Verloren und gefunden
~Chapter two~
II.
Und sieben Tage, nachdem König Theoden zu Grabe getragen worden war, ging Aragorn an einem schönen klaren, kalten Frühlingsabend hinaus vor die Stadtmauern, um sich in der weiten Ebene des Flusses zu ergehen, deren Wiesen schon einen blassen Hauch von Grün zeigten, derweil die Berge mächtig und schneebedeckt den Horizont begrenzten. Und sein Herz war voll Sorge und Mitleid um Éowyn in ihrer Trauer, und seine Gedanken waren voller Sehnsucht bei ihr.
Als ihn sein Weg an den steinernen Totenhäusern der Könige in der Stillen Straße vorbeiführte, vernahm er, weit getragen in der windstillen Luft, schwach den Klang einer Harfe. Angezogen durch die fremdartige Weise, die der unsichtbare Spieler anstimmte, zugleich trauervoll-getragen und lieblich, trat er leise näher um zu lauschen. Und in die zarten silbernen Töne hinein erklang der Beginn eines Liedes, das die Trauer um den Tod des Königs besang. Dunkel und warm war der Klang der schönen Frauenstimme und zugleich lieblich und zart und kündete von leisem, tiefem Schmerz. Mehr noch als die kunstvoll-schlichten Verse schlug der Zauber dieser Stimme Aragorn in seinen Bann, und gezogen von ihrem Zauber trat er behutsam noch näher heran und erblickte Eowyn.
Die Herrin von Rohan saß auf einer Steinbank vor der Tür zu Theodens Letztem Haus. Ihre weißen Hände schlugen die Saiten einer kurzen Harfe, wie sie in dieser Zeit die wandernden Barden benutzten, derweil sie trauervoll und gedankenverloren über die weite Ebene blickte. In schwarzen Samt war sie gekleidet, der ihre durchscheinend blasse, zarte Haut sanft leuchten ließ und ihre makellose Reinheit hervorhob. Ohne jeden fürstlichen Schmuck war das schlichte Kleid bis auf einen zart in Gold bestickten Halsausschnitt. Tiefschwarze Bänder hielten die weiten Ärmel und flatterten von Zeit zu Zeit im aufkommenden schwachen Wind und erschienen ihm wie düstere Trauerflaggen. Eine plötzliche Windböe ließ die langen Flechten ihres prachtvollen, frei fließenden Haars wehen, die im sanften Licht der zunehmenden Dämmerung schimmerten wie mattes Gold. Schlank wie eine Weidengerte war sie und erschien ihm noch zarter als jemals durch ihre gerade überstandene schwere Pein.
Aragorn war, als müsse der Anblick ihrer Schönheit in all ihrer Trauer ihm das Herz zerreißen. Wie eine Gestalt aus einem alten Liede kam sie ihm vor, wie Galadriel die Junge, klagend um den erschlagenen Bruder Celedarn.
In der klangvoll-schwermütigen Sprache der Rohirrim sang Éowyn ihr Klagelied, und Aragorn, der die Sprache der Rohirrim beherrschte, vernahm es und war tief und schmerzvoll bewegt. Als sie geendet hatte wandte er sich leise zum Gehen, um die liebliche Sängerin in ihrer Trauer nicht zu stören. Doch sie gewahrte seinen Schatten in ihrer Nähe und erwachte wie aus einem Traum, unterbrach ihr Spiel und wandte sich zu ihm um.
"Verzeiht mir, Herrin, ich wollte Euch nicht stören, doch der Klang Eures Liedes hat mich hergezogen", sprach er sanft, und wieder bemerkte sie die ernste zärtliche Milde in seinen Augen und in seiner Stimme. Und er sah in ihre Augen und erblickte wieder die traurige Sanftheit darinnen und wünschte sich, in ihren schönen samtenen Tiefen versinken zu dürfen. Stattdessen fuhr er in unbedarftem Ton fort : " Wie viele Eurer Talente wollt Ihr noch vor mir verborgen halten, Éowyn ? So erfahre ich nur durch einen Zufall, dass Ihr nicht nur eine Kriegerin seid, sondern auch eine höchst anmutige Sängerin und Dichterin - sofern Ihr Euch nicht der wunderbaren Verse eines Anderen bedient habt ."
Sie musste trotz ihrer Trauer leise lachen und antwortete : " Wovon sprecht Ihr, mein Herr Aragorn ? Ihr habt doch gerade feststellen können, dass ich gar nicht recht singen noch dichten kann. Nicht für fremde Ohren war dieses Lied bestimmt, um mich zu beschämen."
Er lächelte und fuhr dann mit ernster Bewunderung fort : " Gar zu bescheiden seid Ihr, schöne Éowyn, denn Eure Stimme ist so lieblich und rührt das Herz tief an, und ebenso Eure Dichtkunst, und Euer Spiel kann sich mit dem der Besten an allen Höfen Mittelerdes messen."
Sie schwieg darauf und senkte den Kopf und errötete leicht und erschien ihm darum noch lieblicher. Leise erwiderte sie : "Ich bitte Euch, spielt nicht mit dem wehrlosen Herzen einer Schildmaid, die an solche Schmeicheleien nicht gewöhnt ist."
Auch Aragorn schwieg nun einen Moment lang betroffen und sagte dann sanft und ernst:"Dies sind keine Schmeicheleien. Niemals würde ich mit Eurem Herzen spielen, Éowyn, denn es ist mir viel zu teuer."
Da sah sie ihn an, freimütig, stolz und kühl wie ehedem, und erwiderte - dennoch mit leiser Verzagtheit in der Stimme - : " Ich weiß. Verzeiht mir, Aragorn. Doch ich musste mein Herz zu streng und mühsam daran gewöhnen, dass es nicht Euch gehören kann, als dass ich es wieder irgendeiner Gefahr aussetzen darf." Und plötzlich beschämt durch ihr neuerliches Geständnis wandte sie sich rasch von ihm ab.
Da rief Aragorn ihr leise nach : "Und soll ich Euer Herz wirklich für immer verloren haben, Éowyn ?" Und sein Herz schlug angstvoll, denn dies fürchtete er plötzlich sehr und konnte es nicht ertragen, sie gehen zu sehen.
" Weh mir !", fügte er leise wie für sich selbst hinzu.
Und Éowyn, die das Flehen in seiner Stimme gehört hatte, war tief berührt, dass ein so stolzer, ernster Mann, vortrefflicher Herr unter den Menschen, so zu ihr sprach. Sie blieb mit gesenktem Kopf stehen und hörte ihn behutsam näher kommen. Und als er hinter ihr stand, konnte sie sich nicht umwenden und ihn ansehen, denn ihr Herz zitterte zu sehr.
"Éowyn, wollt Ihr mich nicht ansehen ?", fragte er leise und sie vernahm das zärtliche Bitten in seiner Stimme. Doch sie blieb stumm mit gesenktem Kopf und nur ein tiefer Atemzug entrang sich ihr. Da wagte er mit klopfendem Herzen ihre schmalen Schultern zu umfassen und drehte sie sanft zu sich um.
Jetzt gewann in Éowyn wieder ihr trotziger Mut die Oberhand, und sie sah ihm in die Augen.
"Wie seht Ihr mich an, Aragorn !", rief sie dann leise aus wie eine, die nicht glauben kann, was sie sieht. Und leise fuhr sie fort : " Wüsste ich es nicht besser, so müsste ich glauben, Ihr ...." Doch sie konnte den Satz nicht zu Ende sprechen.
"So müsstet Ihr glauben, ich liebe Euch ? Wolltet Ihr das sagen ?", fragte er flüsternd. Und er sah in ihre schönen staunenden Augen und fuhr fort : " Aber das tue ich ja, Éowyn ..." Sie hörte in seiner Stimme, wie sehr sein Herz zitterte, und sah in seinen Augen die überwältigende Wahrheit seiner Worte, und dennoch fragte sie in bitterem Zweifel : " Doch Ihr liebt Frau Arwen mehr. Ist es nicht so ?"
"Wehe mir, nichts anderes habe ich verdient ! Wie solltet Ihr mir glauben, nachdem ich mich Euch so abweisend gezeigt !" Er senkte für einen Moment den Kopf und seufzte tief. Dann nahm er ihre Hände fest in seine, und sie ließ sie ihm, und derweil er ihr eindringlich in die Augen sah, sprach er : "Nein, Éowyn, nicht mehr liebte ich sie sondern nur länger. Und wie wankelmütig muss ich Euch jetzt scheinen, doch gegen das Drängen meines Herzen kann ich nicht mehr länger ankämpfen. Denn ich tat dies schon, seit ich Euch das erste Mal erblickte vor der Goldenen Halle von Edoras. Tief rührte Eure Schönheit in all Eurer Verzweiflung mich an, und ich sah die große Tapferkeit und den Stolz und Mut in Euch, mit denen Ihr gegen Eure Verzweiflung ankämpftet, und dies berührte mich noch mehr. Und seltsam - ich wusste, was Ihr fühltet, als hätte ich Euch schon immer gekannt, und wusste in diesem Augenblick in meinem Herzen, dass mir niemand jemals näher sein könnte als Ihr. Und doch war ich Arwen versprochen und liebte sie und gebot mir, Euch nicht nahe kommen zu lassen."
Da unterbrach sie ihn und fragte : "Und wenn Ihr sie liebt und länger als mich, wieso solltet Ihr Euch nun für mich entscheiden, Aragorn ?"
Und noch immer sah er den Zweifel in ihren Augen, und verzagt fuhr sie fort :" Ich sah sie, als sie gestern Einzug hielt, und verstand, warum Ihr sie so viel vortrefflicher finden müsst als mich. Niemals zuvor sah ich eine so schöne Frau und sie strahlte etwas aus wie ... wie die Weisheit unzähliger Jahre und große Güte. Und unwandelbar wird sie sein in ihrer Jugend und Schönheit und ist anbetungswürdig wie kein anderes Wesen, das ich jemals sah." Dann senkte sie den Kopf, damit er nicht sähe, wie es sie quälte, dass sie die, die er gewählt hatte, so vortrefflich hatte finden müssen.
Doch er hob ihr Kinn an, sanft aber bestimmt, dass sie ihn wieder ansehen musste : "Ja, Éowyn, sie ist all dies, was Ihr sagtet. Und anbetungswürdig und unendlich teuer ist sie mir und wird es immer sein. Aber genauso seid Ihr dies für mich, und nicht ein Quäntchen weniger als sie. Doch darüber hinaus seid Ihr mir auch nah, wie sie es niemals sein kann. Denn ich weiß, dass unser beider Herzen und Seelen von der gleichen Art sind. Und habt Ihr dies nicht auch empfunden in allem, was Ihr und ich jüngst zusammen durchlebt haben ?
Dies ist der Grund, schöne Éowyn : Arwen verehre ich, doch Euch liebe ich, und Ihr seid mir teuer geworden wie nichts auf der Welt. Wehe, dass ich dies erst spät begriff, nachdem ich Euch abgewiesen und Schmerz zugefügt habe !
Bevor ich Euch begegnete und die schlimmen Ereignisse uns einander noch immer näher brachten, dachte ich, ich liebte Arwen. Denn ich wusste nicht, wie es ist, wirklich zu lieben. Und tatsächlich bete ich sie an in Ihrer hehren Schönheit, wie man den Abendstern anbetet, und habe große Zuneigung zu ihr und hielt dies für Liebe. Doch im Vergleich zu Euch wird sie mir fern bleiben wie dieser Stern, denn sie ist elbischen Bluts, fernab von menschlichem Kummer, Kampf und Leid, und nicht von meiner Art und kann es niemals sein.
Und leider erkannte ich all dies erst in vollkommener Klarheit, als ich fürchten musste, Euch zu verlieren, als Ihr zu sterben drohtet. Seitdem vergeht keine