Das Rad der Zeit
Werden wir uns jemals wieder sehen...?
Fünf Jahre. Fünf Jahre waren vergangen, seid sich der Brunnen zwischen den Zeiten für immer geschlossen hatte. In diesen fünf Jahren hatte Kagome immer nur an ihn gedacht. Es gab keine Nacht, in der sie nicht von ihm geträumt hatte. Kagome hatte ein Buch über ihre Abenteuer im Mittelalter geschrieben, natürlich mit anderen Namen, allerdings aus der Ich-Perspektive. Das Buch war in der Genre Fantasy sofort zum Besteller geworden und hatte sich schon oft verkauft. Das Buch mit dem Titel „Reise ins Mittelalter“ hatte ein Ende, was ihr Leben nicht hatte. Ein Happy End. Die Ich-Erzählerin hatte ihren Liebsten wieder gefunden und alles war schön geworden. Warum konnte ihr Leben nicht genauso enden? Warum konnte sie ihn nie wieder sehen? Warum nur?? Warum war ihr Leben so schrecklich verlaufen?! Warum gab es nie Garantie auf ein Happy End?? Warum konnte das Leben so grausam sein, und ihr kein glückliches Leben gönnen? Warum war das Rad der Zeit nur so grausam?? Warum hatte sie erst ihre große Liebe kennen lernen dürfen, um dann doch nur wieder von ihr getrennt zu sein? Wie konnte das Schicksal nur so grausam sein??
Die mühsam unterdrückten Tränen fingen an, über ihre Wangen zu laufen. Sie hob den Kopf und sah aus dem Fenster hinaus. Sie wohnte immer noch im Higurashi-Schrein. Sie hatte sich weder vom Heiligen Baum, noch vom Knochenfressenden Brunnen trennen können. Ohne diese beiden Artefakte hätte sie ihren Liebsten niemals kennen gelernt. Wie so oft rief sie sich sein Gesicht in Erinnerung. Seine goldenen Augen, sein langes weißes Haar, sein Duft… Wie geborgen hatte sie sich in seinen Armen gefühlt, beschützt vor jeglicher Gefahr… In seinen Armen war das Wort „Zeit“ nicht existent. Immer hatte sie sich gewünscht, er würde sie nie mehr loslassen. Aber gegen die zärtlichen Momente überwiegten ihre Streitereien. Wegen jeder kleinen Sache hatten sie sich gestritten. Jetzt kam ihr das so dumm vor. So unendlich dumm. Warum nur hatte sie ihn stattdessen nicht geküsst? Wie oft hatte sie sich vorgestellt, für immer an seiner Seite zu sein? Und jetzt war ihr diese Vorstellung zunichte gemacht worden. Von einem blöden Brunnen. Das war nicht fair!
Hojo hatte versucht, ihr Herz zu gewinnen, aber wie sollte er das schaffen? Gebrochene Herzen mussten erst geheilt werden, bevor man sie erneut erobern konnte. Und das Heilmittel für Kagomes gebrochenes Herz war der, der nie zu ihr zurückkommen würde. In dessen goldene Augen sie nie wieder würde sehen können. Er war tot. Sicher war er gestorben. 500 Jahre waren eine sehr, sehr lange Zeit. Er konnte nicht mehr am Leben sein. Das war gegen das Gesetz der Zeit. Auch wenn Kagomes Herz danach schrie; sich danach sehnte. Sie wusste, dass er nie zu ihr zurückkommen würde. Kagome ließ den Kopf wieder auf ihre Arme sinken.
Ihr Blick fiel auf zwei Sätze in Englisch. Affections touching across time und Fate of awakening love. Kagomes Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Gefühle überwinden die Zeit. Schicksal der erwachenden Liebe. Warum passte das nur so verdammt gut auf sie selbst und… ihn?! Ihre Liebe war zeitlos. Und doch war sie von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Heiße Tränen flossen über ihre Wangen. Warum nur war ihr Leben nicht erfüllt? Warum hatte sie den einzigen Mann, den sie je wirklich geliebt hatte, verlieren müssen?
Wie weh tat der Tod? Schmerzte er mehr als der Trennungsschmerz? Aber halt… nach dem Tod gab es keinen Schmerz mehr. Konnte sie es tun? Konnte sie ihr eigenes Leben wirklich beenden, um wieder in seinen Armen zu liegen? Konnte sie es tun? Konnte sie ihre Familie und Freunde aufgeben, für die sie ihren Liebsten verlassen hatte?
Nein. Das konnte sie nicht tun! Das wäre Verrat! Sie würde ihre Liebe verraten, wenn sie sich jetzt selbst umbrachte. Dann könnte sie ihm im Jenseits nie wieder in die Augen sehen. Dann lebte sie halt ihr unerfülltes Leben, um ihm im Tod wieder zu haben! Im Tode mit ihm zusammen leben zu können. Das war ihr größter Wunsch. Der Größte, den ein Mensch je haben konnte.
Sie trat ans Fenster. Der Wind wehte durch ihre schwarzen, langen Haare. Wieder sammelten sich in ihren Augen Tränen, wie so oft, wenn sie alleine war. Kagome schloss die Augen und schluckte mühsam die Tränen herunter. „Hör auf zu weinen! Damit kann ich doch nicht umgehen.“ Oft erinnerte sie sich an Sätze von ihm, der er ab und an von sich gegeben hatte. Kagome schluchzte und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. „Oh, mein Liebster… Warum nur bist du nicht bei mir? Dann könnte ich meine Tränen an deinem Suikan trocknen!“ Ungewollt stieß Kagome ein Schniefen aus. Wie immer, wenn sie sich sein lächelndes, nie lachendes Gesicht in Erinnerung rief. So gerne hätte sie ihn einmal in ihrem Leben lachen sehen. Verträumt strich sie sich über die Lippen. Erinnerte sich an die Berührung seiner Lippen. Wie sie warm auf ihren lagen und wie ihre Zungen zusammen gespielt hatten… Nie wieder hatte sie ein Mann geküsst. Nie hatte sie es zugelassen. Sie wollte seinen Geschmack nicht vergessen; nicht verdrängen. Auch das käme ihr vor wie schrecklichster Hochverrat. Ihr erster Kuss war gleichzeitig auf ihr letzter gewesen. Welch Ironie. Wie oft dachte sie an die Gefühle, die sie bei diesem Kuss verspürt hatte. Gefühle, die sie nie wieder spüren würde.
Sie ließ sich auf ihr Bett fallen. Den Blick hatte sie immer noch aus dem Fenster gerichtet. Immer noch denkend an den, dem ihr Herz gehörte. Dessen Gesicht, dessen Stimme, dessen Duft sie nie vergessen hatte. Den sie nie vergessen würde. Sie ließ ihren Körper auf das Bett sinken, das Gesicht in das Kissen gepresst. Ihre Nase sog den Geruch des Stoffes ein. Er hatte hier drauf geschlafen; sein Kopf hatte in diesem Kissen gelegen. Warum konnte er nicht wieder hier schlafen? Vielleicht sogar…mit ihr? Bei dem Gedanken an seine Lippen auf ihrer Haut ließ sie erröten. Wie konnte sie nur so etwas denken?! Er war nicht hier und würde es nie wieder sein! Er war tot! Ins Jenseits eingegangen, vor ein paar hundert Jahren! Tränen liefen ihr über die Wangen; hinein in den Stoff des Kissens. „Hör gefälligst auf zu heulen!“ Schon wieder. Er hatte nie gewollt, dass sie weinte. Nicht einmal wegen sich selbst. Er hatte nie sehen wollen, wie ihre Wangen von Tränen benetzt wurden. Immer hatte sie fröhlich sein sollen, das hatte er am liebsten gehabt. Sie musste stark sein, und sei es nur für ihn! Wäre sie bei seinem Tod dabei gewesen, hätte er sicher Folgendes gesagt: „Bitte weine nicht, Kagome. Damit kann ich doch nicht umgehen. Bitte…lächle…“ Sie durfte ihre Trauer nicht zeigen. Das war sie ihm schuldig! Seinen goldenen Augen und seiner liebevollen, trotteligen Art. All dem, was sie an ihm liebte. Sie zauberte irgendwoher ein Lächeln auf ihre Lippen und schlief dann ruhig ein.
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„Kagome, mein Schatz, kommst du bitte herunter? Ein Journalist wartet auf dich“, rief Frau Higurashi von der Haustür ins Obergeschoss, in dem das Zimmer ihrer Tochter lag.
Kagome hob langsam den Kopf von ihren Armen. Schon wieder so ein Pressegeier? Die fragten doch eh alle das Gleiche! Reichten die letzten zehn denn nicht? Und das grade jetzt, wo sie gestern noch an ihren Liebsten hatte denken müssen! Der Journalist kam also völlig perfekt. Seufzend erhob sie sich und schlurfte die Treppe runter.
Unten angekommen, lächelte sie den Journalisten an, der seine Augen unter seiner Mütze verborgen hatte. „Guten Tag“, begrüßte sie ihn freundlich. „Guten Tag“, erwiderte er höflich. „Ich freue mich, dass Sie mich in Empfang nehmen, obwohl meine Kollegen Sie sicher schon belagert haben.“ Kagome lächelte. „Ach, na ja… Es war ab und an wirklich schon etwas lästig, aber irgendwie haben wir es immer geschafft.“ Der Mann nickte. „Wie heißen Sie?“, wollte Kagome wissen. Der Journalist zuckte zusammen. Kagome stockte. Hatte sie etwas Falsches gesagt? „Was… Was haben Sie denn?“, fragte sie vorsichtig. „Ähm… nichts! Es wäre mir nur lieber, bliebe mein Name unbekannt… Ich hoffe doch, dass das in Ordnung geht.“ Kagome legte den Kopf schief. Ein Journalist, der seinen Namen nicht nennen wollte? War wohl neu in dem Beruf. Kagome zuckte mit den Schultern. „Bitte, treten Sie doch ein“, forderte sie ihn auf und deutete in die Küche. Der Reporter folgte ihr langsam.
„Setzen Sie sich doch“, sagte Kagome und deutete auf einen Stuhl. Als er dem Angebot Folge leistete, fielen Kagome seine weißen Haare auf. Wie gebannt starrte sie seine Haare. Nur darauf. Der Rest wurde uninteressant. „Was ist?“, fragte der Journalist, der sich unter ihrem Blick sichtlich unwohl fühlte. „Äh… nichts! Ich fand Ihre Haare nur so faszinierend.“ Der Reporter zuckte bei einem Schmunzeln mit den Schultern. „Äh… ich bin etwas früh ergraut und in meinen noch so jungen Haaren sah Grau scheiße aus, also habe ich sie bleichen lassen.“ Kagome nickte. „Ach so.“ Für einen Moment hatte sie gedacht, er könnte es doch geschafft haben. Aber das war nur eine wunderschöne Illusion.
Nach einer Menge Fragen, von denen zum Teil welche noch nie gestellt wurden, wollte sich der Journalist erheben, doch dann fiel ihm noch eine Frage ein. „Haben Sie jemals jemanden geliebt?“ Kagome riss die Augen auf. Warum fiel ihr die Antwort auf diese Frage nur so schwer? „Ja“, hauchte sie mühsam. „Aber er ist sicher längst tot.“ Der Reporter hakte nach. „Sie wissen es nicht? Warum nicht?“ Kagome schluckte. Warum waren Journalisten bloß so hartnäckig? „Wir wurden getrennt und… es ist einfach unmöglich, dass er noch am Leben ist.“ Der Journalist schwieg. „Das Rad der Zeit steht niemals still“, sagte er dann plötzlich. Kagome horchte auf. Was meinte er damit? „Aber… man kann sich mit ihm