."
Sie unterbrach ihn mit einem Lachen : "Das wollt Ihr mich nicht ernsthaft glauben machen, Aragorn !"
Doch er erwiderte ernst : "Aber ja ! Und welch großes Glück, dass ich mich an ihnen nicht erproben musste, so wie Ihr. Denn niemand weiß wirklich um die Größe seines Mutes, bis er ihn erweisen muss."
Dann sah er sie mit einem seltsamen Lächeln an und sprach noch sanfter als zuvor : " Warum seid Ihr so streng zu Euch, Éowyn ?"
Ein Schatten zog für einen flüchtigen Moment über ihr Gesicht, als sie sich ihrer Einsamkeit und ohnmächtigen Verzweiflung in den bitteren Zeiten der Behexung des Königs erinnerte, und sie antwortete leise: " Wenn ich wirklich zu streng zu mir bin, wie Ihr es sagt, so dann wohl deswegen, weil ich ohnedem die letzten bitteren Jahre meines Lebens schwerlich hätte durchstehen können. Ohnmächtig zusehen zu müssen, wie Rohan, die geliebte Heimat, zerfällt, herabgesunken wie niemals zuvor in seiner glorreichen Geschichte, weil sein König, den ich liebe wie einen Vater, sich der teuflischen Einflüsse diese Zauberers nicht erwehren konnte und ihnen Tag um Tag mehr verfiel. Zur Untätigkeit gezwungen zu sein, weil mein Volk eine Frau als Stellvertreterin seines Königs niemals anerkannt hätte."
Sie hielt inne und sprach nach einem Augenblick gefasster weiter : "Nun findet Ihr mich schon wieder jammernd und klagend !" Sie lachte leise : " Ihr solltet nicht so sanft zu mir sprechen, mein Herr Aragorn, denn dadurch brechen in mir scheinbar alle Dämme."
Er sah ihr mit ernster, zärtlicher Milde in die Augen : "Dann ist es gut so. Denn zu lange habt Ihr zu stark und zu streng zu Euch selbst sein müssen. Und hieran zerbrechen am Ende auch die Tapfersten."
Éowyn schüttelte sachte und staunend den Kopf und flüsterte : " Wie kommt es, dass Ihr mich beinah besser zu kennen scheint, als ich mich selbst, mein Herr ? Ihr hörtet Dinge von mir, die ich niemals einem anderen Menschen anvertraut hätte, außer vielleicht meinem Bruder, und auch nur in der allerhöchsten Not. Und doch fühle ich mich nicht beschämt sondern seltsam getröstet. " Er nahm mit einem undurchdringlichen Lächeln ihre Hand, küsste sie ehrerbietig und erwiderte nur : "Es ist mir eine Ehre und eine große Freude, dass Ihr mir Euer Vertrauen schenkt, liebliche Éowyn." So fuhr sie kühler fort : " Doch lasst es genug davon sein. Zu lange habe ich Euch bereits von wichtigeren Dingen abgehalten. Éomer hat mir berichtet, dass nun in höchster Eile die Heerschau von Gondor und Rohan stattfinden muss. Sicherlich wartet man bereits auf Euch, Aragorn."
Doch er schüttelte lächelnd den Kopf : " Wenn Ihr erlaubt, Herrin, so möchte ich gern noch einen Augenblick bei Euch verweilen, denn Eure Gesellschaft ist mir so viel lieber als die der teuren Herren dort draußen mit ihren Kriegsgeschäften. Es sei denn, ich würde Euch ermüden. Denn Ihr müsst noch sehr zu Kräften kommen."
Und so blieb er noch eine Stunde, und Éowyn wunderte sich im Stillen, dass es ihn so sehr nach ihrer Gesellschaft verlangte, doch freute es sie sehr. Er musste ihr von den Schlachten berichten, die nach ihrer Verwundung geschlagen worden waren. Und staunend hörte sie die Berichte und erfuhr daraus viel über seinen großen Mut und seine Tapferkeit, ohne dass er jemals ein Wort darüber verlor. Und auch gestand er ihr bedrückt, dass er fürchtete, nicht würdig zu sein, sein großes Erbe anzutreten und am Ende doch noch der Macht und dem Einfluss Saurons zu unterliegen wie sein großer Vorfahr Isildur, wenn der Tag der letzten, entscheidenden Schlacht gekommen sein würde. Denn sie hatten ein großes Vertrauen zueinander gefasst.
Und hierzu sprach sie : "Aber jeder Mensch hat sein eigenes Schicksal, Aragorn. Und Eures muss darum nicht dem seinen gleichen. Ich glaube nicht, dass Ihr den gleichen Fehler begehen werdet wie er, nur weil Ihr vom gleichen Blut seid. Und da wir nun einmal dabei sind, einander zu raten, so muss ich Euch das gleiche sagen, wie Ihr mir : Vertraut auf Eure Kraft. Denn Eure Seele ist sehr stark und scheint mir weniger nach Ruhm und Macht zu dürsten als die irgendeines anderen Mannes, der mir bislang begegnet ist. Und darum wird Sauron keine Macht über Euch haben."
Da musste er lächelnd, und als sie ihn fragend ansah, sprach er : "Ihr ratet mir dasselbe, was ein anderer, der mich sehr gut kennt, mir einst schon geraten hat. Und so will ich darauf vertrauen, dass Euer beider Ratschlag wahr ist." Er hielt einen Augenblick inne und sah sie versonnen an, dann fuhr er fort : "Ich frage mich, wer von uns beiden am Ende wem tiefer in die Seele zu schauen vermag. Euer Blick ist wahrlich scharf, Éowyn. Und ich fürchte, Ihr habt mir mehr Trost und Mut spenden können als ich Euch, obwohl Ihr auf dem Krankenbett liegt und nicht ich. Ich danke Euch sehr !"
Nun lächelte sie undurchdringlich und erwiderte : "Ihr könnt nicht zu ermessen, wie sehr Ihr mich getröstet habt, sonst würdet Ihr dies nicht sagen. Doch wenn auch ich Euch ein wenig Hilfe habe geben können, so freut es mich sehr." Und trotzdem sie so gefasst und artig sprach, zitterte ihr Herz vor Freude über seine letzten Worte.
Da erschien Gandalf, um ihn zu Heerschau zu rufen. Und so stand Aragorn bedauernd auf und verneigte sich zum Abschied leicht vor ihr und sah ihr noch einmal prüfend ins Gesicht und sprach leise und zärtlich zu ihr : " Versprecht mir, dass Ihr jetzt ruhen werdet, Éowyn, denn Ihr seid noch längst nicht genesen, und das Fieber wird sich wieder verschlimmern, wenn Ihr Euch nicht schont."
Gandalf, der dabei stand, sah mit Freude, dass diese beiden einander noch näher gekommen schienen. Und er fragte sich, wann der Freund der schönen Herrin von Rohan gestehen würde, wie es um sein Herz stand. Denn selten waren ihm zwei Menschen begegnet, die mehr für einander geschaffen schienen als diese beiden.
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